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Der Mann und die Frau haben mich in einen dieser neuen Nobelschuppen geschleppt, sie wollen wohl meine Auferstehung feiern. So weit ich mich an den Sozialismus erinnern kann, sind wir damals selten Essen gegangen. Eva sagt, wenn ein Lokal tatsächlich einmal nicht aus Technischen Gründen geschlossen hatte, musste man Schlange stehen oder dem Ober einen Geldschein zustecken, um einen Tisch zu bekommen.

Das Chinarestaurant ist eine Art Geisterbahn, ich sitze mittendrin, kann nicht weiter. Aus dem Dämmerlicht grinsen mich aus jeder Ecke goldlackierte Drachen und fett gefütterte Goldfische an. Es ist wohl darum so dunkel hier, dass man die Preise auf der hundertseitigen Speisekarte nicht erkennen kann.

Wie von Geisterhand gelenkt, steht ein Chinese hinter uns, der rote Haare und Sommersprossen hat, und fragt in vollkommenem Sächsisch: „Was winschen de Herrschafden? Nehmer ersdemal en Abbärädiv, wirdch vorschlachen, damid de Ände dann scheen bläddschern gann?“

Ich bestelle mir Dinner Jade für fünf Personen, dazu eine Flasche Tsingtao, das Gericht und der Wein stehen unangefochten an der Spitze der Preisliste. Aus den Augenwinkeln beobachte ich Fabian und Eva, die keine Regung zeigen. Der Mann entscheidet sich aus der niedrigen Preisklasse, um mir seine Bescheidenheit zu demonstrieren, für Papa O Ente Peking, die Frau wählt Schwarzer Drache, Tintenfisch, passend zu ihrem brandroten Kleid.

Wir warten aufs Essen, aus den Lautsprechern tönt altchinesische Musik, die die Kulturrevolution mit ein paar gebrochenen Rillen in der Platte überstanden hat. Fabian erzählt von einem interessanten Fall aus seiner Praxis. Früher musste ich ihm zuhören, weil ich es wollte, jetzt kann ich nicht, weil ich es soll. Ich gähne, dass mir die Gesichtsmuskeln wehtun, sage: „Will denn keiner was sagen?“

Die beiden tauschen einen Blick, ihre Hände auf dem Tisch umfassen einander. Meine Hände zucken, sie schaffen es niemals bis zu ihren Händen.

Fabian schweigt, er ist beleidigt, wenn er unterbrochen wird, das leichte Zucken in seinem linken Mundwinkel kenne ich gut. Er war einmal für mich der bestaussehende Mann, er sieht noch immer gut aus, eins achtzig, ohne Wohlstandsfett, wellige blonde Haare, graue Augen, helle, leicht sommersprossige Haut, starke Nase, kräftiges Kinn. Die Augen lächeln, dass man sich an ihn lehnen oder mit ihm loslaufen möchte; aber der Spott darin, der täglich stärker wird, verhindert das. Obwohl die Falten auf seiner Stirn tiefer, um die Augen mehr geworden sind, wirkt sein Gesicht glatter als früher. Als der Mann noch mein Vater war, ich ihn Petrus nannte, er mein Fels war, stellte ich mir Jona´s Sohn so vor, Fischer am See Genezareth, den Jesus seinen Jüngern voranstellte. Aber auch Petrus verließ Jesus unterm Kreuz, sein Lieblingsjünger Johannes blieb ihm als einziger treu. Doch ich hätte nie gedacht, dass aus Petrus einmal Judas der Verräter werden könnte.

Chinamann bringt die Aperitifs und den Tsingtao: „Sähr zum Wohle de Herrschafden.“

Wir greifen nach den Gläsern wie Kranke nach der Wundermedizin. Es braut sich was zusammen in der Geisterbahn, der Wagen, in dem wir sitzen, beginnt zu rollen, steuert auf einen Drachen zu, der keinem dieser lackierten Karussellpferdchen ähnlich ist.

Ich nicke Chinamann zu, er lächelt fernöstlich, schenkt vom Tsingtao ein, den ich ex trinke. Ich nicke, sage dann: „Noch mal dasselbe, Chinamann.“

„Aber geschwind, ich flieche, scheene Lady.“

Schöne Lady, das hatte ich noch nie, entweder ich bin high oder Chinamann.

