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Das XX. Armeekorps bei Hohenstein. Von Generalmajor a. D. Emil Heil, damals Chef des Generalstabes XX. Armeekorps.

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Schwere Schicksalswolken türmten sich am 20. August des Jahres 1914 über dem alten Ordenslande Ostpreußen auf. Bei Gumbinnen stand die 8. deutsche Armee in unentschiedenem Kampfe mit der russischen Njemen-Armee. Von Lomsa und Ostrolenka her wälzten sich neue Massen gegen das nur durch das XX. Armee-Korps gesicherte südliche Ostpreußen heran. Die deutschen Ostmarken schienen verloren. Es galt, wenigstens die 8. Armee zu retten, bis aus dem Westen Verstärkungen herangeführt werden konnten.

In der Nacht vom 20./21. August wurde die Schlacht bei Gumbinnen abgebrochen und der Rückmarsch hinter die Weichsel angetreten.

Ein maßloser Schrecken durchzuckte Ost- und Westpreußen. Man kannte die Russen. Man hatte im Frieden genug von ihnen gehört und gesehen, um zu wissen, was das blühende Land von ihrem Einfall zu erwarten hatte. Wer Wagen und Pferd hatte, lud die wertvollste Habe auf und fuhr davon. Ein unendlicher jammervoller Zug von Menschen, Wagen und Vieh bewegte sich nach dem Westen, aus dem vor Jahrhunderten eisenbewehrte Männer gekommen waren, um das Land östlich der Weichsel in harter, mühevoller Arbeit der slawischen Unkultur abzuringen.

War dies das Ende?

Mit Kummer und Sorge verfolgte der Generalstabschef v. Moltke im Großen Hauptquartier in Koblenz den unglücklichen Verlauf der Dinge in Ostpreußen. War es denn unbedingt nötig, gleich bis hinter die Weichsel zurückzugehen? Bestand nicht doch die Möglichkeit, das Kriegsglück vorher noch einmal anzurufen? Von General Moltke telefonisch über die Auffassung der Lage befragt, konnte ich in voller Übereinstimmung mit meinem kommandierenden General versichern, dass der Anmarsch der Narew-Armee gegen die Stellungen des XX. Armeekorps durchaus kein Grund sein brauche, um Ostpreußen zu räumen. Die allgemeine Lage werde günstig beurteilt, die Truppe brenne darauf, an den Feind zu kommen.

Die Loslösung aus der Schlacht von Gumbinnen ging ohne jede Schwierigkeit von statten. General Rennenkampf, der Führer der Njemen-Armee, fühlte sich keineswegs als Sieger. Er folgte der 8. Armee zunächst gar nicht, dann überaus zögernd. — Wenn man sich nun aus dem Rückmarsch heraus mit allen Kräften auf die Narew-Armee stürzte! — Dass man von den Truppen der 8. Armee das Höchste erwarten durfte, dessen war man in Koblenz sicher. In der Seele des ostpreußischen Soldaten brannte der Schmerz und die Scham, dass man die Heimat ohne letzten verzweifelten Kampf im Stiche lassen sollte.

Der Chef des General-Stabes der Armee entschied sich für die Wiederaufnahme des Kampfes um Ostpreußen. Es war ein großes Wagnis; die Durchführung verlangte neue Männer. Am Abend des 22. August wurde bekannt, dass Generaloberst v. Hindenburg zum Oberbefehlshaber der 8. Armee ernannt sei. — Wer war dieser Hindenburg? — Ein verabschiedeter, im Frieden vortrefflich bewährter General, weiter wusste man nichts. Im Übrigen ein Name, wie jeder andere. Sein Generalstabschef war jener Ludendorff, der am 5. August in finsterer Nacht mit dem Revolver in der Faust unter wahrhaft verzweifelten Umständen die Sturmtruppen nach Lüttich hineingeführt hatte. Der Kaiser hatte

ihn dafür mit dem Pour le Mérite geschmückt. Also ein tapferer Mann von starker Entschlusskraft, wie Ostpreußen ihn jetzt brauchte.

General v. Moltke hatte am 22. August in Koblenz den Grundgedanken der geplanten Operation gegen die russische Narew-Armee mit Ludendorff durchgesprochen und die ersten Anordnungen für die neue Truppengruppierung gegeben.

