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Am Frühlingsabend

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Jean­ne soll­te ih­ren Vet­ter Jac­ques bald hei­ra­ten. Sie kann­ten sich schon von Kind­heit an, und dar­um hat­te die Lie­be zwi­schen ih­nen nicht je­nes ze­re­mo­ni­el­le Ge­prä­ge an­ge­nom­men, wie es sonst bei Braut­leu­ten be­ob­ach­tet wird. Sie wa­ren zu­sam­men groß ge­wor­den, ohne zu ah­nen, dass sie sich lieb­ten. Das jun­ge Mäd­chen, das et­was ge­fall­süch­tig war, hat­te zwar ein paar un­schul­di­ge Tän­de­lei­en ver­sucht; sie fand den jun­gen Mann über­dies recht nett und hielt ihn für brav, und je­des Mal, wenn sie sich wie­der­sa­hen, küss­te sie ihn recht von Her­zen. Aber sie küss­ten sich doch ohne je­den Schau­der, der den Kör­per von den Fin­gern bis zu den Ze­hen durch­rie­sel­t…

Er dach­te ganz ein­fach: sie ist ein net­tes Ding, mei­ne klei­ne Cou­si­ne; und wenn er an sie dach­te, so ge­sch­ah dies mit je­ner in­stink­ti­ven Zärt­lich­keit, die je­der Mann ei­nem hüb­schen jun­gen Mäd­chen ge­gen­über emp­fin­det. Wei­ter gin­gen sei­ne Ge­dan­ken je­doch nicht.

Doch da hat­te Jean­ne ei­nes Ta­ges durch Zu­fall ge­hört, wie ihre Mut­ter zu ih­rer Tan­te sag­te – Tan­te Al­ber­ta, denn Tan­te Li­son war le­dig ge­blie­ben –: »Ich kann dir ver­si­chern, sie wer­den sich so­fort lie­ben, die­se Kin­der; das sieht man ja. Und Jac­ques ist ganz der Schwie­ger­sohn nach mei­nem Her­zen.«

Von die­sem Tage an hat­te Jean­ne ih­ren Vet­ter Jac­ques an­ge­be­tet. Seit­her er­rö­te­te sie bei sei­nem An­blick und ließ ihre Hand in der des jun­gen Man­nes zit­tern, Ihre Au­gen senk­ten sich scham­haft, wenn ihre Bli­cke sich be­geg­ne­ten, und wenn er sie küss­te, tat sie, als ob sie sich sträub­te, – und dies al­les so gut, dass er’s merk­te… Er hat­te ver­stan­den, und in ei­nem hol­den Au­gen­bli­cke, wo ihn die ge­schmei­chel­te Ei­tel­keit nicht we­ni­ger hin­riss, als die wah­re Nei­gung, hat­te er sei­ne Cou­si­ne fest in die Arme ge­schlos­sen und ihr ein »Ich lie­be dich! Ich lie­be dich!« ins Ohr ge­haucht.

Seit­her herrsch­te ein zärt­li­ches Gir­ren und ar­ti­ges Tän­deln in al­len Ton­ar­ten der Lie­be; die ver­trau­te Be­kannt­schaft von Kind­heit an mach­te ihr Be­neh­men dop­pelt zwang­los und un­ge­bun­den. Im Wohn­zim­mer küss­te Jac­ques sei­ne Zu­künf­ti­ge un­ge­niert vor den drei al­ten Da­men, sei­ner Mut­ter und ih­ren bei­den Schwes­tern, Tan­te Al­ber­ta und Tan­te Li­son. Ta­ge­lang ging er mit ihr al­lein in den Wald, am Flüss­chen ent­lang oder durch die Wie­sen, de­ren Gras­tep­pich schon von den ers­ten Früh­lings­blu­men durch­wirkt war. So er­war­te­ten sie den fest­ge­setz­ten Tag ih­rer end­li­chen Ve­rei­ni­gung ohne all­zu große Un­ge­duld; viel­mehr schwam­men sie in ei­tel Se­lig­keit und ge­nos­sen den pri­ckeln­den Reiz der ver­hal­te­nen Lieb­ko­sun­gen, der war­men Hän­de­drücke und lan­gen, glü­hen­den Bli­cke, in de­nen ihre See­len zu ver­schmel­zen schie­nen… Das un­be­stimm­te Ver­lan­gen nach in­ni­ge­ren Umar­mun­gen quäl­te sie mit sü­ßer Pein, und auf ih­ren Lip­pen, die sich such­ten, lag eine lau­ern­de, war­ten­de, ver­hei­ßen­de Un­ge­duld…