Eva hat sich in einem Wandspiegel entdeckt, sie versucht sich noch gerader zu setzen, hält den Kopf noch königlicher, sie findet immer und überall einen Spiegel, vielleicht auch suchen die Spiegel sie: Original oder Kopie, es streiten die Experten, so oder so ein Rasseweib, naturblond oder kunstvoll gefärbt, auch die Hellseher sind hier hilflos; Afrikaaugen; Haut mit dem gewissen Bronzeton von Models, die für die Südsee Reklame machen; ein Mund, Evas Mund eben, für dessen Lächeln Männer schon scharenweise den Heldentod fanden. Noch dazu ist sie eine Schminkmeisterin, die das, was gut ist, noch besser hinkriegt. Bestimmt hat sie die Maße einer Miss World, wobei sie nur ein paar Zentimeter zu kurz geraten ist. Wie die Frau Anne heißen kann, ist mir ein Rätsel, ich nenne sie schon immer Eva, die Verführerin, der die Äpfel nie ausgehen. Sie ist genau die Frau, die dem Mann Untertan ist, um ihn beherrschen zu können, ich bin kein bisschen neidisch, dass das klar ist.

Noch immer halten sich ihre Hände, Skandal, ich fahre Geisterbahn, weiß nicht wo, wie, was.

Das Essen steht auf dem Tisch, für das Dinner Jade haben allerlei liebe Tiere ihr Leben lassen müssen: Ente, Hai, Hummerkrabben, Muscheln. Man könnte ganze Völker damit speisen, ich rühre nichts an, sehe zu, wie in einer kristallenen Schüssel Eis und Sahne zu bunter Suppe werden. Fabian und Eva hantieren mit Stäbchen, der Mann bekommt aus der Beilage ein Meerestier zu fassen, die Frau ein Reiskorn, sie balancieren es zu ihren Mündern, die babyhaft aufschnappen.

„Judas!“

Der Mann verkrampft, dreht langsam den Kopf, blickt sich im Raum um: Die Leute starren ihn an. Sein Blick kehrt zu mir zurück, eine Blutwelle verfärbt sein bleiches Gesicht, selbst seine Haare scheinen zu brennen.

Eva steht auf, greift ihr Täschchen, sagt leise, aber zwingend: „Komm, Nadine, wir gehen uns frisch machen.“

Im Drachenmaul ist es eng, dunkel, ich kann mich nicht rühren, habe ich eben um Hilfe gerufen? Eva setzt sich wieder, schiebt mir über den Tisch ihren Taschenspiegel zu, sagt entschuldigend zu Fabian: „Sie ist ja betrunken“, streng zu mir: „Schluss jetzt, Schätzchen. Was soll die Vorstellung?“

Ich kann mich nicht bewegen, vielleicht sprechen, versuchen kann ich es jedenfalls.

„Du hältst dich da raus, Eva.“

Der Mann hat zu Messer und Gabel gegriffen, seziert die Papa O Ente Peking, seine Chirurgenhände zittern, er atmet tief, sagt gepresst: „Judas...?“

„Willst du es wirklich wissen?“, frage ich.

Die Frau betrachtet misstrauisch den Schwarzen Drachen auf ihrem Teller, sagt: „Das Kind will doch nur provozieren. Lass dich doch nicht darauf ein, Fabian.“

Worauf denn?“, will ich wissen.

„Du wirst immer unausstehlicher, Nadine“, meint die Frau, poliert ihre pinkfarbenen Krallen auf der Serviette. „Deine Pubertät erscheint mir als ein fortgesetzter Prozess von Bosheiten. Du solltest endlich versuchen, ein bisschen erwachsener zu werden. Manches Mädchens deines Alters ist schon Mutter.“

„Soll ich mir vielleicht ein Kind fabrizieren lassen? Bedenke, du würdest Großmutter, Eva.“

Die Frau unterdrückt einen Schreckensruf, ich habe sie auf die Bretter geschickt, aber sie steht umgehend wieder auf, Eva ist eine Fighterin, sie geht nie k. o.