Auf der Fahrt von Hannover nach Marienburg, am Vormittag des 23. August, entwickelte Ludendorff seinem Oberbefehlshaber den Plan für die Schlacht. Ein gewöhnlicher Sieg genügte unter den gegebenen Verhältnissen nicht. Die Narew-Armee musste vernichtend geschlagen werden. Nur wenn dies gelang, wenn man so den Rücken ganz frei bekam, durfte man hoffen, später auch mit der Armee Rennenkampf fertig zu werden. Dieses Ziel war nur zu erreichen, wenn man die Massen der Narew-Armee, die sich zwischen Soldau und Ortelsburg auf Osterode vorwärts bewegten, von beiden Seiten umklammerte und erdrückte. Bei Soldau sollte das I. Armeekorps, bei Ortelsburg das I. Reserve- und das XVII. Armeekorps anpacken. Aber die Bereitstellung der Flügelstoßgruppen erforderte Zeit. Eilte man sich auch noch so sehr, so konnte der entscheidende Angriff doch nicht vor dem 26. August beginnen. Bis dahin ruhte die Last des Kampfes allein auf dem XX. Armeekorps. Es musste die Masse des Feindes auf sich ziehen, in Kämpfe verwickeln und fesseln, ohne sich dabei schlagen zu lassen. Aber wenn dieses Korps der schweren Aufgabe nun nicht gewachsen war, wenn die Mitte der neuen Schlachtfront vor der Zeit zerbrach? Dann war die Schlacht verloren. Der Feind würde sich rechts und links auf die deutschen Umfassungsgruppen werfen, und sie einzeln zerschmettern. —

Fort mit allen Zweifeln und Bedenken! Es musste etwas gewagt werden, wenn man Ostpreußen retten wollte.

Einige Befehle, klar, scharf, voll glühender Kraft! Die Truppe atmete auf. Man durfte für die ostpreußische Heimaterde kämpfen.

Die elastische Gestalt des kommandierenden Generals des XX. Armeekorps v. Scholtz reckte sich. Eine ungeheure Aufgabe stand vor ihm. Er wusste, dass es nichts Schwereres gibt, als „den Feind zu fesseln, hinhaltend zu kämpfen, sich aber beileibe nicht schlagen zu lassen“. Für so etwas braucht man stählerne Nerven, einen ganz klaren Blick, sehr viel Wirklichkeitssinn und, — wichtiger als alles Übrige —, eine Truppe, die auch Rückschläge erträgt, die in keiner Lage das Vertrauen zur Führung verliert.

General v. Scholz kannte sein Korps. Er hatte es aus der Taufe gehoben und 2 Jahre lang geführt. Er wusste, was man den zähen Ost- und Westpreußen, die um die eigene Schelle kämpfen,

zumuten durfte.

Die Truppe schob sich hastig zurecht. Der rechte Flügel, die 41. Infanterie-Division wurde am Südende des langgestreckten Sees bei Gilgenburg verankert. Er bildete den Angelpunkt der ganzen zukünftigen Schlachtaufstellung.

Weiter nach Westen sicherte General v. Unger mit den aus den Festungen Thorn und Graudenz herausgezogenen Landwehr-Regimentern. Nach Osten zu schloss sich die 37. Division in beweglicherer Aufstellung an. Bei Allenstein wurde die dem XX. Armeekorps unterstellte 3. Reserve-Division ausgeladen.

Am Morgen des 23. August standen die Truppen nach anstrengenden Märschen da, wo der Kommandierende General sie haben wollte. Mochten die Russen jetzt kommen!

Sie ließen nicht lange auf sich warten. Vier russische Armeekorps und mehrere Kavallerie-Divisionen schoben sich über Soldau-Neidenburg gegen die neuen Stellungen des XX. Armeekorps heran. Ein weiteres Korps schwenkte von Ortelsburg aus in nordöstlicher Richtung auf Bischofsburg ab. Das XX. Armeekorps wünschte ihm glückliche Reise. Es kam dem l. Reserve- und dem XVII. Armeekorps gerade recht; ein heißer Empfang war ihm sicher.

Der russische Befehlshaber Samsonoff mahnte zur Eile. Er wollte einen großen Fang tun. Die 8. Deutsche Armee durfte nicht hinter die Weichsel entwischen. Hatte man erst die wichtige Bahnlinie bei Osterode und Deutsch-Eylau gewonnen, so konnte man der Armee Rennenkampf die Hand reichen und hatte dann mit den Deutschen leichtes Spiel. Man brauchte nur noch dieses vereinzelte XX. Armeekorps, das den Weg nach Osterode versperrte, beiseite zu werfen, wenn es sich überhaupt in einen Kampf einließ.

