Читать книгу "...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen." - Gusti Adler - Страница 11
Der magische Kreis
ОглавлениеReinhardt hatte nun zwei Theater. Das größere ein idealer, einzigartiger Raum für Klassiker, für Gesellschaftsstücke: das Deutsche Theater, und daneben die Kammerspiele, in denen er versucht hatte, seinen Traum von räumlicher Nähe von Schauspieler und Publikum zu verwirklichen. Aber immer noch fehlte etwas zu dem lebendigen Kontakt:
…die wunderbare Wechselwirkung im Zusammenspiel zwischen Zuschauer und Schauspieler, dieser Zeugungsakt, der die uralte Institution des Theaters unsterblich macht.
So kehrte Reinhardt schließlich zur Form des antiken Theaters zurück, in dem die Bühne in den Zuschauerraum hineingebaut war, die sogenannte Orchestra, in der früher die Chöre um den Altar standen und wo die Zuschauer in einem Kreis um die Schauspieler saßen. Er hat darüber folgendes geschrieben:
Das Theater ist Jahrtausende lang ohne Dekorationen ausgekommen. Welcher Bühnenkünstler konnte den Garten im Romeo, die Heide im Lear oder die Klippen von Dover so zwingend suggestiv aufbauen, wie Shakespeare sie in den Worten seines Dialogs geschaffen hat? Ein guter Schauspieler wird nicht nur um Hekuba weinen können – er kann statt eines Kindes ein Stück Brennholz im Arm haben und seine Zuschauer tief erschüttern. Er braucht nicht einmal einen Partner. Wir wissen, daß von einem Monolog die stärksten Wirkungen ausgehen können und daß auf dem antiken Theater der zweite und der dritte Charakter erst von Aischylos eingeführt wurde. Eines braucht er unter allen Umständen: – den Zuschauer. Ein Schauspieler kann nur spielen, wenn ihm jemand zuschaut und zuhört. Ein Stück kann bis zum letzten Detail geplant, ausgearbeitet und festgelegt sein (Stanislawski hat in Moskau manche Stücke ein Jahr lang und länger probiert) – und es wird doch erst im Zusammenspiel zwischen Zuschauer und Schauspieler lebendig gezeugt und geboren werden. – Der Schauspieler mißt seine Kräfte mit dem Gegner im Dunkel, den er bezwingen und zu seinem entscheidenden Helfer, zu seinem Mitspieler machen muß.
Reinhardt verbrachte 1910 seine kurzen Sommerferien – vor Beginn der Münchner Festspiele – in England. Er sah der Arbeit in dem »Kindersärgle« – wie er das winzige Künstlertheater auf der Theresienhöhe nannte – mit Unlust entgegen. Das Vorjahr war ihm trotz des ungeheuren künstlerischen Erfolges durch Schikanen der Münchner Künstlerclique – »die Rettichschädel« –, durch Polizeizensur und kleinstädtische Presse verleidet worden. Er schrieb darüber aus Maidenhead an seinen Freund und Helfer Berthold Held:
Der Bürgermeister z. B. hat sich ja ausgezeichnet benommen und viele andere auch, ich will nicht ungerecht sein. Wir haben im Vorjahr eine erhebliche Summe Geldes zugesetzt und, was mir mehr ist, eine ungeheure, beispiellose, noch nie dagewesene Summe künstlerischer Arbeit, wie sie das kleine gemütliche dicke verschlafene Rettignest sich nie hat träumen lassen, wie sie wohl in solcher Anspannung, mit so sorgfältiger minutiöser Vorbereitung, so bahnbrechenden lnszenierungsgedanken, so vielen wundervollen schauspielerischen Individualitäten in den schönsten Meisterwerken unserer Dichtung überhaupt noch nie in eine so kurze Frist gedrängt wurden. Nirgends! Von München zu schweigen, dessen Tradition es ja ist, alles Echte, Große, Künstlerische, Herbe zu vertreiben und den mittelmäßigen Nachtretern Tempel zu bauen.
