Читать книгу "...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen." - Gusti Adler - Страница 13

Shakespeare-Zyklus – Deutscher Zyklus –
Probenarbeit

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1916: Shakespeares 300. Todestag. Ein äußerer Anlass für Reinhardts Shakespeare-Zyklus. Seine innerste Andacht zu dem Werke Shakespeares war nicht an ein Datum gebunden. Er hat sie mit glühender Liebe, wie eine nie verlöschende Fackel, sein Leben hindurch bis zu seinem Tode getragen. Vom Sommernachtstraum (1905) angefangen, durch Städte und Länder, auf große und kleinste Bühnen (München), auf Freilichtbühnen (Florenz, Boboli-Gärten; Oxford; Schloss Kleßheim bei Salzburg; Hollywood Bowl), immer lebendig, vertieft mit zunehmenden Jahren, durchleuchtet, in ewigem Fließen wie das Leben selbst.

Im Wilhelminischen Zeitalter hatten die Klassiker, und vor allem Shakespeare, etwas von Herbariumpflanzen. Sorgfältig gepresst, des Lebenssaftes beraubt, vom Publikum mit ehrfürchtiger Langweile betrachtet. Max Reinhardt brachte sie wieder zum Blühen, entriss sie der Gruft, in der sie verdorrt waren. Unter seiner Direktion des Deutschen Theaters allein legen über 2000 Shakespeare-Aufführungen in den ersten 25 Jahren Zeugenschaft dafür ab. Dazu gesellen sich noch zahllose Aufführungen in späteren Jahren und in allen anderen Theatern der Welt, in die er Shakespeares Ruhm trug.

So war der Shakespeare-Zyklus, den er schon 1913 und 1914 begann, nur ein Glied in einer Kette, die längst in seinem Herzen und bei seinem Publikum verankert war. Trotzdem gab es noch immer Steigerungen. Seine Macbeth-Aufführung im Jahre 1916 übertraf alles, was ihr vorangegangen war. Die Fülle der Gestalten zog vorüber, litt, kämpfte und riss Erleben und Begreifen ganz in ihren Kreis. Im Mittelpunkt dieses Kreises, treibend, bewegend, wie giftige Pflanzen, Macbeth und die Lady, hemmungslos, triebhaft. Was Reinhardt hier aus Paul Wegener, Bruno Decarli, Hermine Körner und einem ebenbürtigen Ensemble herausholte, war einmalig. Gleichsam ein Spiel mit lebendigen Schachfiguren, deren Schicksal vom ersten Zuge an vorausbestimmt, mit unerbittlicher Folgerichtigkeit dem vernichtenden Ende zuschritt. Ernst Stern hatte die Dekorationen geschaffen, die in ihrer dunklen Wucht, in ihrem flammenden Rot wie eine stumme Anklage hinter dem Mord standen.

Elf andere Shakespeare-Werke waren Macbeth vorangegangen. Darunter Hamlet, Othello, beide Teile König Heinrich IV., Romeo und Julia, Der Kaufmann von Venedig, Was ihr wollt, Viel Lärm um nichts – alle in Glanzbesetzungen, mit Albert Bassermann, Alexander Moissi, Paul Wegener, Hans Waßmann, Gertrud Eysoldt, Else Heims, Camilla Eibenschütz, um nur einige zu nennen. Reinhardts Ensemble war durch viele Jahre des Zusammenspiels unter seiner Regie wie ein Orchester aufeinander abgestimmt.

