Читать книгу "...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen." - Gusti Adler - Страница 7

Salzburg

Оглавление

Max Reinhardt ging zu Fuß zum Westbahnhof. Er trug seinen kleinen Koffer. Die Eltern und seine sechs Geschwister begleiteten ihn. Schweigend gingen sie durch den grauen Morgen. Schweigend in die rauchige, lärmende Bahnhofshalle. Schweigend standen sie inmitten hastender Menschen auf dem Perron. Keiner sprach. Sie sahen einander nur an. Edmund stand etwas abseits. Ihn traf die Trennung wohl am härtesten. Max stieg ein, und als der Zug sich in Bewegung setzte, winkten alle mit Taschentüchern. Kein erlösendes Wort hatte den Bann dieses schweren Abschieds gebrochen.

Max Reinhardt saß auf der hellen harten Bank der dritten Klasse. Über ihm stand sein kleiner Koffer, der seine Habseligkeiten in sich barg. Ein Schauspieler »musste einen Frackanzug, ein Paar Lackschuhe, einen schwarzen langen Rock und ein schwarzes Trikot für Kostümstücke haben«. Es war ihm gelungen, sich all das ziemlich billig zu verschaffen. Verwandte waren eingesprungen, um ihm über die erste Zeit hinwegzuhelfen. Ein paar Bücher, an denen er besonders hing, nahm er ebenfalls nach Salzburg mit. Sein Mittagessen war ihm vorsorglich mitgegeben worden, denn die Fahrt dauerte acht Stunden.

Der Zug rollte hinaus in die herbstliche Landschaft, vorbei an Schönbrunn, das Max noch einmal wie ein Kindheitstraum grüßte, durch die hügelige Waldgegend, der Donau zu. Er sah das flache Land zwischen St. Pölten und Melk und dann das stolze Stift Melk, das herrliche Barockkloster. Der Zug hielt an den kleinsten Haltestellen. Reinhardt hat später oft gesagt, dass es immer gut sei, die Fahrt ins Glück im Bummelzug zu machen. Von dieser beseligenden Fahrt an habe er jede Sache, jeden Tag in diesem Tempo begonnen. Was er damals empfand, war reine Glückseligkeit. Es wäre schwer zu beschreiben, worin dieses Glück bestand. Er war ein armer, blutjunger Bursche, scheu, verschlossen, der nur wie zufällig in die Welt des Theaters geraten war, eine Welt, zu der er offenbar weniger passte als seine jungen Kollegen, die viel aufgeweckter, lebenstüchtiger, selbständiger, eleganter ausgestattet waren. Die Zukunft war ein verschlossenes Buch. 47 Jahre später schrieb Reinhardt darüber:

Alles war Dämmerung um mich. Trotzdem hielt ich, preßte ich in meinen Händen etwas zusammen, als ob es das Kostbarste gewesen wäre. Und es war es. Ein dunkler, unbestimmter, aber freudiger Wille, mit dem ich es schaffen wollte.

Das Zusammenpressen der Hände hat Reinhardt durchs Leben begleitet. Es blieb eine charakteristische Geste, wenn er alle seine Willenskräfte auf ein schwer erreichbares Ziel konzentrieren wollte. Die Bewegung des Zuges trug ihn. Im Rhythmus dieser Bewegung sprach er mit sich selbst. Dann sang er. Bauern stiegen ein und aus. Er sprach mit niemandem. Man stierte ihn an. Da ging er auf den Gang hinaus und blieb dort stehen. In der Dämmerung wuchsen Berge von beiden Seiten. Es ging höher hinauf. Auf den Gipfeln lag Schnee. Die Zeit wurde ihm nicht lang. Seine Gedanken liefen dem Zug voran. Die Wochen vor der Abreise waren voll Unruhe gewesen. Nun war er plötzlich in dieser Spanne allein, zwischen zwei Leben, konnte endlich über alles nachdenken, sich sammeln. Sein Herz war zum Zerspringen voll.