Das einzige, was ihn in diesem Sommer reizen konnte, trotzdem wieder nach München zu gehen, war der Gedanke, in der großen Musikfesthalle auf der Theresienhöhe einen Plan zu verwirklichen, der in diesen Wochen in ihm wuchs und Gestalt anzunehmen begann:
Ich habe einen merkwürdigen Inszenierungsplan für die Halle – Ödipus – im Kopf, von dem ich Dir erzählen werde, da Du hervorragend dabei beteiligt werden sollst. Es kann etwas ganz Besonderes, Neues werden. Ich bitte Dich aber nicht davon zu sprechen, weil wir mit der Halle noch keinerlei Abmachung haben. Es würde mich freilich sehr reizen, da es sich hier um bahnbrechende wichtige Dinge handelt. Beschaffe Dir nur rechtzeitig Chorpersonal, Sprecher, Schauspieler (am Ort) und viele junge schöngewachsene Männer, die fast ganz nackt gehen müssen. Das kann unter Umständen eine Trouvaille werden!
So kam Reinhardts erste Ödipus-Aufführung zustande. Die Musikfesthalle fasste Tausende von Menschen. Sie alle wurden in das Spiel einbezogen: an ihnen vorbei stürmte durch die Mitte des Hauses das Volk der Thebaner zur Bühne. Aufschrei und Stille – Tragödie der Antike in die Gegenwart getragen und wieder auferweckt. Aber noch fehlte das Rund des antiken Theaters. Es drängte Reinhardt, Ödipus auch in Berlin zu zeigen. Wenn er von der Lebensnotwendigkeit eines Entschlusses durchdrungen war, fand er stets einen Weg zur Verwirklichung. Es fehlte an Zeit und an Geld, um den Rahmen für diese Inszenierung neu zu schaffen, aber Berlin hatte zwei Zirkusgebäude: Zirkus Schumann und Zirkus Busch. Leere große Räume, in denen sich nun das Wunder der Wiedergeburt des Theaters der Antike und später des mittelalterlichen Mysterienspieles mit elementarer Gewalt vollzog. Mit der orchestralen Behandlung der Chöre, der Stimme des Volkes in Hofmannsthals Bearbeitung von Ödipus und die Sphinx hatte Reinhardt im Deutschen Theater seine Erweckung des Theaters der Antike eingeleitet. König Ödipus im Zirkus Schumann brachte nun die höchste Erfüllung. Unvergesslich die Steigerung dramatischen Geschehens, getragen von der dunklen Masse der Zuschauer. Ein magischer Kreis um das Geschick, das sich, in grelles Licht entrückt, unerbittlich nach Urgesetzen menschlichen Dramas abrollte. Moissi, Wegener, Durieux, der Chor, das Volk, die Masse – von Reinhardt wie eine große Orchesterfuge dirigiert.
Mit dieser Aufführung wurde Reinhardts Ruhm über ganz Europa getragen – von London über Wien, Budapest, Skandinavien, Polen, bis in das tiefste Russland. In einer Kritik über sein Gastspiel in Petersburg 1911 heißt es:
Reinhardts Ödipus-Aufführung im großen Zirkus Ciniselli wirkte vielfach wie eine Offenbarung. Die wunderbare Sprache des jungen Moissi riß die Zuschauer ebenso hin wie die noch nie gesehene Entfesselung von Massen auf dem Theater. Um die Massenwirkungen zu erzielen, brauchte Reinhardt Menschen, und sofort stellten sich ihm Kräfte aus der besten Petersburger Gesellschaft zur Verfügung.
In manchen Städten arbeitete er mit anderssprachigen Darstellern – in London mit John Martin-Harvey und englischen Schauspielern – in Budapest mit ungarischen Künstlern. Das hat sich im Laufe seines Lebens oft wiederholt: mit Schweden und Franzosen, mit Italienern und Letten, Amerikanern und Dänen. Max Reinhardts Ausdrucksfähigkeit überbrückte den trennenden Abgrund einer fremden Sprache. Wesentliches bedurfte keines Dolmetschers. Wohl lief der anderssprachige Text in seinem Regiebuch mit dem deutschen Text parallel, und ein Hilfsregisseur des betreffenden Theaters stand ihm zur Seite, aber, was er dem Schauspieler gab, war Bewegung, Ton, Ausdruck, und so zwingend war diese Regiesprache, dass sie die wundervollsten Ergebnisse zeitigte. Das »Volk« wurde an Ort und Stelle engagiert und einstudiert. Meist waren es Studenten der jeweiligen Universität. Ihre Begeisterung war groß, und sie ließen sich nur zu gerne von der hinreißenden Welle Reinhardtscher Regie tragen. Die Liebe zu jungen Menschen, der Glaube an sie, hat Reinhardt von seinen frühesten Anfängen sein Leben lang begleitet. Er verstand sie zu führen, zu einem Ensemble zusammenzuschweißen und ungeahnte Kräfte in ihnen frei zu machen.
