Читать книгу "...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen." - Gusti Adler - Страница 14

Expressionismus

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Das Grauen des Krieges schritt in diesen Jahren unaufhaltsam, mit bleierner Schwere vorwärts. Es galt, Schritt zu halten oder unterzugehen. Es galt, im Chor der Todgeweihten die Stimmen zu hören, die sich über die Zeit erhoben, denen es gegeben war, eigene Not und die Not der Zeit zu gestalten, es galt, mit letzter Kraft, der Stimme dieses jungen Deutschland Gehör zu verschaffen, ehe sie in grauenhaftem Tode auf den Schlachtfeldern verstummte. Der Theaterverein »Das junge Deutschland« (auf Initiative von Maximilian Harden im Rahmen des Deutschen Theaters gegründet und von Heinz Herald geleitet) hatte sich dieses Ziel gesteckt. Der Bettler von Reinhard Sorge, in der Inszenierung von Max Reinhardt, war das erste Stück in einer Reihe von Werken jüngster deutscher Dichter. Reinhard Sorge war 1916 im Westen gefallen. Sein Werk: ein Versprechen – das Max Reinhardt einlöste. Er hat dem Relief dieses lyrischen Dramas dreidimensionale Tiefe gegeben. In Einfühlung und im Vorfühlen neuer Ausdrucksformen hat er sich hier zum ersten Mal expressionistischer Ausdrucksmittel bedient. Gleichzeitigkeit des Geschehens hinter Schleiern, Ineinandergleiten von Szenen, wie in der unvergesslichen Kaffeehausszene. Stimmen, Farben. Traumhaft kommen und gehen Gestalten. Die Bühne wird schwer von ihrem Geschick.

Was Max Reinhardt hier schuf, griff tief in die Zeit, die damals um ihn war, die sich wandelte, in der alles im Fluss war wie in einem brodelnden Vulkan. Dichtung, bildende Kunst, Musik – alles rang nach neuem Ausdruck, stammelte, wie in den Dada-Schöpfungen, setzte neue Klangwerte anstelle der alten oder zerlegte Form und Farbe. Was Reinhardt turmhoch über die vergänglichen Kunstströmungen dieser Tage erhob, war eine innere Stetigkeit.

Die Gestalten, denen er Leben verlieh, waren durchblutet, keine Schemen. Das offenbarte sich in Paul Wegener, der den Vater ergreifend darstellte, bei Ernst Deutsch als seinem Sohn, vor allem aber bei Helene Thimig in der Rolle des Mädchens. Instinktiv hatte sie die Melodie dieser neuen Zeit­strömung erfasst. Das Wort war bei ihr nicht Träger der Empfindung, sondern Krönung, Sublimierung des Sinnes. Als Max Reinhardt sie im Frühjahr 1917 engagierte, hatte er sie noch nie spielen gesehen. Nur einmal hatte er sie im Theater von einer Loge aus beobachtet, als sie einer Aufführung des Lebenden Leichnams von Tolstoi beiwohnte. Ihr auffallend starkes Reagieren und Mitgerissensein während der Vorstellung hatte ihn davon überzeugt, dass da eine Begabung sein müsse.

Er beauftragte Felix Hollaender, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, ließ sie durch ihn auffordern, zu ihm zu kommen. Sie sprach die Marianne in Goethes Die Geschwister vor. Bei dieser ersten Unterredung erzählte er ihr schon von seinen fernsten Plänen: ein Theater in Hellbrunn oder in der Schweiz. Eine Tournee sollte ihn damals nach Schweden führen. Er forderte Helene Thimig auf, daran teilzunehmen, trug ihr die Viola in Was ihr wollt, die Rolle des Mädchens in Strindbergs Gespenstersonate und die Natascha in Gorkis Nachtasyl an. Zunächst setzte sich aber ihrem Engagement an das Deutsche Theater vieles entgegen. Lucie Höflich hatte es kontraktlich, dass Helene Thimig nicht engagiert werden dürfe … Der Vertrag mit dem Königlichen Schauspielhaus in Berlin lief noch bis 1918. Er konnte erst nach schwierigen Verhandlungen um ein Jahr früher gelöst werden. Aber endlich, am 17. April 1917, unterschrieb Helene Thimig einen fünfjährigen Vertrag mit dem Deutschen Theater.

Max Reinhardt hatte sie als Schauspielerin kennen gelernt, gleichzeitig aber war es der Beginn einer langen Entwicklung in der Beziehung dieser beiden Menschen zueinander. Jahre vor diesem Zusammentreffen war Max Reinhardt nur noch dem Buchstaben nach mit Else Heims verheiratet gewesen. Andauernde Konflikte wurden vor Anwälten ausgetragen. Reinhardt hatte den besten Willen, alles auf gütlichem Wege zu erledigen. Deshalb wurde zwischen ihm und Helene Thimig beschlossen, dass sie einander ein Jahr lang nicht sehen und jede Verbindung abbrechen wollten. Während dieser Zeit hoffte er, zu einem friedlichen Vergleich mit Frau Heims zu gelangen. Seine ehrliche Absicht scheiterte an ihrem hartnäckigen Widerstand, und es kam erst viele Jahre später zur Lösung dieser Ehe.

Mit seiner Inszenierung der Seeschlacht von Reinhard Goering – ebenfalls im Rahmen des »Jungen Deutschland« – hat Max Reinhardt noch einem zweiten jungen deutschen Dichter Gehör verschafft. In dieser Vorstellung klappte alles mit einer Präzision, die an das Ineinander-Funktionieren der Maschinen auf Kriegsschiffen mahnte. Überragend Wegener, Krauß und Hermann Thimig. Aber selbst Reinhardts Regie konnte gegen das Objektivierte, Kalte dieser überspitzten Symbolik, das für diese Generation so typisch war, nicht aufkommen. Wohl hörte man eine Botschaft, aber sie zeugte keinen Glauben. Scharfe Polemik war dem Werk in Dresden vorangegangen. Ein Teil des revolutionsbereiten Publikums war wohl auch enttäuscht, dass in Berlin alles sensationslos verlief. So hielten sich Beifall und Zischen die Waage.

Einmal noch, drei Jahre später, hat Max Reinhardt mit der Inszenierung eines Stückes von August Stramm, Kräfte, den Versuch gemacht, expressionistischem Drama Geltung zu verschaffen. Sein Ensemble – Helene Thimig, Agnes Straub, Eugen Klöpfer und Hermann Thimig – wurde damals von einem wahren Furor erfasst, Ton-Werte sprechen zu lassen, scheinbar zusammenhanglosen Worten durch Rhythmus und Klangschattierung Sinn zu geben, Dialog »auf Noten gesetzt« zu rezitieren. Das Experiment gelang, und Max Reinhardt nahm das Stück sogar auf eine skandinavische Tournee mit. Da ihm aber im Grunde diese Kunstform doch sehr ferne lag, hat er nie wieder Ähnliches unternommen.



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