„Ja“, sagt der Mann. „Ich will es jetzt wissen.“

„Ja“, sage ich, „Ja“, mein debiles Ja. Was soll ich ihm denn sagen? Was denn?

Eva rappelt sich auf. „Na siehst du, Fabian, das Kind weiß nichts zu sagen, weil es nichts zu sagen gibt.“

Woher nimmt die Frau nur die Kraft, alles, was sie denkt und tut, als gut und richtig zu empfinden. Wenn jemand den Augenblick geniest, dann Eva, sie braucht nicht Gestern und Morgen, um sich wohlzufühlen.

Die Hände des Mannes sind gefaltet, sie drücken einander, dass auf den Handrücken die Adern blau hervortreten. Das dauert ein paar Sekunden, dann lösen seine Hände sich, er sagt, als hätten wir alle Zeit der Welt, einander zu begreifen: „Weine oder lache, Kleines, aber fürchte dich nicht.“

Wie lange habe ich das nicht gehört, eine Ewigkeit nicht, ich sehe meinem Vater in die Augen, unsere Hände kommen sich auf dem Tisch entgegen. Jetzt halten sie sich umfasst wie vorhin Evas und Fabians Hände, anders, fester noch, zärtlicher, ohne Angst, einander zu verlieren. Vater nickt, sagt: „Ja, ich erinnere mich: Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen, denn einer ist nur Meister, ihr aber seid Brüder. Ja, so begann ich jede meiner Predigten, ich habe es nicht vergessen.“

„Woran erinnerst du dich denn noch?“

„So alt sind wir noch nicht, Kind, dass wir von der Erinnerung leben müssen“, sagt Eva.

„Ich habe dir doch schon so oft von mir erzählt“, sagt mein Vater unsicher. „Da kommt doch nur Langeweile auf.“

„Bitte“, sage ich. „Ich hör dir zu.“

Mein Vater erzählt die Geschichte vom Kartoffelkäfer, wie sie als Schüler in einem heißen Sommer auf die Kartoffelfelder mussten, um die Schädlinge von den Blättern zu lesen.

„Am Abend hatten alle eine oder mehrere Flaschen mit Kartoffelkäfern gefüllt. Nur Anton, den wir Russe riefen, und der ein ewiger Verlierer war, hatte seine Flasche nur halb voll bekommen. Dennoch stand er in der Schlange der Mädchen und Jungen. Durch ein Fenster der Bürgermeisterei, die das Wohnzimmer eines alten Bauernhauses war, lieferten wir unsere Ernte ab. Die Frau des Bürgermeisters, die in Rensitz selbst gemachtes Eis verkaufte, musste keinen Groschen auszahlen, denn nach acht Stunden Gluthitze entschied sich jeder Sammler für ein paar Kugeln Eis. Als Anton an das Fenster vorrückte, ließ er den Nächstfolgenden den Vortritt, einem nach dem anderen. Ich sah, wie Anton auf das Eis der anderen starrte und ihm regelrecht das Wasser aus dem Mund lief. Der Russe hielt seinen heulenden Bruder an der Hand, einen Hosenmatz, dessen Schreie: 'Eiiisss!' wie Hilferufe klangen. Der Kleine wiederum klemmte eisern ein sich windendes Kätzchen unter seinem Arm. Wir anderen wurden unruhig, weniger wegen des Kleinen Plärren, vielmehr wegen des Russen stummes Leiden. Auch ich kehrte Anton nun den Rücken zu, aber umso deutlicher sah ich die Augen des Russen, in denen der Durst unendlich größer war als mein eigener. Und dann geschah, was keiner für möglich gehalten hatte. Ein Mädchen, das selbst nur mit Mühe eine Flasche gefüllt hatte, gab Anton von ihren Käfern ab. Danach die anderen, keiner schloss sich aus, und der Russe konnte drei Flaschen abliefern und bekam drei Kugeln Eis. Anton war von seinem Glück so überrascht, dass er ungläubig die Waffel mit dem Eis an seinen Bruder weitergab. Der Kleine, dessen Wunsch sich so plötzlich erfüllt hatte, ließ zuerst das Kätzchen fallen - und dann warf er ihm das Eis hin. Doch die Katze schnüffelte nur kurz daran und sprang weg. Wir standen wie erstarrt und mussten zusehen, wie das wundervolle Eis sich in einen roten Fleck verwandelte, der schnell vom Straßendreck aufgesogen wurde.“

„Was sagt uns das?“, rufe ich übermütig, wie es unser altes Spiel vorschrieb.

