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4.

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„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“

Eine Frage, die müde macht, nicht nur zur Geisterstunde, als Zugabe noch ein Zeugnis elterlicher Genialität: „Sag mal, was denkst du dir eigentlich?“

Schweigen hat keinen Sinn, der Mann und die Frau würden nicht locker lassen, ich gähne, sage: „Sorry, ich bin absolut todmüde.“ Ich kenne diese Verhöre, wenn ich mal nichts Besseres zu tun habe, werde ich eins als Schlafmittel patentieren lassen.

Wo bist du denn wieder gewesen?“

„Dort und da.“

Wir sitzen in der guten Stube der Millionenlaube, Fabian, Eva, N Punkt. Nur noch ein paar Möbel aus unserer alten Wohnung sind übrig geblieben. Ich erinnere mich noch, wir wohnten in einem Abrissviertel im Osten der Stadt, alles fiel auseinander, war alt und hässlich. Aber ich habe mich gut gefühlt, das war, als Fabian noch als Pfarrer und Eva in einem Kulturhaus arbeitete.

Die alte Standuhr tickt laut und hart, seit ich denken kann, tickt sie so. Der goldene Perpendikel schwingt im Glaskasten, er eignet sich zur Meditation, ich konzentriere meinen Blick auf ihn, folge den Schwingungen, hin - her, so kann man sich völlig vergessen.

„Was soll das wieder heißen? Du willst immerzu provozieren. Was ist nur in letzter Zeit in dich gefahren, Nadine? Was nur?“

„Könnt ihr mich denn nicht verschonen. Von mir aus reden wir morgen.“

„Du warst wieder bei den Zirkusleuten?

Was suchst du denn dort?“

Ich kann es ihnen nicht sagen, nicht der Frau, nicht dem Mann, sie würden es nicht begreifen.

Eva: „Was eigentlich wirfst du uns vor?“

Das kann endlos so weiterlaufen, wie bei den Kernseifenopern im TV, dagegen hilft nur Schocktherapie.

Fabian: „Die Verhältnisse sind inzwischen andere. Es ist nicht gestern, Nadine, es ist heute. Begreife das doch endlich: Die Herausforderung annehmen.“

„Ja“, sage ich, „ja“, mein debiles Ja geht in einen Ton über, einen immer schriller werdenden Pfiff, der schnell die Schmerzgrenze erreicht. Fabian und Eva drücken sich die Hände auf die Ohren, ich entwische aus der guten Stube die schmale Treppe hinauf in mein Zimmer. Ich schließe mich ein, obwohl mein Zimmer geschützte Zone ist, weder die Frau noch der Mann dringen hier unerlaubt ein, ihre Erziehung hört vor meiner Zimmertür auf.

Ich werfe mich aufs Bett, bekomme kein Auge zu, in mir rumort es, nicht im Bauch, viel tiefer, ich nenne das Blähungen der Seele. Ich reiße das Fenster auf, sehe auf einen Teil der Siedlung, Bäume, Dächer, auf ein Stück Himmel, in dem sich hinter einer Wolke der Vollmond vordrängt, wie bestellt fängt sogleich ein Hund nach dem anderen zu jaulen an. Obwohl mir knochenkalt ist, lasse ich das Fenster offen, laufe herum, nehme alles in die Hände, suche etwas, ich suche immer etwas. Vertrautes anzufassen tut mir gut für den Augenblick. Ich habe darauf bestanden, dass nach dem Umzug keine neuen Möbel in mein Zimmer kommen.

Der Raum ist ziemlich groß, doch nur eine Liege steht darin, ein Stehpult noch, alles andere ist auf dem Fußboden zu finden: Klamotten, Bücherstapel, Schulutensilien, eben der ganze Schwachsinn, den man so braucht. An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder, die von meiner Steinzeit bis ins Atomzeitalter reichen, auf denen jeder, außer mir, nur Farbenkleckserei erkennen kann. Ich behaupte nicht, dass ich eine Picassi des zu Ende gehenden zwanzigsten Jahrhunderts bin, aber manchmal bin ich nicht ganz unzufrieden mit meinen Werken.

