Читать книгу "...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen." - Gusti Adler - Страница 5

Kindheit

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Max Reinhardt wurde am 9· September 1873 in Baden bei Wien geboren. Seine Eltern, der Kaufmann Wilhelm Goldmann und seine Frau Rosa, waren jung: der Vater 27 Jahre, die Mutter 22 Jahre alt. Sie verbrachten die Ferien des Jahres 1873 in Baden, einem kleinen Kurort in der Nähe von Wien, wo die Hitze der Sommermonate weniger fühlbar war. Eingebettet in Weinhügeln lag die Stadt mit ihren einstöckigen gelbgetünchten Häusern, ihren Gartenhöfen, dem Kurpark mit seinem Musikpavillon und dem alten Kurhaus. Max Reinhardt hat dem josefinischen Zauber seines Geburtsortes viele Jahre später in seiner Fledermaus-Inszenierung ein Denkmal gesetzt.

Goldmanns lebten in Wien. Reinhardt nahm dieses Wien, in dem er seine Jugend verbrachte, mit allen Sinnen auf: in Musik, Farbe, Tanz, jahrhundertealtem Prunk und einer Fröhlichkeit des täglichen Lebens, die, getragen von den Walzern, die Strauß dazu komponierte, alles beschwingte.

Das Kind hörte noch die melodischen Rufe der Straßenhändler – ob es nun Lavendelfrauen, Lumpensammler, Scherenschleifer, Maronibrater oder Würstelhändler waren. Es gab kaum einen Hof, aus dem nicht die zitternden Töne des alten »Werkel« ertönten. Einzigartig waren die Volkssänger, in denen die Kunst der improvisierenden Komödianten weiterlebte. Sie sangen populäre Lieder, meist im Dialekt. Die Burgmusik zog mit klingendem Spiel vorbei, begleitet von Kindern und schaulustigen Wienern.

Zu den frühesten Erinnerungen Max Reinhardts gehörte der Balkon der Goldmannschen Wohnung in der Schönbrunner Straße 22 (heute Mariahilferstraße 150). Wie aus einer Theaterloge konnte man von dort aus die wunderbarsten Aufzüge von Hofwagen und Equipagen beobachten. Der Kaiser und seine Hofleute fuhren vorbei, auf dem Wege nach Schönbrunn. Da sah man die Burggendarmen mit fliegenden Federbüschen, die ungarische Leibgarde mit ihren Pantherfellen, Hochzeitszüge und Prozessionen, vor allem aber die Fronleichnams-Prozession, die dem Kinde einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ. Zu Pfingsten dann die Firmlingswagen, flieder- und maiglöckerlgeschmückt, von eleganten Schimmeln gezogen. All das rauschte hier vorbei, den Kindern zur Freude. Denn Max und sein jüngerer Bruder Edmund hatten diesen Balkon zu ihrem liebsten Spielwinkel gemacht. Dort war eine Geborgenheit, in der man spielen konnte. Nicht nur im Sommer. Geheimnisvoller noch im Winter, wenn der Balkon verschalt war und dichter Schnee auf den Brettern lag. Gedämpft drang dann der Lärm der Straße, das Trappeln der Pferde auf dem Granitpflaster, das Rollen schweren Fuhrwerks im Schnee, herauf. Und einmal, ein unvergesslicher Eindruck: Fackeln. Straßenarbeiter gruben im flackernden Licht einen tiefen Schacht. Dieses Schauspiel versetzte das Kind Max in helle Aufregung. Weder Bitten noch Drohungen waren imstande, ihn vom Balkon hereinzulocken.

Max liebte Edmund über alles. Er selbst war schweigsam, Edmund sprach überhaupt kaum. Zwei stille scheue Kinder. Aber sie verstanden einander und spielten zusammen Theater. Zuerst Puppentheater: Kinderstücke, Das tapfere Schneiderlein und andere Märchenspiele. Schließlich aber spielten sie selbst, in selbstgemachten Kostümen. Die Mutter Max Reinhardts hat noch im späten Alter erzählt, wie sie ihn, den verschlossenen Jungen, der fast nichts sprach, bei einem Spiegel überraschte, vor dem er agierte und deklamierte. Die Vorfreude am Herstellen der Kostüme und Dekorationen war zum mindesten ebenso groß wie das Beglückende der Aufführungen.

Es war eine verträumte, beseligende Zeit. Nur Klavierstunden, die zur damaligen Erziehung gehörten, bedeuteten eine unliebsame Unterbrechung. Max hat es im Klavierspielen nie weit gebracht, so groß seine Freude an Musik in seinem späteren Leben war. Damals beglückten ihn die Spiele mit seinem Bruder und Bücher, die ihm unausdenkbare Wunder offenbarten.

Die Schule zerstörte dieses Paradies. Eintönigkeit, Zwang, Strenge, keine Spiele, geschweige denn Theater! Zu dieser Zeit gab es keinen Sport, nur anstrengendes, freudloses Turnen in einem Saal, dessen Geräte zu Folterinstrumenten für das Kind wurden.