So kam der Abend. Jemand sagte: »Salzburg«. Stadt und Berge waren dicht verschleiert. Es regnete. Der Platz vor dem Bahnhof war dunkel. Im unbestimmten Licht weniger Laternen sah Reinhardt Menschen mit Regenschirmen und Regenfleck. Man wies ihn zur Pferdebahn. So zog er ein in die Stadt, von der Alexander von Humboldt sagte, dass sie neben Neapel und Konstantinopel die schönste der Welt sei. Die Pferdebahnfahrt schien ihm länger als die Eisenbahnreise. Vielleicht sah er durch angelaufene Scheiben einen Augenblick lang etwas vom Mirabellschloss, vielleicht am Makartplatz sogar von ferne das Theater, dem er so ungeduldig zustrebte. Dann ging es durch eine enge Straße endlich einem belebteren Platz zu, der in die Brücke mündet, die zwei Stadtteile verbindet. Hier musste er aussteigen. Vor ihm ragte ein uraltes Haus, der Gasthof Zum Stein, den man ihm empfohlen hatte. Freundliche Wirtsleute wiesen ihn über steile Steintreppen hinauf zu seinem Zimmer. Die Einrichtung des langen einfenstrigen Raumes war denkbar einfach: Bett, Schrank, Tisch, ein Waschtisch mit Krug und Wasserbecken. Er trat ans Fenster. Da strömte die Salzach vorbei, ein gelbaufgeregter Strom. Vom gegenüberliegenden Ufer schauten die Türme der Kirchen herüber, über der Festung hingen schwarzblaue, regenschwere Wolken. Es hielt ihn nicht im Zimmer. Hinter dem Gasthof führten enge Gassen bergaufwärts. Ahnungsvoll kam das Abendläuten von allen Kirchen der Stadt. Er sah zwischen dunklen Mauern die schönen Bäume an der Salzach. Es hatte zu regnen aufgehört. Als er zum Abendessen in den Gasthof zurückkam, fand er eine Botschaft des Theaters vor: er solle sich am nächsten Morgen zur Probe einfinden. Die Wirtsleute setzten sich an seinen Tisch. Von freundlicher Neugierde getrieben, verwickelten sie ihn in ein Gespräch und versuchten, Näheres über ihn zu erfahren. Das Essen war einfach, aber schmackhaft, die Wirtsstube gemütlich. Später wies ihm dann das flackernde Licht einer Kerze den Weg in sein Zimmer.

Als er früh aus einem tiefen Schlaf erwachte, hörte er vor allem das Rauschen der Salzach unter seinem Fenster. Ein wilder Fluss, der jeder Schifffahrt widerstrebt und die Stadt oft überschwemmt. Es war trüb, aber es regnete nicht mehr. Am Salzachufer schrien die Möwen. Menschen hasteten über die Brücke zum Rathaus hinüber. Das Theater war nur wenige Minuten vom Gasthof Zum Stein entfernt. Reinhardt konnte das neue Gebäude, dem er zustrebte, schon von weitem sehen.

Das alte k. k. Theater aus dem Jahr 1775 hatte 1892 dem Helmer- und Fellner-Bau weichen müssen. Unzerstörbar haftete trotzdem an dieser Stätte die Erinnerung an eine ruhmreiche Vergangenheit. Hier waren Ende des 18. Jahrhunderts Werke zeitgenössischer Dichter, Lessing, Goethe, Schiller, und auch Mozarts Opern aufgeführt worden. Shakespeares Lear und Tiecks Genoveva, Komödien von Iffland und Kotzebue standen im Repertoire. Emanuel Schikaneder kam mit seiner Truppe. Unter der Direktion Anton C. Lechner ward schließlich das alte Gebäude niedergerissen, und nun sollte das neue Haus am 1. Oktober 1893 mit einer Aufführung von Ludwig Fuldas Märchenstück Der Talisman eröffnet werden. Ein damals vielgespieltes, umstrittenes Werk: es war in diesem Jahr für den staatlichen Schillerpreis vorgeschlagen worden, aber Wilhelm II. hatte sich geweigert, dieser Ehrung seine Zustimmung zu geben. Es war in diesem Stück zu vieles, das wilhelminische Verlogenheit geißelte. Im Wiener Burgtheater wurde es 1892 aus Zensurgründen während der Proben abgesetzt.