Manch­mal, wenn sie den gan­zen Tag im schwü­len Dunst­krei­se die­ser pla­to­ni­schen Zärt­lich­kei­ten zu­ge­bracht hat­ten, spür­ten sie abends eine läh­men­de Star­re am Her­zen und seufz­ten aus tiefs­ter Brust, ohne zu wis­sen, warum, ohne zu ver­ste­hen, dass es die Er­war­tung war, die ihre Seuf­zer schwell­te.

Die bei­den Müt­ter und ihre Schwes­ter, Tan­te Li­son, sa­hen die­ser jun­gen Lie­be mit zärt­li­chem Lä­cheln zu; be­son­ders Tan­te Li­son war be­wegt, wenn sie die bei­den zu­sam­men sah.

Sie war ein klei­nes Däm­chen, sprach we­nig, war meist für sich al­lein, stets ge­räusch­los, und er­schi­en ei­gent­lich nur zu den Mahl­zei­ten, um gleich nach­her wie­der auf ihr Zim­mer zu ge­hen, wo sie sich be­stän­dig ein­schloss. Sie hat­te ein gu­tes, ält­li­ches Ge­sicht und sanf­te, trau­ri­ge Au­gen; von der Fa­mi­lie wur­de sie kaum be­ach­tet. Die bei­den ver­wit­we­ten Schwes­tern, die in der Welt doch et­was vor­ge­stellt hat­ten, sa­hen sie als et­was ganz Be­deu­tungs­lo­ses an. Man be­han­del­te sie mit größ­ter Ver­trau­lich­keit und mit ei­ner leicht ver­ächt­li­chen Nach­sicht ge­gen die alte Jung­fer… Ei­gent­lich hieß sie Lise; sie war jung ge­we­sen, als Béran­ger Frank­reich be­herrsch­te. Als man aber sah, dass sie nicht hei­ra­te­te, dass sie ganz ge­wiss nicht mehr hei­ra­ten wür­de, än­der­te man ih­ren Na­men in Li­son um und nann­te sie Tan­te Li­son. Jetzt war sie ein al­tes, be­schei­de­nes, et­was ei­ge­nes Däm­chen, und höchst ängst­lich ge­gen die Ih­ri­gen, de­ren Zu­nei­gung zu ihr sich aus Ge­wohn­heit, Mit­leid und wohl­wol­len­der Gleich­gül­tig­keit zu­sam­men­setz­te.

Die Kin­der ka­men nie zu ihr her­auf, um sie zu küs­sen. Nur das Mäd­chen be­trat zu­wei­len ihre Schwel­le. Wenn man mit ihr spre­chen woll­te, ließ man sie ho­len. Man wuss­te kaum, wo das Zim­mer­chen lag, in dem die­ses arme, ein­sa­me Le­ben ver­floss… Sie hat­te durch­aus kei­ne Stel­lung. Wenn sie nicht zu­ge­gen war, war von ihr nie die Rede. Man dach­te auch nie an sie. Sie ge­hör­te zu je­nen ver­ges­se­nen We­sen, die selbst ih­ren nächs­ten An­ge­hö­ri­gen un­be­kannt und gleich­sam un­ent­deckt blei­ben, de­ren Tod in ei­nem Hau­se kei­ne Lücken reißt, und die nicht ver­ste­hen, in das Da­sein und die Ge­wohn­hei­ten oder in die Lie­be ih­rer Mit­menschen ein­zu­drin­gen.

Sie ging im­mer mit klei­nen ei­li­gen und ge­dämpf­ten Schrit­ten; sie mach­te nie ein Geräusch, stieß nie an et­was an und schi­en den Din­gen die Ei­gen­schaft ab­so­lu­ter Laut­lo­sig­keit mit­zu­tei­len. Ihre Hän­de hät­ten von Wat­te sein kön­nen: so leicht und be­hut­sam fass­te sie al­les an.