Auf den von Neidenburg nach Hohenstein führenden Straßen marschierte die russische Mitte in den Morgenstunden des 23. August rüstig vorwärts. Sie wollte heute mit den Anfängen noch Hohenstein erreichen.

Südlich Frankenau, bei Lahna, bei Orlau flackerte gegen Mittag das Feuer auf. Also doch Widerstand! Umso besser, dann kamen die Dinge gleich zur Entscheidung. Man hatte hinterher freie Bahn.

Es war die 37. Infanterie-Division unter General v. Staabs, die das erste einleitende Gefecht in der siebentägigen Schlacht bei Tannenberg zu bestehen hatte.

Vor die Hauptstellung vorgeschoben, sichern zwei Kompagnien des Jäger-Bataillons Graf York den Südausgang von Lahna. Gegen sie brandet die vielfache russische Übermacht zuerst an. Von rechts und links füllt sich das Feld mit zahllosen funkelnden Bajonetten. Eine bewegliche lehmgraue Masse läuft, springt heran, überschüttet Lahna mit Feuer. Die Jäger liegen im Anschlag, ruhig, als ob dieses Geschieße für sie etwas Alltägliches wäre. Sie haben scharfe Augen und nehmen das flüchtige Ziel fest aufs Korn. Aber auch der Russe ist tapfer. Es lodert auch in ihm etwas vom Feuer der ersten Kriegsbegeisterung. Er erinnert sich an das Wort Suworoffs: „Die Kugel ist eine Törin, das Bajonett ist ein braver Kerl.“ — Man muss diesem mörderischen Feuer, das aus dem Dorfrande sprüht, an den Leib. 150 Meter vor dem Dorfe tauchen die braunen Gestalten auf. Weiter kommen sie nicht. So ist Lahna nicht zu nehmen. Erst müssen Geschütze, Maschinengewehre und Gewehre an die Arbeit. Auge in Auge liegen sich die Gegner auf nächsten Entfernungen gegenüber. Stunde um Stunde dieses heißen Augustnachmittags verrinnt. Wie Hagelschauer prasseln die russischen Kugeln in das Dorf. Die dünne Kette der Jäger lichtet sich, die Munition wird knapp. Die ersten Schatten der Dämmerung breiten sich über das Land, verwischen die Ziele. Hier und da kommt wieder Leben in die graue Masse der Angreifer. Wo das Feuer der Jäger erstorben ist, erreichen sie den Dorfrand.

Hauptmann Bergemann, der Führer des Halbbatillons, lässt bei schwindendem Licht den Hirschfänger aufpflanzen, um der Meute zu wehren. Aber der Damm ist gebrochen, von allen Seiten füllt sich das Dorf mit Feinden. An der Schmiede, mitten im Dorf, sammelt Bergemann, was er noch erreichen kann, zum letzten Kampfe. Ein kurzes, erbittertes Ringen, — dann das heisere „Hurra“ der Russen. Einige Überlebende taumeln zurück. Bergemann reißt den Degen heraus, wirft sich ihnen entgegen: „Ein Feigling, wer mir nicht folgt!“

Er bricht zusammen, neben ihm Leutnant der Reserve Bandow und Leutnant v. Heydebrand. Der Tod des Führers schreckt die Tapferen nicht. Leutnant Friese, dann Leutnant Köppe setzen sich an ihre Spitze, springen auf die Schmiede zu, stürzen schwer getroffen nieder.

Der Heldenkampf der Jäger ist zu Ende. Was noch von den beiden Kompagnien am Leben ist, wird in der Hauptstellung gesammelt. Das Bataillon verliert an diesem einen Tage 17 Offiziere und Offizieranwärter und 254 Oberjäger und Jäger.

Zur gleichen Zeit, als die 2. und 4. Kompagnie des Jäger-

Bataillons York bei Lahna ihre ersten unvergänglichen Lorbeeren in diesem Kriege pflücken, steht einige Kilometer weiter östlich auf dem zurückbiegenden linken Flügel des Korps die 73. Infanteriebrigade in hartem Kampf um die Alleübergänge bei Orlau. Dort sichert eine vorgeschobene Kompagnie des Infanterieregiments 147, das später den Namen des Feldmarschalls Hindenburg führen sollte, vom steilen Ufer aus den gewundenen Lauf des Flüsschens. Die Allebrücke steht in Flammen. Man fühlt sich hinter der ziemlich breiten, sumpfigen Niederung wohl geborgen. Aber in Russland sind Brücken Luxusgegenstände und wo sie vorhanden sind, werden sie meist nicht benutzt. Das Alleflüsschen ist für den russischen Soldaten kein Hindernis und ostpreußische Sumpfniederungen sind vollends für ihn ein Kinderspiel. Etwas verblüfft sehen die 147er, wie der Russe rechts und links, soweit das Auge reicht, durch den Fluss watet und springt, wie er die Hänge empor klettert und zwischen den Kiefern verschwindet.