Trotzdem gab es selbst in diesen Jahren Lichtblicke. In der vollkommen theaterfremden Familie war eine Tante, die Schwester von Reinhardts Mutter, die das Theater liebte. Sie lebte in Brünn. Wenn Max und Edmund mit ihren Eltern sie dort besuchten, wurden sie abwechselnd ins Theater mitgenommen. Der Stammsitz der Tante war neben einer Säule, und dadurch war etwas Raum da für ein Kind, das dort neben ihr stehen konnte.

Rot und gold schimmert der Zuschauerraum. Es riecht nach Theater. Das Summen der vielen Menschen – die Klingelzeichen – die zögernde Stille – der geschlossene Vorhang – das langsame Dunkelwerden – die überwältigende Seligkeit der Erwartung – das klopfende Herz – und dann Licht, Erfüllung – das Spiel! Zum ersten Mal wirkliches Theater! Ein entscheidendes Erlebnis in dieser Kindheit – eine Brücke in die Zukunft.

Noch ein Ereignis fällt in diese Brünner Zeit. Den Kindern ist in der Kleinstadt mehr Freiheit gegeben. Sie geraten in die Nähe des Theaters, das sie unwiderstehlich anzieht, selbst wenn es geschlossen ist. An dem einen, dem schicksalsschweren Tag aber ist eine Türe offen. Eine Gruppe ernster Männer – vermutlich der Bürgermeister und andere Amtspersonen –, eine Kommission, hat sich bei diesem Eingang versammelt, um einen Inspektionsgang durch das neuerbaute Theater zu machen. Max und Edmund schließen sich an. Ihre Schüchternheit weicht dem übergroßen Wunsch, das Innere des Theaters zu sehen. Niemand beachtet die beiden Kinder, die ernst und interessiert den Besprechungen zuhören. Man vermutet wohl ihren Vater in einem der Beamten. So sehen Max und Edmund zum ersten Mal ein Theater vom tiefsten Keller bis auf den höchsten Schnürboden, Bühne und Zuschauerraum, Garderoben und Foyer. Für die Kinder ist es eine Offenbarung, von der Edmund Reinhardt noch am Ende seines Lebens ergriffen spricht. Der erste unabhängige Schritt. Zusammen. Was sie hier gemeinsam erleben, gräbt sich unauslöschlich in ihre leidenschaftlich empfänglichen Kinderseelen. In dieser Sternstunde wurde der Keimsamen für alles Künftige in sie versenkt. Er sollte viele Jahre später aufgehen und einzigartige Früchte tragen. Ein Vorhang hat sich gelüftet, etwas zog vorüber wie ein Traum – in ahnungsvoller Ferne.

Nur zu schnell hatte sich der Vorhang wieder geschlossen, und es sollte lange dauern, ehe er wieder aufgehen würde. Eine freudlose Schulzeit, quälend für ein phantasievolles Kind, zog sich durch die nächsten Jahre.

Max war der älteste von sieben Geschwistern. Die Verwandten seiner Mutter, sein Vater und dessen Brüder: alle waren wohlhabende Geschäftsleute. Viele Jahre hindurch hatten sie ein behagliches, sorgloses Bürgerdasein geführt. Nach 1870 geriet Österreich in finanzielle Krisen, die sich in dem Schicksal jedes einzelnen auswirkten. Infolge des Börsenkraches vom 9· Mai 1873 musste auch die Firma von Max Reinhardts Vater Konkurs anmelden. Man sah sich zu Einschränkungen gezwungen. Wilhelm Goldmann blickte sorgenvoll in die Zukunft. Vor allem galt es nun für seinen ältesten Sohn, nach Beendigung der Schulzeit einen Beruf zu finden. Es erschien ihm als ein großer Glücksfall, dass er Max in einer Bank unterbringen konnte. Diese Lehrzeit gehört wohl zu den härtesten Prüfungen, die Reinhardt je auferlegt wurden. Schwer lasteten auf ihm die Hoffnungen, die sein Vater in ihn setzte. Er liebte seinen Vater, die bedrängte Lage der Familie war ihm bewusst, aber die Leere dieser Tage war tödlich. Um diese Zeit hatte er das Theater entdeckt, und der Wunsch, selbst Schauspieler zu werden, beherrschte ihn. Er hat beschrieben, wie er seiner selbst zum ersten Mal bewusst wurde:

Ich war ein stiller, sehr scheuer Bub. An das erste Mal, wo ich, fast unbewußt, »aus mir herausging«, erinnere ich mich genau. Ich war auf einem Sängerfest im Prater – natürlich auf der Galerie. Plötzlich erschien der alte Kaiser. Der ganze Saal tobte und schrie vor Begeisterung. Und plötzlich, völlig erstaunt, hörte ich mich mitschreien und mitjubeln, hingerissen von der allgemeinen Aufregung und gänzlich ohne jede Scheu.