Wenn man »Tan­te Li­son« sag­te, so er­weck­ten die­se zwei Wor­te in der Vor­stel­lung der Hö­rer kei­nen an­de­ren Ein­druck, als ob man »die Kaf­fee­kan­ne« oder »die Zucker­do­se« sag­te. Die Hün­din Lou­che hat­te ent­schie­den eine aus­ge­spro­che­ne­re Per­sön­lich­keit; sie wur­de fort­wäh­rend ge­lieb­kost und ge­ru­fen: »Komm, mein lie­bes Louch­e­chen, mein schö­nes klei­nes Louch­e­chen!« Man hät­te ihr un­gleich mehr nach­ge­weint.

Der Vet­ter und die Cou­si­ne soll­ten Ende Mai hei­ra­ten. Die jun­gen Leu­te leb­ten nur noch Aug’ in Auge und Hand in Hand; sie wa­ren be­reits ein Herz und eine See­le. Es wur­de die­ses Jahr erst spät und nur zö­gernd Früh­ling. In den hel­len Frost­näch­ten und mor­gens in den Früh­ne­beln war es noch zum Zäh­ne­klap­pern. Dann plötz­lich kam der Lenz mit Macht. Ein paar war­me, et­was duns­ti­ge Tage hat­ten ge­nügt, um den Saft, der noch in der Erde schlief, in Be­we­gung zu set­zen. Die Blät­ter ent­fal­te­ten sich wie durch ein Wun­der, und über­all schweb­te ein be­rau­schen­der, er­mat­ten­der Duft von Knos­pen und er­blü­hen­den Blu­men.

End­lich, ei­nes Nach­mit­tags, hat­te die Son­ne die um­her­trei­ben­den Düns­te auf­ge­so­gen und war mit sieg­rei­chem Pran­gen über der Ebe­ne auf­ge­gan­gen. Ihre hei­te­re Klar­heit durch­ström­te das gan­ze Land und durch­drang al­les, Pflan­zen, Tie­re und Men­schen. Die Vö­gel schwirr­ten lo­ckend und su­chend um­her und schlu­gen mit den Flü­geln. Jac­ques und Jean­ne sa­ßen den gan­zen Tag lang bei ein­an­der auf ei­ner Bank vor dem Schloss­por­tal. Das neue Glück be­ängs­tig­te sie; sie wa­ren furcht­sa­mer als ge­wöhn­lich. Sie fühl­ten, wie es sich in ih­nen reg­te, ganz wie in den Bäu­men, und wag­ten nicht al­lein hin­aus­zu­ge­hen. Ihre Au­gen ruh­ten un­be­stimmt auf dem Teich, der dort un­ten lag und auf dem die großen Schwä­ne sich ver­folg­ten.

Erst als es Abend ward, fühl­ten sie sich er­leich­tert und ru­hi­ger; nach dem Es­sen lehn­ten sie im of­fe­nen Fens­ter des Wohn­zim­mers und plau­der­ten ver­liebt, wäh­rend die bei­den Müt­ter in dem Licht­krei­se, den der run­de Lam­pen­schirm ab­schloss, ihr Pi­ket spiel­ten und Tan­te Li­son für die Orts­ar­men St­rümp­fe strick­te.

Fern hin­ter dem Tei­che brei­te­te ein ein­zel­ner Baum sei­ne ho­hen Wip­fel, und plötz­lich brach durch das kaum ent­spross­te Blät­ter­grün das sil­ber­ne Mond­licht. Lang­sam wan­del­te die lich­te Schei­be durch die Äste, die sich fein­ge­zähnt da­ge­gen ab­ho­ben, zu den Hö­hen des Him­mels em­por, und die Ster­ne um­her er­lo­schen. Über alle Welt er­goss sich der ma­gi­sche Schim­mer, in dem die Düns­te und die Träu­me der Be­trüb­ten, der Dich­ter und Lie­ben­den sich wie­gen…

Die jun­gen Leu­te hat­ten dem auf­ge­hen­den Mon­de zu­ge­schaut; dann, als die wei­che Mil­de der Nacht sie um­floss und der Däm­mer, der auf den Wie­sen und über den Baum­mas­sen web­te, sie lo­ckend ver­zau­ber­te, wa­ren sie hin­aus­ge­gan­gen und wan­del­ten lang­sa­men Schrit­tes auf dem großen, mond­wei­ßen Ra­sen­platz bis zum schil­lern­den Tei­che.