Der Spielzeit 1916/17 verlieh Max Reinhardts »Deutscher Zyklus« besonderen Glanz. Den Auftakt gab das Sturm- und Drang-Drama Die Soldaten von Jacob Michael Reinhold Lenz, das mit heißem Atem am Beschauer vorbeijagte. Aneinandergereiht einzelne Szenen, scheinbare Zerrissenheit, der die geschlossenste Einheit zugrunde lag. Vibrierende Vielheit des Lebens in einem Spiegel aufgefangen, zu einem Bild vereinigt. Zahnrädern gleich griffen die Szenen ineinander. Während des Dunkelwerdens, wenn sich die Bühne drehte, legte sich oft nur der Gleichklang der Stimmen wie eine Brücke zwischen sie und führte so zum nächsten Bild hinüber. Die Schauspieler: Hermann Thimig, Camilla Eibenschütz – und Werner Krauß in einer un­vergesslichen Episode. Alles leidenschaftlich, innerlich, Sturm und Drang, und doch so sehr ein Schrei aus unserer Zeit. Einheitlich der Rahmen, der für alle Bilder geschaffen war: zwei Pfeiler, rechts und links, in deren Nischen Armleuchter standen. Von ihrem Strahlen ging eine Ruhe aus, die das Leben, das vorbeizog, nur noch hob. Max Reinhardt hatte mit dieser Inszenierung den Ausdruck für die Sprache einer Zeit gefunden, die in solchem Maße niemals vorher zum Leben erweckt, dem Heute so nahe gebracht worden war. Farben, Licht und Klang! Auferstehung eines Feuergeistes, dem die glättende Zeit nichts anhaben konnte. Kurz darauf folgte Das Leidende Weib von Friedrich Maximilian Klinger, in einer Bearbeitung von Sternheim, mit der Höflich in der Rolle der Gesandtin. Diese Aufführung musste neben der Vollblütigkeit des Stückes von Lenz etwas verblassen, und das Publikum nahm sie nicht gut auf. Dann aber kam Dantons Tod von Georg Büchner, diese Symphonie der Leidenschaften, von Reinhardt sein Leben hindurch immer wieder dirigiert. Das Bühnenbild stammte von Ernst Stern. Steil verloren sich die Reihen des Konvents in einer Art Nebel, aus dem Stimmen in scharfem Kontrapunkt zum Zuschauer drangen. Im Gegensatz dazu das Quartett der Kerkerszene – ein Adagio von unbeschreiblicher Harmonie. Der schnelle Wechsel der Szenen wurde durch Licht ermöglicht, das grell auf einzelne Gestalten und Dekorationen fiel, sie aus der Dunkelheit rings herum heraushob. Hinter allem Geschehen die Revolution, deren Grauen zwei Jahre später Europa zutiefst erschüttern sollte. Kabale und Liebe, Minna von Barnhelm und Judith von Friedrich Hebbel beschlossen den »Deutschen Zyklus«.

Um diese Zeit begann Reinhardt mit den Proben zu Figaros Hochzeit in der Bearbeitung von Josef Kainz. In geschliffener Sprache führt diese Übersetzung von Fuldas süßlicher Fassung fort, zu Beaumarchais’ Zeit zurück. Kainz hatte diese Übersetzung für sich selbst gemacht und mit großem Erfolg gespielt. Max Reinhardt fand in Pallenberg für die Rolle des Figaro einen Darsteller besonderer Art. Dieser Figaro kam aus dem Volk. Mit breiten Gebärden, gleichsam von unten herauf, schleuderte er seine Herausforderung in die Dunkelheit des Hauses, immer wieder geduckt, um dann an seinem eigenen Wort zu wachsen. Ein Anklageschrei – Symbol für die Vielheit eines Volkes, Symbol für die Tat, zu der es sich später zusammenschloss. Pallenbergs Figaro ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass diese Tat schwerblütiger Menschen nicht von Sanftmut diktiert sein würde. Langgenährter Hass der Unterdrückten fand hier eine Stimme.

In diesen frühen Zeiten leitete Max Reinhardt seine Proben von einem kleinen Haus aus, das knapp an der Rampe stand und nur zur Bühne hin offen war. Ein Schreibpult und zwei Stühle fanden darin Platz: für Reinhardt und seinen Hilfsregisseur. Dort, gedeckt, geschützt, wie in einem kleinen Arbeitszimmer, saß der Mensch, in dem sich alle Regungen der einzelnen Gestalten des Dramas wie in einem Brennpunkt fanden. Von dort aus strahlten sie wieder zurück.