1912 bannte Max Reinhardt die Orestie des Aischylos in den Raum des Zirkus, den er beherrschte wie ein edles Instrument. Er füllte ihn mit Schwingungen von atemloser Spannung bis zum elementaren Ausbruch höchster Leidenschaft. Die tausendköpfige Menschenmasse der Zuhörer wurde zum tönenden Resonanzboden und folgte jeder Regung.
Mit dem mittelalterlichen Stück vom Sterben des reichen Mannes Hofmannsthals Jedermann – knüpfte Reinhardt an die Welt der frühen Mysterienspiele an. Diese einfachste aller Geschichten hat ihn bis an sein Lebensende gefesselt. Sie ist über die Welt gegangen. Von der Aufführung im Zirkus Schumann an, auf Gastspielreisen, über ganz Europa, 1927 ins Century Theatre in New York, vor allem aber in ungebrochener Kette (mit nur einer Unterbrechung, 1923 bis 1925), von 1920 bis 1937, auf dem Salzburger Domplatz bei den Festspielen, wo sie sich als die stärkste und aktivste Attraktion erwies. Eine Glanzrolle Moissis, an der er wuchs, bis ihn zuletzt – auch ihn – das Schicksal ereilte, das er Tausenden viele Jahre hindurch so erschütternd nahe gebracht hatte. Aber damals waren alle jung – Reinhardt 38 Jahre alt, die Schauspieler, die Dichter um ihn, die Musiker, die Maler, die er heranzog, alle in der Blüte ihrer Schaffenskraft. In weitem Bogen erstreckte sich das Repertoire des Deutschen Theaters, der Kammerspiele und des Zirkus Schumann. Von dem Drama der Antike über das Mittelalter, Shakespeare, die deutschen und französischen Klassiker, bis zu Ibsen, Strindberg, Wedekind in die Gegenwart.
Die Form der Pantomime hatte Max Reinhardt seit jeher gelockt. So schlug er Karl Vollmoeller vor, eine mittelalterliche Legende – etwa in der Art von Maeterlincks Schwester Beatrix, ein Stück, das er 1904 im Neuen Theater aufgeführt hatte – zu bearbeiten. Charles B. Cochran, der englische Producer, kam gerade um diese Zeit nach Berlin, wo er König Ödipus sah. Er wollte diese Aufführung durchaus nach London verpflanzen, in die ungeheuer große Olympia Hall. In seiner Begeisterung vergaß er dabei, dass es unmöglich gewesen wäre, das gesprochene Wort dort zu verstehen. Reinhardt war damals in Budapest. Cochran reiste ihm nach. Man einigte sich auf eine Pantomime, und Vollmoeller, der Anregung Reinhardts folgend, skizzierte das Mirakel. Der Vertrag mit Cochran wurde abgeschlossen, und am 23. Dezember 1911 fand die Uraufführung in London statt.
Mit der Aufführung von Jedermann und Mirakel hat Reinhardt frühen mittelalterlichen Legenden Leben eingehaucht und aufregendes Drama geschaffen. Denn untrennbar von seiner Arbeit als Regisseur war der schöpferische Anteil, den er an der Dichtung selbst hatte, der befruchtende Einfluss, den er auf den Dichter ausübte. Blutarmen Gebilden gab er Kraft, sein Wissen um Menschen und ihre Konflikte war unfehlbar, seine Logik unbarmherzig, Sentimentalität war ihm verhasst. Er verlieh den Dichtern, die das große Glück hatten, für ihn und mit ihm arbeiten zu dürfen, Schwingen, die sie mit ihm zum Erfolg trugen. So ist auch das Mirakel in seinen stärksten Wirkungen sein geistiges Eigentum. Sein Anteil an Jedermann, am Salzburger Grossen Welttheater und zahllosen anderen Dichtungen geht weit über die Arbeit des Regisseurs hinaus.