Direktor Lechner, ein aufrechter, fortschrittlich gesinnter Mann, führte Regie bei seinem Eröffnungsstück Dem jungen Reinhardt hatte er für sein erstes Auftreten in Salzburg die Rolle des Oberfeldherrn Berengar zugeteilt. Es war keine große Rolle, aber die wenigen Szenen, in denen dieser Verschwörer auftrat, waren effektvoll und wichtig. Reinhardt war sich dessen bewusst, dass es nur ein Auftakt war und dass die Spielzeit ihm andere Aufgaben bescheren würde. So ging er an diesem Morgen mit größter Zuversicht und Vorfreude in das neue Haus. Alles spiegelte und glänzte verheißungsvoll. Gold dominierte in den barocken Verzierungen des Zuschauerraumes und Foyers und hob, zusammen mit dem Weiß der Stukkaturen, das festliche Rot der gepolsterten Sitze, der Teppiche und Wandbespannungen. Die Bühneneinrichtung war modern.

Vorbereitungen für die Eröffnungsfeier waren in vollem Gange. Ein Fest-prolog und die Ouvertüre zu Titus von Mozart sollten der Vorstellung vorangehen. Die erste Talisman-Probe war für den nächsten Morgen angesetzt. Reinhardt lernte in seinem Direktor einen ausgesprochenen Kavalier kennen, dem er bis an sein Lebensende ein gutes Andenken bewahrte und von dem er noch nach vielen Jahren immer mit Verehrung sprach.

Als Reinhardt am folgenden Tag aus der Probe kam, schien die Sonne. Über der Salzach drüben lockte der Mönchsberg. Er fuhr mit dem Aufzug hinauf. Zum ersten Mal wurde ihm die ganze Herrlichkeit dieser Landschaft offenbar. Da war tief unter ihm die liebliche Stadt mit den vielen Türmen, mit den südlich flachen Dächern, Nonnberg, Gaisberg, Kapuzinerberg, die Festung, vom Untersberg überragt, die Bergkette zum Hohen Göll hinüber und im feinen Dunst darunter das flache Land. In diesem flachen Land lag ein See, dominiert von einem großen Schloss. Max Reinhardt ahnte damals nicht, dass dieses Schloss ihm einmal gehören, dass er dort zwei Jahrzehnte lang Gäste aus der ganzen Welt empfangen würde und dass der Weltruf der Stadt, auf die er hinabsah, von ihm begründet werden sollte. Und selbst hätte er es gewusst, es hätte ihn nicht glücklicher machen können, als er in diesen Stunden war. Die sanften Mönchsbergwiesen lagen in der warmen Herbstsonne wie ein Teppich vor ihm, Käfer summten, Schmetterlinge ließen sich vom Wind über das Gras tragen, durch die hohen Bäume in den Mulden zog manchmal wie ein Seufzer ein Windeswehen, und sein eigenes Herz schlug im Takt mit dieser herrlich schmetternden Ouvertüre zum Glück der Jugend, das so plötzlich über ihn hereingebrochen war.

Die Eröffnung des Theaters ging glanzvoll vorüber. Reinhardt berichtete darüber in einem Brief, den er zwei Tage nach der Premiere an seinen Onkel nach Wien schrieb:

Lieber Onkel! Heute morgens erhielt ich Dein l. Schreiben und inliegende F 15.–. Meinen herzlichsten Dank für Deine Bemühungen. Das Geld kam mir sehr zu Guten, da ich davon meinen Zins und Frühstück für das laufende Monat voraus bezahlen kann, ohne daß ich mir Vorschuß hiezu zu nehmen brauche.