Ob nun in Worten, im Tonfall oder in der Gebärde. Plötzlich stand er dann neben dem Schauspieler, ging neben ihm her, schmiedete mit suggestiver Gewalt die Bewegung an das Wort. In ihm war die Wasserwaage für das Gesetz, unter dessen Zwang die Gestalten eines Stückes handeln. Aus dem gegebenen Gemütszustand des einzelnen entwickelte sich ihm selbst noch die kleinste unwillkürliche Bewegung in ihrer scheinbaren Unlogik. Er fühlte den Rhythmus seelischer Vorgänge, der für Betonungen, für Pausen bestimmend ist. Ein Beispiel: der Graf Almaviva ist in das Zimmer der Gräfin eingedrungen. In tödlicher Verlegenheit steht sie vor ihm. Er fühlt, dass er betrogen wird – aber noch fehlt es ihm an Beweisen. Wie benimmt sich ein Mensch in solcher Ungewissheit? Für wenige Augenblicke ist Reinhardt der Graf: ein zweckloser Gang durch das Zimmer, ein absichtsloses Rücken an einem Stuhl, ein zögerndes, tastendes Zurechtstreifen einer Gardine, ein misstrauischer Blick auf den Alkoven – dazwischen, wie zerstreut, abgerissene Worte. Sie stehen gleichsam wie Ausrufungszeichen hinter einer Gedankenkette. Alles selbstverständlich – von nun an nicht mehr leicht anders denkbar. Überzeugend, noch ehe es vom Schauspieler in seine Ausdrucksmöglichkeiten übersetzt wurde.

Oder: Cherubin wird von Susanna aus dem Versteck befreit. Er weiß nicht aus noch ein vor Angst. Sinnloses Hinundherlaufen. Reinhardt steht daneben und steigert. Mit knappen Worten, eindringlich, bis er endlich, selbst mitgerissen, an dem wilden Hasten teilnimmt, bis die Szene die höchste Spannung erreicht hat, ein Tempo, das nicht mehr überboten werden kann. Mit einer überaus charakteristischen, sich immer wiederholenden Wendung ging Reinhardt nach einem solchen Eingreifen in sein Bühnenhäuschen zurück. Er wurde wieder nur Stimme.

In späteren Jahren verzichtete Reinhardt auf die Abgeschlossenheit dieses zerlegbaren Regiehäuschens, das ihn selbst auf Gastspielreisen begleitet hatte. Da stand sein Regietisch auf offener Bühne, auf einem in den Zuschauerraum vorgebauten Podium oder, bei den letzten Proben, in den ersten Parkett­reihen. Es war, als hätte sich im Laufe der Zeit die Atmosphäre, die von ihm ausging, wie eine Aura um ihn verdichtet. Sie wurde ihm zum Schutz, und es bedurfte keiner Wände mehr.

Wenn Max Reinhardt das Theater betrat, seine Ledermappe, in der er das Regiebuch zur Probe brachte, unterm Arm, strebte er in schweigender Konzentration dem Regietisch zu. Jeder Aufenthalt, jede Unterbrechung war ihm unerwünscht. Und doch lauerten Mitarbeiter, Assistenten, Schauspieler auf ihn, um auf diesem kurzen Weg Fragen zu stellen und Mitteilungen zu machen. Wie oft hatte man nur diese wenigen Minuten, zwischen Bühneneingang und Zuschauerraum, um Antworten auf wichtigste Fragen, die ihn oder seine Arbeit betrafen, von ihm zu bekommen.

Zuschauer bei Proben störten ihn sehr. Es war schwer, von ihm die Erlaubnis zu erlangen, Proben beizuwohnen, und er beschränkte dieses Privileg auf wenige Bevorzugte, von denen er wusste, dass ihr Interesse ehrlich und von Verständnis gedeckt war.