Er begann nun, soweit sein bescheidenes Einkommen es ihm erlaubte, auf Stehplätze ins Theater zu gehen. Er studierte Rollen, in einer Einsamkeit, die ihn erstickte. Ein Schauspieler ohne Zuschauer, ohne Echo … So war er, kaum der Schule entwachsen, in entscheidenden Jahren seiner Entwicklung, gehemmt, in eine Umgebung gezwängt, die ihm wesensfremd war, deren Plattheit ihn anwiderte, nicht imstande, die Pflichten, die ihm auferlegt waren, zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten zu erfüllen. Man beklagte sich über seine Zerstreutheit, sein verträumtes Wesen.

Der Familie Max Reinhardts war das Theater so fern wie der Mond. Sie wussten zwar, dass es aufleuchtet, wenn die Sonne untergeht – aber das war auch alles. Trotzdem waren sie geborene Zuschauer. Sein Vater, ein äußerst stiller Mensch, konnte wunderbar lachen. Er war sehr beliebt, wie alle guten Zuhörer. Die stärkste Persönlichkeit in diesem großen Familienkreis von Onkeln, Tanten, Nichten und Neffen war wohl Reinhardts Großvater. Er war überaus fromm, beinahe orthodox, und von einer einzigartigen ewigen Heiterkeit. Er betete immer. Wenn die Kinder zu ihm kamen, segnete er sie. Dabei war er völlig ausgeglichen und voll Humor. Fasttage waren für ihn strengstes Gesetz. Niemals aß er auswärts, selbst nicht bei seiner engsten Familie. Er wurde 98 Jahre alt, bis zu seinem Tode von seiner Tochter Julie betreut. Ihr Wesen war dem seinen diametral entgegengesetzt. Sie war in dieser stillen Familie die einzige, die vollkommen aus dem Rahmen fiel: ein Feuerbrand, eine Ekstatikerin. Ihre Reaktion auf kleinste Ereignisse war immer hochdramatisch. Sie war in ihrem Schmerz und in ihrer Freude höchster Steigerungen fähig. Sie war es auch, die seherhaft das Genie ihres Neffen Max erkannt und ihm die Erlaubnis seines Vaters erwirkt hatte, ihn Schauspieler werden zu lassen.

Bis in ihr hohes Alter zehrte sie noch an der stolzen Freude über diese Tat und erzählte immer wieder, mit der Dramatik, die ihr eignete, wie sich dieses Ereignis abgespielt hatte: Eines Tages begegnete sie ihrem Bruder Wilhelm, Reinhardts Vater, in der Alser Straße. Mit gesenktem Haupt ging er an ihr vorbei, ohne sie zu sehen. Sie hielt ihn an und fragte: »Was fehlt dir denn? Zählst du die Pflastersteine?« »Max macht mir Sorge«, erwiderte er. »Man ist unzufrieden mit ihm. Er ist zerstreut und lustlos bei seiner Arbeit.« Seine Schwester sagte: »Lass mich mit ihm sprechen.«

So kam es zu dieser Unterredung in der Wohnung der Eltern. Auf ihre Frage, was ihn bedrücke, antwortete Max: »Tante Julie, ich will Schauspieler werden.« Er gestand ihr auch, dass er schon seit einiger Zeit heimlich lerne.

»Willst du mir etwas vorsprechen?« Da habe sich Max, den sie immer nur als schüchternen, verschlossenen Jungen gekannt hatte, mit einem Schlag verändert: er stand vor ihr, mit blitzenden Augen, und eine Stimme, die sie noch nie gehört hatte, sprach aus ihm mit einer Leidenschaft, die sie erschütterte. Vergessen war alles: seine Zurückhaltung, sein bedrücktes Wesen. Marc Antons Rede füllte die Enge des Zimmers – sie wurde zu einer Fanfare, die ein Schicksal entschied. Tante Julie, deren Feuergeist ihm so nahe war, umarmte ihn. Vater und Großvater hatten im Nebenzimmer, das nur durch einen Vorhang getrennt war, zuerst erschrocken, dann ergriffen zugehört.

Reinhardts Vater ließ sich nun durch seine Schwester überzeugen, dass Max Schauspieler werden müsse. Max Reinhardt hat ihr das nie vergessen. Er hat sie bis zu ihrem Tode erhalten und immer getrachtet, ihr über schwere Zeiten, Krankheit und Wohnungsnot hinwegzuhelfen. Ihr Verständnis für ihn in seinen Jugendjahren entsprang wohl einer latenten schauspielerischen Begabung, die ihr angeboren war. Max Reinhardt hat oft darüber gesprochen und darin etwas gesehen, das ihm im tiefsten verwandt war. In zahllosen Briefen, die er im Abreisetrubel, vom Zuge oder vom Schiff aus schrieb, kehrt, mitten in grundlegenden Plänen für die nächste Saison, für Gastspiele und Verhandlungen, die Ermahnung immer wieder, sich während seiner Abwesenheit um Tante Julie zu kümmern und über ihr Wohlergehen zu berichten.



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