Ich habe ungemein viel zu thun, da ich diese Woche noch zwei große neue Rollen zu spielen habe. Ich werde sogar einen Theil der Nacht opfern müssen, um alles bewältigen zu können. Die erste Vorstellung ist glücklich vorüber. Trotzdem ich in derselben keine hervorragende Rolle spielte, bin ich doch in den hiesigen Blättern lobend erwähnt. Nun habe ich täglich von 9 - 12 – ein oder zwei Proben und nur die wenigen Nachmittagsstunden zum Lernen. Direction und Regie sind mit meinem Können zufrieden. Beweis dessen bekam ich schon mehrere große Rollen zugetheilt. Sobald ich größere Recensionen bekomme, werde ich sie Dir, lieber Onkel, einsenden. Von Deinem l. Bruder habe ich noch nichts bekommen. Glücklicherweise habe ich die Sachen bis dato noch nicht gebraucht, da ich in dem morgigen Lustspiel nicht beschäftigt bin. Sonst wäre ich schon in großer Verlegenheit gewesen.

Sobald ich wieder ein bißchen aufathmen kann, werde ich den Herren Böhm und Wengraf brieflich meinen Dank sagen und letzterem wenn es mir nur halbwegs möglich ist die F 20.– retournieren. Momentan habe ich so viel zu thun, daß ich kaum dazu komme, meinen Eltern zu schreiben.

Indem ich Dir nochmals für alles was Du für mich gethan hast vielmals danke, grüße ich Dich sowie Tante Lollo herzliehst und verbleibe Euer dankbarer Neffe

Max

Es sollte noch einige Zeit dauern, ehe Reinhardt aller Geldsorgen ledig war. Er sah sich gezwungen, seinen Onkel abermals um Hilfe zu bitten.

3. 11. 1893

Lieber Onkel!

Einige freie Minuten meiner äußerst karg bemessenen Zeit benütze ich, um Dir l. Onkel zu schreiben. Ich habe ungemein viel zu thun. Gegenwärtig gastiert hier Friedrich Mitterwurzer in Wallensteins Tod, Hüttenbesitzer und Raub der Sabinerinnen. Ich spielte die entsprechenden Characterrollen mit schönem Erfolge. Ich habe überhaupt schon einige schöne Erfolge zu verzeichnen und sandte auch einige Recensionen meinen l. Eltern, die sie Dir doch gewiß gezeigt haben, da ich sie darum bat.

Deinem l. Bruder sende ich von der ersten Monatsgage F 5.–. Ich habe mir dieses Monat sehr viel anzuschaffen. So mußte ich mir allein an Fußbekleidungen schon für die erste Comödie griechische Sandalen zu F 4. – für Stuart Sammtschuhe F 3.50 für modernes Lust- und Schauspiel Lackschuhe für F 7.50 u. Lackstulpen F 2.50 anschaffen. Für Wallensteins Tod hätte ich gelbe Ritterstiefel gebraucht, die mindestens F 12. – gekostet hätten.

Glücklicherweise gelang es mir ein Paar auszuborgen, indem ich unserem Garderobier ein entspr. Douceur gab. Wenn man eben wie ich jeder Ausstattung bar ist, so ist das begreiflicherweise eine schwere Wirtschaft.

Fast zu jedem Stücke brauche ich diverse Gegenstände, die ich mir eben successive anschaffen muß. Daß ich Frack und Salonrock habe, ist ein unschätzbares Glück. Glücklicherweise hatte ich dieses Monat ziemlich oft, auch manchmal durch die besondere Protection des Directors, in den Operetten kleine Sprechpartien zu spielen, so daß ich mir immerhin viele Honorare verdiente, so daß ich mir alles Nothwendige anschaffen konnte u. was die Hauptsache ist, gleich bezahlen konnte, so daß ich keinen Kreuzer schuldig bin. Im Gasthaus bezahle ich ebenfalls täglich u. sofort.