Manchmal verlegte er seine Probenarbeit nach Hause. Da konnte er, in größerer Ruhe als im Theater, in der Arbeit mit einzelnen Schauspielern, vieles vertiefen, abschleifen, abrunden. Diese Stunden mit ihm, die sich oft bis in die tiefste Nacht erstreckten, waren für seine Darsteller das Wertvollste und Kostbarste. Solche Konzentration, dieses Geben und Nehmen, steigerte alle Kräfte und trug Früchte.

Max Reinhardts Ruhe und Langmut auf Proben waren unbegrenzt. Aber auch seine Ausdauer. Unerbittlich gegen sich selbst, forderte er von seinen Schauspielern denselben eisernen Willen, Höchstes zu erreichen. Vor besonders schwierigen Premieren – wie etwa Fritz von Unruhs Phaea – wurde die Nacht durchprobiert, bis acht Uhr früh. Die Generalprobe von Faust, in der Salzburger Felsenreitschule, endete im Morgengrauen, und ahnungsvoller hat wohl kaum je »der Tag graut –« geklungen als an diesem fahlen, fröstelnden Morgen, im Schatten der steilen Felswand, auf deren Höhe schon der erste Widerschein verschleierter Sonne spielte.

Es war Reinhardts Überzeugung, dass eine große Müdigkeit geradezu notwendig sei, um bei Darstellern den Widerstand letzter Hemmungen zu überwinden. Am Tag der Premiere war selbst nach den anstrengendsten Nachtproben noch eine Durchsprechprobe auf der Bühne, die nur zu oft zur Arbeitsprobe wurde und bis zum Beginn der Vorstellung dauerte.

Während der letzten großen Proben musste man im dunklen Zuschauerraum bei Reinhardt sitzen, um aufzuschreiben, was er an Schauspielern, Dekorationen, Musik etc. noch auszusetzen hatte. Aber auch sein Lob. Nach jedem Akt, manchmal erst am Ende der Probe, ging er dann zur »Kritik« auf die Bühne, um, unterstützt von diesen Notizen, mit Darstellern und anderen Mitarbeitern zu sprechen, oft Gesagtes zu wiederholen, zu ermutigen, zu loben, zu tadeln, Änderungen oder Striche anzuordnen.

Aber auch das genügte ihm nicht. Wenn er von der Probe nach Hause kam, saß er noch bis tief in die Nacht beim Schreibtisch und notierte in Schlagworten, was seinen Schauspielern und Mitarbeitern am nächsten Tag vor Probenbeginn mitgeteilt werden sollte. Oft war es die Wiederholung des bereits Gesagten, aber noch öfter Neues, das ihm im Nachgefühl der Probe, in der Stille der Nacht, als unerlässlich klargeworden war.

Die Schauspieler hatten kein besseres Publikum als Reinhardt. Sein Lachen war unmittelbar, es entzündete sich an einer Bewegung, an einem Gang, am Gesichtsausdruck eines Darstellers, an einem Tonfall. Seine Tränen flossen gewissermaßen nach innen. Nach einer ergreifenden Szene, nach einem tragischen Schluss, sah man ihn oft mit rotgeweinten Augen weggehen. Gewisse Stücke, die sehr erfolgreich waren, sehr viel von ihm selbst empfangen und auch in der Darstellung etwas ihm besonders Liebenswertes hatten, ergriffen ihn stets aufs Neue. Das waren Inszenierungen, die er sich auch nach der Premiere immer wieder ansah. Oft stand er nur hinter der letzten Parkettreihe, oder er ging in eine Loge. Es bedeutete den Schauspielern sehr viel, wenn es hieß: »Der Professor ist im Haus.« War es ein Lustspiel, so blieb es nicht lange verborgen, wo er saß: sein spontanes Lachen erhob sich in dem dunklen Theater wie ein Trompetenstoß über dem Publikumslachen und verriet ihn.



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