Dieser Einfluss beschränkte sich nicht nur auf das Dichterische. Für Max Reinhardt umschloss die Vision eines Werkes, das er inszenierte, alles: Handlung, Klang, Farbe, Rhythmus und den Rahmen für das Geschehen. Auf diesem Einklang, dieser Harmonie beruhte die erschütternde Wirkung seiner Inszenierungen. Er übte entscheidenden Einfluss auf Maler und Baumeister, Musiker und Choreographen aus. Was er in nächtlicher Arbeit entworfen hatte, wurde bei der nächsten Zusammenkunft mit seinen Mitarbeitern verteilt und verarbeitet. Seine Kraft nährte die Schöpfung, die, gleichsam eingeschlossen in eine schillernde Blase, ihr eigenes Leben führte, eine Welt für sich bildete.
Von seinen Zeichnungen ist leider wenig erhalten. Sie ergänzten seine Regiebemerkungen, die naturgemäß auch Zeichen für begleitende Musik einschlossen. Er hatte Zeichen für Schweigen, für Pausen, Lärm und Steigerung. Seine Regiebücher gleichen Partituren. In den Notizen für seine Selbstbiographie fand sich Reinhardts eigene Beschreibung der Arbeit an einem Regiebuch:
Das Regiebuch. Man liest ein Stück. Manchmal zündet es gleich. Man muß vor Aufregung innehalten im Lesen. Die Visionen überstürzen sich. Manchmal muß man es mehrfach lesen, ehe sich ein Weg zeigt. Manchmal zeigt sich keiner. Dann denkt man an die Besetzung der großen und kleinen Rollen, erkennt, wo das Wesentliche liegt. Man sieht die Umwelt, das Milieu, die äußere Erscheinung. Manchmal muss der Schauspieler der Rolle angepaßt werden, wenn das möglich ist. Manchmal die Rolle dem Schauspieler. Das gelesene, das gespielte Stück. Niemals eine absolute Congruenz. Idealfall, wenn der Dramatiker für seine Schauspieler schreibt, ihnen die Rollen auf den Leib schreibt. Shakespeare, Molière (für sich selbst), Nestroy, Scholz. Der Dramatiker als Regisseur. (Die Franzosen.) Die Objektivität fehlt. Schließlich hat man eine vollkommene optische und akustische Vision. Man sieht jede Gebärde, jeden Schritt, jedes Möbel, das Licht, man hört jeden Tonfall, jede Steigerung, die Musikalität der Redewendungen, die Pausen, die verschiedenen Tempi. Man fühlt jede innere Regung, weiß, wie sie zu verbergen und wann sie zu enthüllen ist, man hört jedes Schlucken, jeden Atemzug. Das Zuhören des Partners, jedes Geräusch auf und hinter der Szene. Der Einfluß des Lichtes. Und dann schreibt man es nieder, die vollkommenen optischen und akustischen Visionen wie eine Partitur. Man kann kaum nachkommen, so mächtig drängt es an, eigentlich geheimnisvoll, ohne Überlegung, ohne Arbeit. Begründung findet man später. Man schreibt es hauptsächlich für sich. Man weiß gar nicht, warum man das so oder anders hört und sieht. Schwer aufzuschreiben. Keine Noten für Sprechen. Erfindet seine eigenen Zeichen. Der gute Schauspieler, den man kennt, steht vor einem. Man komponiert ihn hinein, weiß, was er machen kann und wie und was er nicht kann. Man spielt alle Rollen. Dann liest man das Geschriebene vor der Probe durch, ändert das und jenes, fügt hinzu. Aber das ist gewöhnlich wenig. Man spricht mit den Schauspielern über ihre Rollen, sagt das Wesentliche. Dann kommt die Leseprobe. Man sagt keine Details, nur denen, die man schon genau kennt. Aber man macht ihnen Lust. Kardinalfrage: sie müssen glücklich sein, freudig, zuversichtlich, müssen an sich, ihre Rolle glauben – auch der, der die kleinste hat. Man hört zu, kriegt neue Ideen; mancher Zufall spielt mit. Manche ärgern sich. Sind wütend über ihre Rollen. Einige lachen, weinen außerhalb ihrer Rollen. Man belauert sie, fischt, hält fest. So müssen Sie schreien, schweigen, aufbrausen in dieser und jener Szene, wie Sie es jetzt getan haben, als Sie sich über die Rolle beklagt haben. Man verhaftet Tonfälle, Bewegungen, spioniert. Manche wollen Hintergründiges hören, tiefere Absichten. Viele wollen nur edle Charaktere spielen. Ein großer Schauspieler lehnt den Cassius im Cäsar ab, weil er »Dreck am Stecken« hat. So was kann er und will er nicht machen. Einige haben eigene Ideen, wollen den lustigen Teufel durchaus als gefallenen Engel spielen. Tragisch, großartig. Man nickt interessiert, bestätigend. Die einzelnen