Wenn ich mir nicht zu viel Neues mehr anschaffen muß, könnte ich wohl später mehr als F 5. – pro Monat entbehren, da ich sehr sparsam u. zurückgezogen lebe. Aber ich mußte eben zum Mindesten was moderne Garderobe anbelangt vollständig versehen sein. Denn mit Frackanzug u. Salonrock allein kann ich unmöglich die ganze Saison auskommen. Eins zwei moderne Anzüge brauche ich dringendst, vor allem aber einen Winterrock. Wenn mir nun Dein l. Bruder das nicht verschaffen kann, müßte ich mich notgedrungen noch anderweitig engagieren, was allerdings auf meine Finanzen nichts weniger als vorteilhaft wirken würde. Der Winter soll hier sehr strenge sein, und er steht vor der Thüre. Wenn Du, l. Onkel, mit Deinem Bruder Rücksprache nehmen wolltest u. mir baldigst darüber berichten würdest, wäre ich Dir sehr dankbar dafür. Sonst – insbesondere in künstlerischer Beziehung habe ich allen Anlaß zufrieden zu sein. Ich bekomme auch große und schöne Rollen, die sonst einem Anfänger nicht anvertraut werden. So spiele ich Sonntag den alten Miller, Dienstag den Wurzelsepp im Pfarrer von Kirchfeld (eine schöne aber ungemein schwierige Rolle, der ich jedenfalls wieder Nächte opfern werde müssen, da die Zeit kurz ist und ich ja all diese Rollen ganz neu studieren muß). Und Freitag spiele ich zur Schillerfeier den Attinghausen im Tell. Für den Wurzelsepp brauche ich schon beispielsweise wieder Einiges. Derbe Bergstiefel, Wadenstutzen, Bauernhemd u. Bergstrümpfe. So kommt eben eine Auslage nach der andern, was in der ersten Zeit eben nicht zu vermeiden ist.

In zwei Wiener Blättern Fremdenblatt & Tagblatt standen auch schon zwei Notizen über meine hiesigen Erfolge. Hast Du sie vielleicht gelesen? Die Direction ist sehr zufrieden mit mir. Schon meine Beschäftigung spricht dafür. Auch seitens des Publikums und der hiesigen Presse, die z.B. schon zwei meiner Collegen bis jetzt unmöglich gemacht, erfreue ich mich der beifälligsten Aufnahme. Gott schenke mir auch weiterhin Glück.

Die Sendung der Leibchen Hosen Taschent. etc. habe ich erhalten u. danke Dir vielmals. Es sind sehr schöne u. praktische Sachen, die mir vortrefflich zu Statten kommen.

Für heute lebe wohl und grüße mir herzlichst Tante Lolli.

Dein dankbarer Neffe Max

Verzeihe mein Geschmiere, die Zeit drängt, ich muß schon ins Theater.

D.O.

Das Repertoire des Salzburger Stadttheaters war in dieser ersten Spielzeit im neuen Hause sehr vielfältig. Max Reinhardt spielte alle ersten Rollen, in klassischen Stücken und zeitgenössischen Dramen. Er spielte den Oberstleutnant Schwartze in Heimat, den Musikus Miller in Kabale und Liebe, den Geßler in Wilhelm Tell und viele Rollen von Rudolf Tyrolt, meistens alte Herren. Aber auch in Dialektstücken – G’wissenswurm, s’Nullerl – und in Operetten.

Seine Kameraden waren junge Menschen. Bald fand er unter ihnen Freunde: ein jugendlicher Komiker, Anfänger, heiter, optimistisch; der andere, etwas älter, Held und Liebhaber, ein Pessimist. Am Abend, nach der Vorstellung, gingen sie zusammen ins Wirtshaus. Die Tage waren mit Proben und Lernen von Rollen ausgefüllt. Oft wurde die Zeit zu kurz, dann musste Reinhardt die Nacht zu Hilfe nehmen. Er ging in dem langen Zimmer auf und ab. Vor seinem Fenster stand die Nacht und immer, wie ein Orgelpunkt, tief unten das Rauschen der Salzach. Es war eine wundervolle Zeit, und Reinhardt hat oft gesagt, dass er in seinem ganzen Leben nie wieder so glücklich gewesen sei. Alles war neu: das Theater, der Beruf, die Menschen, die Umgebung. Die Zeit verging im Flug.