General Wilhelmi, der Führer der 73. Infanterie-Brigade, beobachtet mit gespannter Aufmerksamkeit auf seinem Gefechtsstande den Kampf der Jäger bei Lahna. Er hört den Gefechtslärm bei Orlau. Es kommen die ersten Meldungen: Der Russe steigt in das Alletal hinab. Die 12. Kompagnie 147 an der Brücke bei Orkan hat in dem unübersichtlichen Gelände schweren Stand, sie kann nicht in jede Falte und Windung hinein sehen.

In dem General will sich die Sorge erheben. Aber er zwingt sich zur Ruhe. Er darf nicht auf die ersten Gefechtsmeldungen hin seine Kräfte verausgaben. Plötzlich eine bedrohliche Nachricht: Die Alle ist in breiter Front überschritten. Die Russen haben die Waldstücke am Nordufer besetzt.

Eine peinliche Überraschung!

Dem General ist die Verantwortung für die linke Flanke des XX. Armeekorps übertragen. Geht die Anlehnung an die Alle verloren und gewinnen die Russen hier Raum, dann hängt der Flügel des Korps in der Luft, kann umgangen werden.

Es ist keine Minute zu verlieren. — Der General gibt seine Befehle: Regiment 151, Teile von 147, 1 Bataillon des Landwehr-Regiments 18, die 1. und 3. Kompagnie des Jägerbataillons haben den Feind über die Alle zurückzuwerfen. Dann besteigt er seinen Schimmel und sprengt nach vorn. Das Pferd bricht tot unter ihm zusammen.

Die Spannung, die über den wartenden Regimentern gelegen hatte, löst sich. Gott sei Dank, man kann angreifen! Die unbändige Angriffslust, die dem deutschen Soldaten mehr als jedem anderen Soldaten auf der Welt im Blute steckt, feiert ihre ersten Triumphe. Das ist keine Friedensschulung, das ist aus uralter Zeit angeborener unwiderstehlicher Drang nach vorwärts. Nicht umsonst schlugen deutsche Soldaten im Altertum die Schlachten der römischen Kaiser, führten sie im Mittelalter die Kriege der Spanier und Franzosen?

Noch schneller als sie herausgekommen sind, fliegen die Russen die Hänge des Alletals wieder hinab. Die Deutschen stehen vor Sumpf und Fluss. Sollen sie sich von den Russen beschämen lassen? Hinüber! — die Kampfleidenschaft geht mit ihnen durch. An verschiedenen Stellen hört man das alte Kampflied: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall.“ — Die Russen haben zur Aufnahme der zurückflutenden vorderen Bataillone den südlichen Flussrand dick besetzt. Verheerendes Feuer lichtet die Reihen der verfolgenden deutschen Regimenter; aber nichts hält sie auf. — Major Weigelt, der tapfere Jägerkommandeur, fällt. — Auf dem Südufer entspinnt sich ein erbitterter Kampf. An einer Stelle wehren sich die Russen, um eine Fahne geschart, besonders tapfer. Der Jäger Awe von der 3. Kompagnie Jägerbataillons York ergreift den Fahnenschaft. Ein russischer Offizier reißt das Tuch herab, schlingt es sich um den Leib, eilt zurück und bricht tot zusammen. — Es ist dieselbe Fahne, über der vor 100 Jahren die Generale York und Diebitsch die Konvention von Tauroggen abgeschlossen haben. Schicksalsfügung!

Der russische Widerstand ist gebrochen. Im heißen Eifer verfolgt die Brigade in die sinkende Nacht hinein. Wo wollen die Bataillone hin? Wie soll man sie zum Halten bringen? Die Befehle dringen nicht durch. Da schallt das vom Manöver her wohl bekannte Signal: Das Ganze halt! durch die klare Abendluft. Die Besinnung kehrt zurück, die Truppe kommt zum Stehen. Das blutige Manöver ist zu Ende.