„Das sagt uns manches, was nicht viel ist, aber mehr als gar nichts!“, antwortet mein Vater nach der Regel. Wir lachen, das kann dauern, schlagen die Hände gegeneinander, dass es knallt.

„Macht euch doch nichts vor“, lässt Eva sich hören. „Verklärung von Vergangenheit. Das kennen wir zur Genüge. Wer nichts besitzt, kann gut teilen.“

„Weiter“, dränge ich meinen Vater. „Nur weiter. Dir fällt noch mehr ein.“

„Willst du, dass dein Vater dir seinen Lebenslauf abliefert? Ich weiß wirklich nicht, was das soll, Nadine.“

Ich habe keine Ahnung, ob Eva wirklich keinen Schimmer hat, was da mit meinem Vater gewesen ist. Wie aus Petrus Judas wurde. Ihr gefällt, wie es jetzt ist, ihr Mann ist gefragt in den Medien, Einladungen hier und dort, Auszeichnungen, Preise, Mitgliedschaften. Der Pfarrer als Wendeheld, stand in den Zeitungen. Früher hat er Gottes Wort gepredigt, inzwischen muss er zu allem seinen Spruch dazugeben: Sex, Kriminalität, Rauschgift, Börse, Fußball. Keine Ahnung, welche Talkshow ihm noch keine weisen Sprüche entlockt hat. Eva ist überall dabei, im Hintergrund organisiert sie die Zirkusnummer.

Die Frau schiebt endgültig den Schwarzen Drachen von sich. „Gehen wir. Du hast morgen einen schweren Tag, Fabian.“

Ich kenne seinen Lebenslauf, zumindest im Telegrammstil, er hat mir erzählt davon, ich habe hier und da was gelesen: von seiner Kindheit in einem mecklenburgischen Dorf; sein Schwanken zwischen Mutter und Stiefvater, Genossenschaftsbauern, von denen die Mutter auf den lieben Gott vertraute, der Vater auf den neuen Menschen; seine Flucht zu einer Tante in die Stadt; Transportarbeiter, Hilfsmaurer, Zeitungsausträger, Mechanikerlehre, Sekretär der Freien Deutschen Jugend, Kandidat der Sozialistischen Einheitspartei, vom Betrieb delegiert zum Studium der Gesellschaftswissenschaften, zu Jura gewechselt, Justiziar in einem volkseigenen Betrieb, nach einem Jahr alles hingeschmissen, zurück ins Dorf, Feldarbeiter, Pfarrersfreund, Wehrdienstverweigerer, Zivildienst unter Tage und auf Krebsstation, Theologiestudium, Heirat, Pfarrer in gottverlassenem Nestern, Geburt der Tochter, Pfarrstelle in der Großstadt; kritische Predigten zu Staat und Partei, ständig wachsende Gemeinde, Gotteshaus als Jugendtreff, Gründung einer Umweltbibliothek, Drohungen gegen ihn von Kirche und Partei, Versetzung an den Stadtrand, Zusammenarbeit mit Bürgerrechtlern, kurze Untersuchungshaft wegen Verdachts der Beihilfe zur Republikflucht und subversiver Tätigkeit, bei den Montagsdemos in der ersten Reihe: Keine Gewalt!

„Ich war so stolz auf dich - Vater.“

„Was sagst du da?“

„Ja doch“, sage ich. Wenn da nur der Brief nicht wäre, dieser Brief eben, dieser verdammte Brief, warum nur musste ich ihn auch in die Hände kriegen, ihn öffnen.