Auffassungen haben selten irgendeine Wichtigkeit, aber man nimmt sie wichtig. Man läßt sich überzeugen. Manche spielen gleich etwas vor. Das ist schon wichtiger, interessanter und oft irgendwie zu verwerten. Dann kommen Proben, in denen die Schauspieler lesen. Manche lesen lange, lernen schwer. Man sagt die Stellungen, spricht über die Absichten des Dichters, legt Tempo, das allgemeine fest. Dann überläßt man am besten einige Proben dem Assistenten. Das ist gut. Der Schauspieler fühlt sich freier, weniger bedrängt. Der Assistent überwacht den Text, die Stellungen, die Hauptaktionen und läßt die Schauspieler möglichst ihre eigenen Wege laufen. Diese ersten, zweiten, dritten, vierten Proben sind meistens langweilig. Kampf mit dem Text, mit dem Gedächtnis. Dann kommt man, hört zu. Manches ist neu, interessant, persönlich geworden. Man ändert, verwirft, baut manches neu auf. Man hat von vielem ein neues Bild, spricht mit dem Autor, findet heraus, was für den und jenen Schauspieler geändert, gestrichen oder neu aufgebaut werden muß. Alles ist im Fluß. Nun beginnt die Arbeit. Man rückt mit den Einzelheiten heraus, probiert, legt fest. Über die Bereicherung des Tonfalls, der Melodie der Sprache. (Das Tempo von Kainz. Rasend, ohne Interpunktionen. Phänomenales Gedächtnis. Jüdischer Tonfall. Ich kann, Sie müssen. Das ist der Unterschied. Tonfälle und Gebärden der Duse und ihr Einfluß auf nordische Schauspielerei. Rossi, Novelli. Die heisere Stimme in der Erregung. Das gleichzeitige Sprechen. Die Pausen: Lears Erwachen, Cordelia. Antoine [Gespenster]: Gänge um das Zimmer. Einwirkung auf Hauptmann.) Die Bedeutung der Pause: das Wichtigste im Sprechen wie das Stehenbleibenkönnen das Wichtigste beim Skilaufen ist. Ein Pferd zügeln. Die Steigerung nach unten. Die vollkommene Auflösung der Interpunktion. Komma: undramatisch, akademisch, buchmäßig. Das Dramatische ist der Punkt mitten in einem Satz. Das Denken, das Bilden eines Gedankens. Seine Entstehung, das Suchen nach Worten, namentlich, wenn sie ungewöhnlich sind. Das Zuhören. Das In-die-Augen-Sehen. Wie es den Ton verändert. Wie Füße, Hände, Blicke reden. Das Gehenkönnen in der Erregung. In der Ruhe. Der Stellungswechsel. Das Spielen mit dem Requisit. Möbel, Tische, Stühle, Wände einbeziehen als Ausdrucksmittel. Nichts Zufälliges. Kein Möbel, das nicht mitspielt, nur als Dekoration verwendet wird. Da jede Bewegung, jeder Blick, jeder Gang, jede Pause etwas bedeuten und ausdrücken muß, keine zufälligen, nichtssagenden Blicke, Gänge, Bewegungen, Pausen. Äußerste Sparsamkeit wie mit dem Wort, dessen letzte Knappheit eine Vorbedingung für das Drama ist. (In der Oper noch weniger Bewegungen.) Deutlichkeit, Plastik, Monumentalität. Die Schauspieler haben alles mitzuteilen. »Sie müssen alles ausplaudern« (Shakespeare), wenn auch nicht vorzeitig. Jago darf nicht als Schuft wirken (der er ist, nur aus eingeborener Lust am Bösen, ohne sichtlichen Gewinn für sich selbst), sondern als grober Biedermann, Brustton, der kein Hehl aus seinem Herzen machen kann. Ein wirklicher Säufer, der dem Laster des Trunks ergeben ist, darf nicht torkeln. Er bemüht sich, sein Laster zu verbergen. Er ist korrekt gekleidet und versucht besonders nüchtern und beherrscht zu wirken. Der Professor bei Krafft-Ebing vor den Studenten (Munch). Nur der den Narren spielt, will närrisch wirken. Der wirkliche Narr erscheint zunächst gar nicht närrisch. Irgendeine zufällige Wendung, eine plötzliche, unerwartete und unbegründete Erregung verrät ihn. Der Ausdruck der Gemütsbewegung bei Kindern und Tieren …
Man versucht das und jenes, hält sich nie eigensinnig an das, was man aufgeschrieben hat, bleibt offen für alles, schon um dem Schauspieler den weitesten Spielraum zu geben und um ihm vor allem Lust und immer wieder Lust zu machen. Denn dann wird er am besten sein. Kritik ist eine gefährliche, oft tödliche Waffe. Brahm hatte fast immer recht. Er war der beste, fast unfehlbare Kritiker. Aber er deprimierte. »Legen Sie großen Wert auf die Nuance? Lassen Sie sie weg.« Der Schauspieler ist ein Mondwandler. Er spaziert im Traum an gefährlichen Abgründen.