Die 37. Division kann mit Stolz auf diesen Tag zurückblicken. Aber der kommandierende General v. Scholtz, vor dessen geistigem Auge unverrückbar der Plan der bevorstehenden großen Schlacht steht, hält mit mir ernste Rücksprache. Der linke Flügel des Korps hat dem heutigen Stoß zwar standgehalten, aber der morgige Tag wird ungleich gefährlichere Kämpfe bringen. Man hat Nachrichten, dass östlich vom XV. russischen Korps, das heute bei Frankenau, bei Lahna und Orlau angegriffen hat, noch weitere starke Kräfte vorgehen. Greifen sie morgen in den Kampf ein, so kann man ihnen ein paar Kompagnien, im besten Falle einige Bataillone, entgegenwerfen. Die 3. Reservedivision bei Allenstein, die man zur Verstärkung einsetzen könnte, hält Hindenburg noch fest. Wenn irgend möglich, soll ihre Kampfkraft für das große Schlachtendrama, das am 26. und 27. August abrollen soll, aufbewahrt werden. Was wird aus dem Plan Ludendorffs, wenn morgen die 37. Division von zwei russischen Korps angegriffen, umfasst und zertrümmert wird?

Ein furchtbarer Gedanke! Es hilft nichts. Der linke Flügel des Korps muss weit zurückgenommen werden. Man gewinnt einen oder zwei Tage Zeit, weicht der Umfassung aus. Es ist für die Truppe schmerzlich, das Gelände, um das sie eben blutig gerungen hat, ohne für sie erkennbaren Grund wieder aufgeben zu müssen. Aber in vier Tagen wird auch der einfache Soldat verstehen, dass in allem Hin und Her, in allem scheinbaren Widerspruch ein Sinn steckt, dass die Führer an der Spitze ganz genau wissen, was sie wollen.

In der Nacht marschiert die Division ab, wenige Stunden bevor das russische XV. und XIII. Korps sich zum vernichtenden Flankenangriff in Bewegung setzen.

Die Loslösung vom Feind glückt nicht überall ohne Kampf. Auf dem rechten Flügel der 37. Division bei Frankenau, wo schon am gestrigen Tage gekämpft wurde, greifen die Russen im Morgengrauen, während gerade die Truppen im Abrücken sind, erneut heftig an. Hier opfert sich ein Zug der 5. Batterie Feldartillerie-Regiments 73, der seit gestern in der vordersten Infanterielinie am südlichen Dorfrande kämpft, für die Schwesterwaffe. Er feuert Schuss um Schuss, bis die Infanterie abgerückt ist. Erst dann lässt der Führer, Leutnant Heise, die Pferde kommen. Sie werden zusammengeschossen. Nun gilt es, zu sterben. Der Gedanke, die Geschütze im Stiche zu lassen, kommt den braven Kanonieren nicht. Aber sie wollen ihr Leben teuer verkaufen. Die beiden ehernen Mäuler sprühen Schnellfeuer in die anstürmenden russischen Haufen. Aber von den Seiten und von rückwärts schlagen die Wellen über beide Geschütze zusammen. Mit Pistole und Spaten verteidigen sich die Kanoniere, bis der letzte von ihnen zu Boden stürzt.

Am Abend des 24. August steht das XX. Armeekorps enger geschlossen als bisher, im Halbkreis von Südwest nach Nordost zwischen Gilgenburg und Mühlen. Nördlich Mühlen schließen sich die Landwehr-Regimenter aus Thorn und Graudenz an, die vom rechten Flügel des Korps nach dem linken gezogen sind. Die 3. Reservedivision ist nach Hohenstein herangerückt.

Die Kommandoflagge des Generalkommandos weht in Tannenberg, an das sich so große Erinnerungen für Ostpreußen knüpfen. Dort trifft in den Mittagsstunden auch Hindenburg mit seinem Generalstabschef Ludendorff ein. Sie billigen den Entschluss des Generalkommandos. Es ist ganz gut, wenn die Sehne des Bogens etwas zurückgezogen wird. Umso schärfer werden das 1. Reserve- und das XVII. Armeekorps Flanke und Rücken des Feindes treffen. Nur zerreißen darf die dünne, lang gestreckte Linie des XX. Armeekorps nicht.