Ich versuche Fabian in die Augen zu sehen, er weicht meinem Blick aus, ich sage: „Und alsbald, da Jesus noch redete, kam herzu Judas, der Zwölf einer, und eine große Schar mit ihm, mit Schwertern und mit Stangen, von den Hohepriestern und Schriftgelehrten und Ältesten.

„Was soll das nun schon wieder“, sagt die Frau. „Nun mäßige dich aber, Kind.“

Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist's; den greifet und führet ihn sicher.

Nach der Wende hat Fabian sich ins Schweinwerferlicht ziehen lassen, dort muss es ihm gefallen haben, er hat jedenfalls seinen Priesterrock eingemottet, ein Anwaltsbüro aufgemacht, um „näher am Geschehen zu sein“.

„Ja“, sagt Fabian, er sagt mein debiles Ja.

Ich habe eine Kopie des Briefes bei mir, ich habe sie immer bei mir, obwohl ich jedes Wort genau kenne: Zu Händen Dr. Fabian Siebenbirken. Mein Name soll bei dem, worin ich meine Pflicht sehe, nämlich Sie zu erinnern, keine Rolle spielen. Zurzeit fühle ich mich nicht in der Lage, mit Ihnen zu sprechen.

Ich war damals Studentin und gehörte zu der kleinen Gruppe Bürgerrechtler, denen Sie bis zur Wende in Ihrer Kirche Unterschlupf und Arbeitsmöglichkeiten zum Widerstand gegen das SED-Regime gegeben haben. Das war mutig von Ihnen. Wir wussten, dass Sie und Ihre Familie ohnehin schon Repressalien ausgesetzt waren und eine Gefängnisstrafe riskierten. Wir sahen in Ihnen ein Vorbild und haben Sie bewundert. Ihr Mut hat auch uns Mut gemacht. Auch ich wäre, wie es die anderen Gruppenmitglieder sind, heute noch voller Hochachtung für Sie. Aber ich musste durch Sie eine der bittersten Enttäuschungen meines Lebens erfahren. Ich habe eine Zeit lang bei der Aufarbeitung von Stasiakten geholfen und hielt kürzlich eine Akte in den Händen, die die Stasi über Sie geführt hat. Sie standen seit Jahren unter Beobachtung und galten als „potenzieller Staatsfeind“. Dann aber musste ich lesen – und ich kann es bis heute nicht fassen -, dass gerade Sie , in dem wir einen unbestechlichen Freund sahen, der Stasi regelmäßig Auskunft über uns gegeben haben. Dadurch ist es dann ja auch zur Verhaftung von Jens gekommen. Er wurde im Schnellverfahren zu drei Jahren Gefängnis wegen ‘staatsgefährdender Umtriebigkeit‘ verurteilt. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Bei Versuchen, ihn zu besuchen, hieß es, er habe eine ansteckende Krankheit. Nach einem Jahr bekamen seine Eltern die Nachricht, dass er an einer akuten Blinddarmentzündung verstorben sei. Heute wissen wir, dass Jens sich in seiner Zelle die Pulsadern aufgeschnitten hat. Seine Frau, die auf ihrer Arbeitsstelle wegen der Verurteilung ihres Mannes, unter Druck gesetzt wurde, hatte die Scheidung eingereicht. Was da sonst noch in seinem Umfeld passiert sein mag, werden wir nie erfahren.

Sie wurden von der Staatssicherheit unter dem Decknamen „Reformator“ als „inoffizieller Mitarbeiter“ geführt. Ich erinnere mich noch gut an die vielen nächtlichen Gespräche, die wir mit Ihnen in der Gruppe hatten, in denen Sie uns, wenn wir schon verzweifeln wollten, immer wieder Kraft gaben, weiterhin an das Erreichen einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft zu glauben. Wir saßen unter einem Dach und an demselben Tisch, wir haben zusammen gegessen und getrunken, und wir haben mehr voneinander gewusst, als unsere Eltern und Geschwister. Ich will nicht Ihr Richter sein. Ich will aber, dass Sie nicht vergessen wie es war.

Sie sagten uns einmal: Die Wahrheit ist wie ein Ball. Solange du ihn auch unter Wasser drückst, irgendwann musst du ihn loslassen und er kommt an die Oberfläche zurück.