Auf den farbigen Herbst folgte zu Weihnachten tiefer Schnee. Reinhardt fuhr mit seinen Freunden im Schlitten nach Freilassing, wo sie das berühmte schwarze Bier tranken. Sie sahen Krippenspiele in der Stadt, hörten die wundervollen Chöre in den Kirchen, vor allem die gregorianischen Gesänge und die Hörnermusik auf dem Nonnberg, die freudigen Mozartmessen in St. Peter, das Blasen von den Türmen. Reinhardt sah zum ersten Mal die schlanke Pracht der Franziskanerkirche. 25 Jahre später plante er dort ein Weihnachtsspiel. Er verfiel dem Zauber der dunklen Straßen, durch die am Weihnachtsabend die Schritte der Gläubigen hallten, die zur Mitternachtsmette eilten, aus dem Schatten barocker Voluten in die jubelnde Kerzenpracht der Kirchen. Reinhardt sah auch noch die alten Tore der Stadt, die kurze Zeit nachher abgerissen wurden. Eine reiche Vergangenheit schaute aus jedem Haus, aus den Höfen, den Gittern, mittelalterlichem Gemäuer und Brunnen. Dazwischen aber strömte eine lebendige Gegenwart. Bauern in ihren malerischen Trachten kamen auf die Märkte, die alteingesessenen Bürger führten ihr behagliches Leben, hatten immer Zeit für Kaffeehaus, Bräu und Geselligkeit. Noch in späten Jahren hat Reinhardt ein »Sprüchel« über den typischen alten Salzburger zitiert, das er wohl damals gehört haben mag: » … Schau i zum Fenster ’naus, schau ob i wem siach, geh a bissl spazier’n, schau ob i wem triff, geh ins Kaffeehaus, ob’s was Neu’s gibt, Trinkgeld im Wirtshaus, trink meine zwei Glas’ln, geh z’haus – und doch bin i net glücklich…«

Reinhardt verkehrte im Haus des Hofbuchhändlers Kerber. Man traf sich dort nach dem Essen zum Kaffee. In diesem alt-österreichischen Milieu fand er einen Kreis geistig reger Menschen, hörte Kammermusik und genoss eine warme Gastfreundschaft. Zwei Kaffeehäuser – Tomaselli und Bazar – hatten schon damals ihr Stammpublikum, das scharf voneinander geschieden war: Schauspieler, Literaten, Künstler, Buchhändler und der pockennarbige gefürchtete Kritiker Ritter von Freisauff trafen sich im Cafe Bazar, während Salzburger Bürger das Tomaselli bevorzugten. Reinhardt ging mit seinen Freunden Max Marx und Berthold Held ins Cafe Bazar, das nur wenige Schritte vom Theater entfernt war.

Die Spielzeit in Salzburg endete am Palmsonntag. Während des Winters hatten auch verschiedene prominente Schauspieler im Stadttheater gastiert, darunter Friedrich Mitterwurzer in Paul Lindaus Stück Der Andere. Mitterwurzer war ein Riese mit erschreckenden blauen Augen. Reinhardt, der ihn maßlos bewunderte, musste ihn hypnotisieren! Er hatte große Angst vor ihm, aber Mitterwurzer hatte dafür Verständnis und kam ihm besonders freundlich entgegen.

Reinhardts Erfolge waren damals so groß, dass seine Freunde ihm rieten, in Österreich zu bleiben und nicht nach Berlin zu gehen. Er selbst war so selig in Salzburg, dass er am liebsten dort geblieben wäre. Aber Brahm kam kurz vor dem Ende der Spielzeit aus Berlin nach Salzburg. Direktor Lechner setzte alle Starrollen Reinhardts an. Brahm wohnte mit dem jungen Dichter und Dramaturgen Georg Hirschfeld im Österreichischen Hof. Reinhardt suchte ihn auf, sprach mit ihm und sagte ihm ehrlich, dass er nicht von Salzburg fortgehen wolle. Davon wollte aber Brahm nichts hören. Er strich die einseitige Kündigungsklausel (von seiner Seite) in Reinhardts Vertrag, erhöhte seine Gage, und so blieb Reinhardt schließlich nichts anderes übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen.