Beim russischen Oberkommando herrscht am 24. August keine Siegerstimmung. Die Kämpfe bei Lahna, Frankenau und Orlau hatten sehr viel Blut gekostet. Die Truppen waren tief erschöpft und bedurften dringend der Ruhe und Erholung. Die heiße Angriffslust hatte sich merklich abgekühlt. Man ging langsamer und bedächtiger vor, ließ sich mehr Zeit. Der 24. und 25. August vergingen ohne wesentliche Kämpfe.

Am Abend des 25. August konnte General v. Scholz erleichtert aufatmen. Der erste Teil seiner großen Aufgabe war erfüllt. Auf dem rechten Armeeflügel, westlich Usdau, standen jetzt die Hauptteile des 1. Armeekorps zum Angriff bereit. Auf dem linken Flügel, bei Bischofsburg-Seeburg, hatten das 1. Reserve- und das XVII. Armeekorps Gefechtsfühlung mit dem abgezweigten VI. russischen Korps gewonnen. Da das XIII. russische Korps am 24. August die Marschrichtung auf Allenstein einschlug, wo zur Zeit kein deutscher Soldat mehr stand, und infolge dieses erfreulichen Umweges für die Entscheidungen der nächsten Tage ausfiel, hatten das l. und verstärkte XX. Armeekorps „nur“ noch drei russische Korps vor sich. Mit ihnen wollte man schon fertig werden.

Hindenburg drückte auf die Hebel der Zange von Tannenberg. Das 1. Armeekorps unter General von François und der rechte Flügel des verstärkten XX. Armeekorps sollten am 25. August in der Richtung auf Neidenburg, das 1. Reservekorps unter Otto v. Below und das XVII. Armeekorps unter Mackensen über Bischofsburg auf Ortelsburg angreifen.

Der 26. August wurde ein neuer Ehrentag für das XX. Armeekorps. Den Siegeslorbeer des Angriffs durfte die auf dem rechten Flügel stehende 41. Division pflücken, während der größere Teil der 37. Division und die Landwehr einen wuchtigen Durchbruchsversuch des russischen Zentrums abzuwehren hatten.

Samsonoff hatte sich, reichlich spät, entschlossen, das Gespinst, dessen Fäden er zu spüren begann, durch einen kräftigen Stoß auf Mühlen zu zerreißen. Nördlich des Ortes griff das XV. russische Korps an. Hier klammerten sich die Landwehrregimenter des Generals v. Unger zähe an der ostpreußischen Erde fest. Nicht einen Fuß breit Boden gaben sie nach. Um den Angriff vorwärts zu bringen setzte Samsonoff starke Teile des XXIII. Korps von Südosten her, schräg vor der 41. Division entlang, auf Mühlen zu in Marsch. Sie kamen gerade vor die Klinge der 41. Division, die um 330 nachmittags zum Angriff über Jankowitz und Oschekau antrat. Unter der Wucht des Anpralls wichen die Russen zunächst langsam, dann immer schneller zurück, flohen schließlich in panischem Schrecken und konnten zum Teil erst 25 km rückwärts in Neidenburg zum Stehen gebracht werden.

Leider konnte das XX. Armeekorps seinen Sieg am nächsten Tage, dem 27. August, nicht vollenden. Das 1. Armeekorps hatte infolge widriger Umstände sein Angriffsziel Usdau nicht erreicht. Zu seiner Unterstützung mussten daher erhebliche Teile des XX. Armeekorps nach Süden abgezweigt werden. Auch im Norden bei Mühlen war trotz des prachtvollen Widerstandes der Landwehr eine ernste Lage entstanden. Hier setzte Samsonoff am 27. August seine Durchbruchsversuche fort, um das Schicksal der Schlacht noch in letzter Stunde zu wenden. Das an dieser Stelle stehende XV. russische Korps fand Unterstützung durch das XIII., das, von seinem Spaziergang nach Allenstein zurückkehrend, sich Hohenstein näherte.

Ihm saß das 1. Reservekorps im Nacken und mahnte unsanft zur Eile.

Die Front des XX. Armeekorps hatte sich im Verlaufe der letzten vier Tage vollständig gedreht. Ursprünglich nach Süden gerichtet verlief sie jetzt genau von Südosten nach Nordwesten. Immer weiter hatte der linke Flügel zurückgebogen werden müssen, jetzt war die äußerste Grenze erreicht. Wurde der letzte Riegel bei Mühlen gesprengt, dann standen die Russen im Rücken des XX. und I. Armeekorps. Der Sieg konnte den Deutschen dann doch noch entrissen werden. Mühlen war der Schlüsselpunkt der Schlacht geworden.