Leicht zu erkennen, in meinem hohen Alter leide ich an Infantilismus, überall sitzen Stofftiere herum, denen irgendein Körperteil fehlt. Auf der Liege findet sich unter dem zur Formlosigkeit zerquetschten Bündel, das mein Kopfkissen ist, eine Bibel. Als Fabian noch mein Vater war und sie mir vor etlichen Jahren schenkte, war sie eine nagelneue Prachtausgabe aus dem Westen. Jetzt ist sie ein zerlesener Schmöker, das spannendste Buch, das ich kenne.

Es ist Nacht, ich kann nicht schlafen, ich bin allein, weiß nicht was, der vergangene Tag, mein ganzes debiles Leben lässt mich nicht los. Ich denke an Jemand in diesem Hochhaus, an mein geniales Ja, an das Gefühl, mit Jemand in einem Spinnennetz gefangen zu sein. Ich denke an die Großmutter in der Stadt, die vor sich hin pfeift und die Tauben füttert. Ich denke an den Garagenhof, an die Todesfahrer, an Joker denke ich, und das etwas passieren muss.

Ich lege mich auf den Fußboden, nehme den Handspiegel, leuchte mit der Taschenlampe hinein. Wie aus einem Brunnen, in dem sich langsam das Wasser klärt, taucht ein Gesicht auf, ein verdammtes Kindergesicht: niedlich, hübsch; schwarze Haare, eigenhändig verschnitten, mit aufgesprayter roter Flamme; Stupsnäschen wie aus dem Bilderbuch; Haut wie Milch und Schnee; ein immer leicht geöffneter Mund, als ob es ständig was zu staunen gäbe; ein rundes Kinn; das Ganze ziemlich zerbrechlich, ein paar Nummern zu klein geraten. Barbarisch.

Aber immerhin sind da noch zwei Augen, mit denen ich nicht ganz unzufrieden bin: Frauenaugen. In ihnen zeigt sich meine ganze Erfahrung, sie haben einen Blick drauf wie Ingrid Bergmann, als sie mit Humphrey Bogart in dem Café in Casablanca sitzt.

„Sorry, Joker, vielleicht bin ich kein Typ, wegen dem ein Mann Selbstmord begeht. Aber du musst endlich mal hinschauen, alter Zauberer, mir in die Augen sehen. Ich bin nicht dein Hühnchen, ich habe durchaus Erfahrungen, schätze ich mal. Ich kam in die Schule, da hatte ich meinen ersten Verehrer. Er rief mich Jasmin, keine Ahnung wieso. Er pflückte mir das ganze Unkraut, das am Rand des Schulwegs wuchs. Im dritten Schuljahr war ich mit Jens zusammen, der Junge wollte unbedingt fliegen lernen, wir sprangen mit ausgebreiteten Armen aus einem Baum in einen Haufen Müll. In der Achten war es Heiner, der mir das Küssen beibringen wollte, er schloss schon auf drei Meter Abstand die Augen, verlangte das auch von mir, sodass wir nie zusammenkamen. Ich hatte jede Menge Jungs, ich hatte nur nie viel Interesse, was meinst du, Joker ...?“

Jetzt muss ich auch noch heulen, ziehe mir die Aquarellfarben heran, mische sie mit Tränen, sehe einen Frauentyp, der Joker in den Wahnsinn treiben muss, beginne in meinem Gesicht zu malen. Ich brauche immer mehr Farbe, hektisch führe ich den Pinsel, blicke in ein Clownsgesicht, dem die Farben weglaufen.

Wieder stoße ich diesen Pfiff aus, in die Nacht hinein, über die Gartenzwergsiedlung hinweg, über Stadt und Land ins All hinein. Als ich ohne Luft bin, pfeift was zurück, weiß nicht was, leise, zart, ein Streicheln, nur für mich gedacht. Ich lege mich aufs Bett, falte die Hände auf meinem Bauch, schließe die Augen, warte darauf, dass etwas passiert.

Zwei im Spinnennetz

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