Reinhardt sollte sein Engagement in Berlin erst im August antreten. Er beschloss, vorher noch einmal nach Wien zu fahren. Es fiel ihm schwer, sich in diese Stadt wieder einzuleben. Er hatte in Salzburg Wurzeln geschlagen, dort hatte er die ersten entscheidenden Erfolge errungen, dort war ein Freundeskreis, dem er sich verbunden fühlte, und er war in das Salzkammergut verliebt. So schrieb er schon nach kurzer Zeit aus Wien an Berthold Held:

Wenn Du bei Salzburg etwas finden würdest, wo sich’s gut und billig leben ließe – (irgendein Bauernhaus etwa) so würde sich vielleicht noch etwas aushecken lassen, auf 14 Tage 3 Wochen behufs Exkursionen ins ganze Salzkammergut. Es würde mir hier sogar an Gesellschaftern nicht fehlen. Die Sache müsste nur billig arrangiert sein.

Reinhardt war in dieser Zeit fast täglich mit seinem alten Freund Dr. med. Sigmund Schick zusammen, der seinen Urlaub im Salzburgischen zubringen wollte: » … ein hochgebildeter Mensch mit selten schönen Charaktereigenschaften und einem enormen tiefen Wissen«. Die Salzburger Reise kam nicht zustande, Reinhardt war aber trotzdem »momentan ganz zufrieden«. Dr. Schick hatte ihn dazu angeregt, die Vorlesungen des Psychiaters Krafft-Ebing zu besuchen. Der praktische Teil – die Vorführung von Patienten – war für Reinhardt natürlich vor allem vom Standpunkt des Schauspielers aus interessant. Ihn fesselte aber auch das Theoretische; er las einschlägige Werke, und lange Gespräche mit seinem Freund Schick erschlossen ihm Gebiete, die ihm bis dahin vollkommen fremd gewesen waren. Sein intuitives Wissen um die Psychologie des Menschen, das ihm selbst in hohem Maße eignete, wurde zweifellos in dieser Zeit erweitert und bereichert. Dieses Sommer-Semester bei Krafft-Ebing bedeutete für ihn ein starkes Erlebnis. Vieles in seinen Inszenierungen späterer Jahre – Gespenster, Woyzeck, Strindbergstücke – wurzelt darin.

Die Abende gehörten dem Theater. In einer Zeit, die Reinhardt später als »die mooslose, die schreckliche Zeit« charakterisierte, war er auf Freikarten angewiesen. Aber sogar diese wurden ihm zu seinem Schmerz manchmal verweigert. Schließlich legte er seinem Ansuchen seinen Berliner Kontrakt bei, worauf es ihm gnädigst (von Müller-Guttenbrunn) gewährt wurde. Er sah Mitterwurzer, Schöne, Baumeister, Sonnenthal, die Niese in Anzengrubers Pfarrer von Kirchfeld und zuletzt eine Wohltätigkeits-Aufführung von Gutzkows Uriel Acosta im Rudolfsheimer Theater, in der Schildkraut den Ben Akiba spielte. Reinhardt schrieb darüber an seinen Freund Held:

Rudolfsheim strahlte. Das bißchen Sonne, das die hohen Gäste vom Raimundtheater mitbrachten, tat dem alten Kasten und mir, der ihn lieb gewonnen, wohl. Es waren schöne Zeiten auch, die ich draußen erlebte.

Vor seiner Abreise nach Berlin ging Reinhardt aber noch mit seinen beiden Freunden Held und Marx auf eine Tournee – die erste seines Lebens – in die Umgebung von Salzburg: Hallein, Golling, Berchtesgaden, Tittmoning. Sie spielten auf Teilung, stolz ihre Unabhängigkeit genießend.



Подняться наверх