Die Spannung beim Generalkommando wurde fast unerträglich. Würde die Landwehr bei Mühlen halten? Ungünstige Gerüchte durchschwirrten die Luft, wiederholt kamen Meldungen vom Durchbruch der Russen. Diesem Gefahrzustand musste ein Ende bereitet werden. Der kommandierende General entschloss sich, die 37. Division hinter den gefährdeten Abschnitt bei Mühlen zu schieben. Freilich war die Stoßkraft des XX. Armeekorps südlich von Mühlen jetzt auf die geschwächte 41. Division beschränkt. Aber das konnte schließlich in Kauf genommen werden, da die Gesamtlage sich am 27. günstig gestaltet hatte. Das I. Armeekorps hatte den Widerstand der Russen bei Usdau gebrochen und im Norden war das VI. russische Korps bei Bischofsburg von Mackensen und Below schwer aufs Haupt geschlagen und befand sich auf der Flucht nach der Grenze.

Im Raum um Hohenstein kämpften noch immer das XIII., XV. und XXIII. russische Korps. Samsonoff hatte die furchtbare Gefahr, die ihm durch Umklammerung von beiden Seiten drohte, erkannt und sich zum Rückzug in die einzige noch mögliche Richtung — nach Südosten, auf Willenberg zu — entschlossen. Es gelang ihm jedoch nicht, einen geordneten Rückzug einzuleiten. Von Westen her stieß die 3. Reservedivision und die Landwehr gegen die bei Hohenstein zusammengeballten russischen Massen vor. Von Süden drängte sich, fast allzu kühn, die 41. Division östlich des Mühlensees herum, mitten in die im Abmarsch befindlichen russischen Divisionen hinein. Ihre Regimenter traten am frühen Morgen des 28. August, noch während der Dunkelheit, über Seythen und Waplitz an. Wenn es hell wurde, wollten sie im Rücken des Feindes bei Mühlen stehen.

Aber die Russen sind an diesem Tage hellhörig. Von den Höhen nördlich Waplitz schlägt dem Vorhut-Regiment 59 heftiges Feuer entgegen. Das Regiment beißt sich fest, erleidet starke Verluste. Der Regimentskommandeur, Oberst Sonntag, findet den Heldentod. Rechts und links der Vorhut entwickeln sich die Regimenter des Gros, 148 und 152. Dichte Nebelschwaden erschweren Überblick und Kampfleitung. Ein rasendes Schnellfeuer bellt durch die fahle Morgendämmerung, dazwischen die gröberen Stimmen der Geschütze.

Plötzlich saust von rückwärts her Schuss auf Schuss in die deutschen Schützenlinien hinein, die sich eben zum Sturm auf Waplitz anschickten. Es gibt schwere Verluste. Die Infanterie ist wütend auf die eigene Artillerie, die offenbar zu kurz schießt. Hier und da gehen die Schützen zurück. Man schickt nach rückwärts, die Artillerie soll das Feuer vorverlegen. General Reiser, der das Gefecht leitet, lässt das Feuer aller Batterien abstoppen. Was ist das? Nach wie vor trifft Schuss auf Schuss in die deutschen Schützenlinien. — Das muss russische Artillerie sein! Während diese Erkenntnis aufdämmert, knattert auch schon Infanteriefeuer von Frankenau herüber. In dem sich lichtenden Nebel tauchen russische Schützen im Vorgehen gerade in den Rücken der Deutschen auf. Das am Ende des Gros marschierende II. Bataillon 152 wirft sich ihnen entgegen, bringt sie zum Stehen. Es sind Teile des gestern bei Oschekau geschlagenen XXIII. Korps, die unter einem beherzten Führer der zwischen Waplitz und dem Mühlensee eingeklemmten 41. Division eine Vernichtungsschlacht im Kleinen zugedacht haben.

Die Lage wird immer bedenklicher. Der Nebel ist verschwunden und bei heller Sicht schlägt das wohlgezielte russische Artilleriefeuer mit furchtbarer Genauigkeit in die auf engen Raum vor Waplitz zusammengedrängten deutschen Bataillone ein. Der Divisionsführer durchlebt schwere Minuten. An die Durchführung des Angriffs auf Waplitz ist nicht mehr zu denken. Die Division muss zurück. Wird das II. Bataillon l52 überrannt, so sitzt die Division in der Falle. Aber die Musketiere vom Deutsch-Ordensregiment wissen, was von ihnen abhängt. Sie bilden einen eisernen Schild, hinter dem sich die Division aus der gefährlichen russischen Umarmung löst.