Ich habe zu niemand aus der Gruppe und überhaupt zu keinem anderen Menschen davon erzählt. Ich habe es gewollt, aber ich konnte es nicht. Ich habe mich einfach zu sehr geschämt. Die Akte habe ich vernichtet. Das ist meine Schuld, mit der ich fertig werden muss, wie auch Sie mit Ihrer Schuld fertig werden müssen.

Ich spüre meine Hand nicht, aber ich weiß, sie drückt sich in meine Hosentasche, zieht das zusammengefaltete Blatt Papier hervor. Ich will es nicht, doch meine Hand legt den Briefbogen auf den Tisch, meine andere Hand, die auch nicht mir zu gehören scheint, hilft beim Auseinanderfalten. Meine Hände schieben das Geschirr beiseite, legen das Blatt mit der Schrift nach unten auf die blütenweiße Tischdecke.

Der Mann und die Frau starren darauf, dann sagt Eva: „Was soll das denn sein?“

Jetzt bin ich dran, es wird kein anderer für mich sprechen, wenn ich es jetzt nicht schaffe, bekomme ich es nie hin. Endlich höre ich mich sagen: „Ein Brief ist das.“

„Ein Brief? Von wem denn?“

„Ich weiß nicht“, sage ich. „Jedenfalls ist er an Doktor Fabian Siebenbirken gerichtet.“

Eva greift schon danach, doch dann zögert sie, blickt fragend ihren Mann an, erschrickt.

„Drehe das Blatt um“, sage ich zum Mann, auch zur Frau sage ich es. Sie tun es beide nicht, sie wissen, was das für ein Brief ist. Für den Augenblick ist selbst Eva sprachlos, doch dann sagt sie entrüstet: „Wie kommst du denn dazu?

Ich versuche dem Mann in die Augen zu sehen, der ist ohne Blick, sein Gesicht ist wie aus dem Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds.

Ich sage: „Was spielt denn das für eine Rolle. Ich bin es, die eine Frage hat. Und zwar an Fabian.“

Eva greift entschlossen nach dem Briefbogen; bevor ich es verhindern kann, zerreißt sie ihn in tausend Stücke, wirft sie hinter sich. Die Schnipsel landen auf der Wasseroberfläche in einem Aquarium, die Fische schnappen gierig nach ihnen, spucken sie wieder aus.

Die Frau sagt entschieden: „So“, versucht meine Hand zu greifen, sagt, als wäre alles nur ein Spiel: „Nadine, Kind, Schätzchen, du musst dich nicht mit etwas beschäftigen, dass du nicht verstehen kannst.“

„Klar doch, ich bin dumm.“

„Dumm bist du nicht. Aber dir fehlt es ganz einfach noch an Lebenserfahrung.“

Chinamann tritt beflissen aus dem Drachenmaul, er erfasst die Situation auf einen Blick, steuert elegant an unserem Tisch vorbei.

„Das, was du da zerrissen hast“, sage ich zu Eva, „das begreife ich auch ohne deine Lebenserfahrung.“

Fabian steht auf, langsam, mühevoll, er schafft es, legt eine Hand auf Evas Schulter, sagt gepresst: „Du willst also wissen, was damals passiert ist.“

„Ich will es wissen.“

Eva weiß, dass Fabian jetzt sprechen muss, sie spricht schnell: „Dein Vater hat schon immer den Kopf hingehalten für andere. Er hat die Bürgerrechtler in seiner Kirche aufgenommen, obwohl wir wussten, dass er beobachtet wird. Selbst der Bischof hatte ihn zu sich bestellt und ihm geraten, nicht auffällig zu werden. Und der Rat eines Bischofs ist genauso gut wie ein Befehl. Aber dein Vater hat sich nicht beirren lassen und die jungen Leute weiter unterstützt.“

Wieder hat die Frau es geschafft, das Gespräch an sich zu ziehen. Der Mann steht, schweigt, stützt sich auf die Frau.

„Und was in dem Brief steht, sind alles Lügen?“, sage ich.