Max Reinhardt wiederholte sich nie. Er komponierte dramatischen Konflikt, von Musik und Licht getragen, in den jeweiligen Raum. Die gigantischen Dimensionen der Olympia Hall bedingten eine andere Auffassung des Mirakels als spätere Aufführungen in anderen Räumen. Dort wohnten 10 000 Menschen Tag für Tag dem Schauspiel bei. Die einfache Legende entrollte sich in einer Arena, die mit ihrem Schaugepränge wie ein mittelalterlicher Gobelin den Hintergrund für die aufregende Traumhandlung bildete. Mirakel-Gastspiele in allen großen Städten Europas folgten dem Triumph der Uraufführung in England. 17 Aufführungen, die Variationen über das ursprüngliche Thema darstellen. Ein Gastspiel in Amerika – New York – war für den 9. Dezember 1914 angesetzt. Der Erste Weltkrieg brachte diesen Plan zum Scheitern. Neun Jahre später griff Morris Gest, der amerikanische Theaterunternehmer, das Projekt wieder auf, und der glanzvollen Premiere im Century Theatre am 15. Januar 1924 folgte eine Tournee, die, mit Unterbrechungen, bis 1930 die Vereinigten Staaten durchquerte. Norman Bel Geddes, der geniale amerikanische Bühnenbildner, schuf die Dekorationen. Sein Vorläufer war Ernst Stern, und später, in Wien, zog Max Reinhardt einen der größten Bühnenbildner, Oskar Strnad, heran. Die letzte Aufführung des Mirakels fand 1932 in London statt. Abermals war es Cochran, der Reinhardt dazu bewog.
Die Wiederholung bestimmter Werke zieht sich durch Reinhardts Leben. Angefangen vom Sommernachtstraum, den er in immer neuen Fassungen herausbrachte, Faust, Goldoni, Tolstoi und zahllose andere, von ihm immer wieder aufs neue durchblutet und seinen Zeitgenossen nahe gebracht. Jedermann ist das einzige Stück, an dem Reinhardt, nach der Entdeckung für den Domplatz in Salzburg, nie mehr gerührt hat. (Mit Ausnahme eines kleinen Experimentes mit moderner Kleidung in seiner Schule in Hollywood.) Der Dom von Salzburg als Hintergrund für den Jedermann ließ sich eben auf einer Bühne nicht ersetzen. Dieser Schauplatz war ein einmaliger Fund. Reinhardt hat darüber immer wieder gesagt: »Ein Erfolg wie der Jedermann ist etwas derart Seltenes: nicht daran rühren!«
Die Wiederholung gewisser Inszenierungen motiviert er in seinen Notizen:
Warum immer dieselben Stücke – Sommernachtstraum, Faust, Goldoni, Tolstoi? Würde man aufhören wollen, immer wieder die Neunte, die Fidelio-Ouvertüren, gewisse Stücke von Mozart, Bach, Haydn zu spielen? Diese Werke sind unerschöpflich, und es ist in ihnen mehr Neues als in neuen Stücken, die viel Geschrei machen, aber im nächsten Winter ganz still und tot für immer sind.