Die Verluste der Regimenter sind schwer, aber sie sind nicht vergeblich gebracht. Durch die Vorstöße der 3. Reserve- und 41. Infanteriedivision ist die Verwirrung der Russen auf das Höchste gesteigert. Sie verlieren jeden Halt und eilen in wilder Hast und voller Auflösung den Wäldern nördlich Neidenburg-Willenberg zu.

Das von Allenstein auf Hohenstein marschierende russische Korps fand den Weg dorthin nicht mehr. Im Rücken vom I. Reservekorps schwer bedrängt, sucht es vergeblich, sich einen Weg durch die feuersprühenden Gewehre der 37. Division und der eben auf dem Schlachtfelde eintreffenden schleswigschen Landwehr zu bahnen. Um 6 Uhr Vormittag trifft Generalkommando XX in Hohenstein ein. Beim Durchreiten der Stadt bietet sich hier ein grausiges Bild. Ganze Straßenzüge stehen in Flammen. Zerschossene russische Truppenfahrzeuge und Geschütze, dazwischen halbverkohlte Leichen, hemmen oft das Vorwärtskommen. Am Nordausgang treffen wir den Kommandeur der 37. Division. Er meldet: „Auf der ganzen russischen Front wehen weiße Fahnen.“ Im langen Galopp geht es zu unserer braven Infanterie, die auf 500 m dem Feinde gegenüberliegt. Man erwartet den feindlichen Parlamentär. Minute um Minute verrinnt, vereinzelt fallen wieder Schüsse. Ein Offizier vom Infanterieregiment 150 wird beauftragt, mit der Parlamentärflagge hinüberzureiten und zur Übergabe aufzufordern. Auf halbem Wege wird er stark beschossen. Sein Pferd bricht zusammen und unverrichteter Sache kehrt er zurück. Das Feuer wird mit aller Kraft wieder eröffnet. Der Russe schwenkt erneut die weiße Fahne. Von allen Seiten eingekreist, streckt er auch hier die Waffen. Das Drama ist zu Ende.

Am 30. August war die Riesenschlacht restlos gewonnen. Das l. Armeekorps war schneller bei Willenberg als die todmüden, sich schwerfällig durch die ostpreußischen Wälder hinschleppenden russischen Korps. Von allen Seiten schloss sich der Ring. Mit echt deutscher Gründlichkeit war jeder Ausweg verstopft worden. Vergeblich eilten von Warschau her Verstärkungen zum Entsatz heran, vergeblich beschleunigte, viel zu spät, Rennenkampf seinen Vormarsch über Bartenstein—Rössel auf Allenstein. Die harte Faust Hindenburgs ließ die Zange nicht mehr los, bis sie ihr Werk getan hatte. Am 30. und 31. August ergaben sich in den Wäldern nördlich Willenberg die Reste des XV. und XXIII.Korps. Samsonoff gab sich selbst den Tod.

Das scheinbar Unmögliche war gelungen. Aus Kampf und Rückzug heraus, im Rücken durch einen starken Feind schwer bedroht, war eine Vernichtungsschlacht geschlagen, für die sich in der Weltgeschichte nicht viele Vergleiche finden. 90 000 Russen wurden in freiem Felde gefangen.

Viele teilen sich in den Ruhm der Schlacht von Tannenberg. Dem XX. Armeekorps gebührt das besondere Verdienst, durch die vertrauensvolle Beurteilung der Lage und durch sein zähes Aushalten die Grundlage für die Durchführung der Schlacht geschaffen zu haben. Es hat am meisten geblutet. Nur einem stahlharten Instrument, wie das XX. Armeekorps es war, durfte ein solcher Wechsel von Angriff, Verteidigung und Rückzug und solche sinnverwirrende Folge von Hin- und Hermärschen zugemutet werden. Es war ihm das Schwerste gelungen, was der Soldat kennt, „einen weit überlegenen Feind auf sich zu ziehen, ihn zu fesseln, sich aber beileibe nicht schlagen zu lassen“.

Mögen die Ehrenfriedhöfe auf ostpreußischer Erde die jetzigen wie die kommenden Geschlechter mahnen, gleich zu sein den Helden von Tannenberg an Treue Zur Heimat, und mögen sich zaghafte Gemüter aufrichten an dem Heldentum dieser Braven!

Im Felde unbesiegt

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