In­zwi­schen hat­ten die bei­den Müt­ter ihre all­abend­li­chen vier Par­ti­en Pi­ket be­en­det und die Au­gen be­gan­nen ih­nen zu­zu­fal­len; sie sehn­ten sich nach Ruhe.

– Wir müs­sen die Kin­der ru­fen, sag­te die eine.

Mit schnel­lem Bli­cke durch­flog die an­de­re den Teil des Gar­tens, in dem die zwei Schat­ten­ge­stal­ten sich lang­sam er­gin­gen.

– Lass sie doch noch! riet sie. Es ist ja so schön drau­ßen. Li­son kann auf sie war­ten. Nicht wahr, Li­son?

Die alte Jung­fer hob un­ru­hig die Au­gen und ant­wor­te­te mit ängst­li­cher Stim­me:

– Ge­wiss, ich wer­de auf sie war­ten.

Da­rauf gin­gen die bei­den Schwes­tern zu Bet­te.

Als sie her­aus wa­ren, stand Tan­te Li­son auch auf, ließ die an­ge­fan­ge­ne Ar­beit samt der Wol­le und der großen Na­del auf dem Arme des Lehn­stuhls lie­gen und leg­te sich mit den El­len­bo­gen ins Fens­ter, um die lieb­li­che Nacht zu ge­nie­ßen.

Die bei­den Lie­ben­den gin­gen im­mer noch über den Ra­sen­platz, vom Teich bis zur Trep­pe und von der Trep­pe bis zum Tei­che. Sie drück­ten sich die Hän­de und hat­ten auf­ge­hört, zu spre­chen, als wä­ren sie ganz ent­rückt und bil­de­ten nur noch einen Teil die­ses Mär­chen­zau­bers, der auf der Welt lag. Jean­ne er­blick­te plötz­lich im Fens­ter­rah­men den Schat­ten der al­ten Dame, der sich scharf ge­gen das Lam­pen­licht ab­hob.

– Halt, sag­te sie ste­hen blei­bend, Tan­te Li­son be­ob­ach­tet uns.

Jac­ques blick­te auf.

– In der Tat, Tan­te Li­son be­ob­ach­tet uns.

Sie gin­gen dann un­ge­stört wei­ter, wie vor­her, und träum­ten und lieb­ten, wie vor­her. Doch das Gras war vol­ler Tau. Es war kühl und sie frös­tel­ten.

– Wol­len wir nicht hin­ein ge­hen? schlug Jean­ne vor.

Jac­ques nick­te und sie gin­gen wie­der ins Haus.

Als sie ins Wohn­zim­mer tra­ten, saß Tan­te Li­son wie­der über ihre Ar­beit ge­beugt und strick­te; ihre klei­nen, dür­ren Fin­ger zit­ter­ten ein we­nig, wie von Über­mü­dung.

Jean­ne trat nä­her.

– Wir wol­len jetzt zu Bet­te ge­hen, Tan­te.

Das alte Däm­chen schlug die Au­gen auf. Sie wa­ren rot, als hät­te sie ge­weint. Doch Jac­ques und sei­ne Braut ach­te­ten nicht dar­auf. Der jun­ge Mann merk­te nur, dass die dün­nen Le­der­schu­he sei­nes Mäd­chens von Tau trief­ten. Ängst­lich frag­te er:

– Hast du nicht kalt an dei­nen lie­ben klei­nen Füß­chen?

Plötz­lich be­gan­nen die Fin­ger der al­ten Tan­te so hef­tig zu zit­tern, dass die Ar­beit ih­nen ent­fiel und das Woll­knäu­el weit über den Bo­den roll­te. Sie ver­barg das Ge­sicht in den Hän­den und fing an zu wei­nen; es war ein hef­ti­ges, krampf­haf­tes Schluch­zen.

Die bei­den Kin­der stürz­ten auf sie zu; Jean­ne knie­te nie­der und nahm ihr die zit­tern­den Hän­de von den Au­gen.

– Was ist dir, Tan­te Li­son? Wa­rum weinst du?

– Weil… Weil… stot­ter­te die alte Dame; ihre Stim­me schi­en in Trä­nen zu zer­flie­ßen, und ein kramfhaf­tes Zit­tern ging durch ih­ren Kör­per, Weil er dich frag­te… hast du nicht kal­t… an dei­nen lie­ben klei­nen Füß­chen… Das… hat mir nie ei­ner ge­sag­t… mir nie!…

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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