„Das kann man so und auch so sehen. Wie immer hat alles zwei Seiten“, sagt Eva, entschlossen, Fabian nicht zu Wort kommen zu lassen. „Fabian hat sich lange gewehrt, der Stasi Informationen weiterzugeben. Wir dachten schon daran, über Ungarn eine Flucht zu versuchen. Aber das hätte die Gruppe erst recht nicht verstanden. Versteh doch, die Stasileute ließen deinem Vater einfach keine Ruhe.“

„Ich verstehe es nicht“, sage ich. „Nein, ich verstehe es nicht.“

Eva spricht weiter, nicht ungerührt, ich kann erkennen, dass sie hinter dem Make-up ziemlich mitgenommen aussieht, ihre Stimme ist nicht mehr so fest, was sie sagt, klingt nicht mehr so unumstößlich.

„Die Stasileute bedrohten schließlich auch die Gruppenmitglieder. Sie ließen einen der Studenten mit einem Vorwand vom Studium exmatrikulieren. Andere Gruppenmitglieder sollten ihre Arbeit verlieren. Unsere kleine Kirche wollten sie wegen ‚baulicher Mängel‘ schließen lassen. Wir wussten einfach nicht mehr, was wir tun sollten.“

Eva schweigt, sie sitzt, unter dem Druck Fabians, der sich noch immer auf ihre Schulter stützt, nicht mehr gerade. Sie knabbert plötzlich an ihren gepflegten Fingernägeln, für einen Augenblick kann ich mir vorstellen, wie sie einmal als Mädchen ausgesehen hat, ich bin völlig verblüfft: Es ist, als würde ich in den Spiegel sehen.

„Elf Tage hatten wir Ruhe“, erzählt Eva endlich weiter. „Das war schlimmer, als ihre ständigen Besuche. Als wir schon zu hoffen wagten, dass sie uns in Ruhe lassen würden, waren sie plötzlich wieder da. Es waren ein Mann und eine Frau, sie waren wie ein freundliches älteres Ehepaar, das sich doch nur um unsere Sorgen kümmerte, damit ‚alles wieder gut‘ wird. Man hätte sie richtig gern haben können, wenn, ja wenn sie eben nicht so gemein gewesen wären. Jedenfalls sagten sie, dass sie ein ‚letztes Angebot der gegenseitigen Hilfe‘ mitgebracht hätten, ein Tauschangebot sozusagen.“

„Einen Tausch?“

„Sie versprachen, uns und die Gruppe in Ruhe zu lassen, wenn Fabian – wenn er ihnen - ‚nur zur allgemeinen Sicherheit‘ - Informationen über das Geschehen in der Gruppe geben würde.“

„Und, ja und?“

„Wir waren - am Ende. Das kannst du uns glauben. Dein Vater - Fabian hat dann irgendwas unterschrieben.“

„Etwas unterschrieben?“

„Mein Gott!“, ruft Eva. „Nun sieh mich nur nicht an, als wäre ich ein - Ungeheuer...“

„Nein“, sage ich „Nein – ich weiß nicht, nein...“ In mir sticht es, mich juckt es, es pocht, hämmert in mir, es tut weh, ich wünschte, ich wäre jetzt in meinem Bett, könnte mir die Decke über den Kopf ziehen.

„Und Jens?“, frage ich leise. „Und was ist mit Jens?“

Der Mann und die Frau antworten mir nicht. Keine Ahnung, wie lange wir so am Tisch festgehalten sind, jeder für sich allein, zu keiner Bewegung fähig. Doch dann rappelt sich Eva auf, der Mann und die Frau stehen beisammen, als wären sie miteinander verwachsen. Auch ich stemme mich hoch, so muss man sich fühlen, wenn man alt wie Stein und sterbenskrank ist. Chinamann ist augenblicklich zur Stelle, er versucht gar nicht erst ein Grinsen, nimmt stumm, mit einer eckigen Verbeugung ein paar Geldscheine auf, die Eva auf den Tisch gelegt hat.

Als ich hinter dem Mann und der Frau das Chinarestaurant verlasse, schlägt es mir aus dem Drachenmaul heiß entgegen, eine klebrige Zunge leckt widerlich über mein Gesicht.

Zwei im Spinnennetz

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