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Der Schäfersprung

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Die Küs­te von Diep­pe bis Le Ha­vre bil­det ein un­un­ter­bro­che­nes Steilufer von etwa hun­dert Me­ter Höhe, das senk­recht wie eine Mau­er zum Mee­re ab­fällt. Von Zeit zu Zeit wird die­se star­re Fels­li­nie plötz­lich un­ter­bro­chen, und ein klei­nes, en­ges Tal mit stei­len Hän­gen, die mit kur­z­em Gras und Meer­bin­sen be­deckt sind, kommt von der be­bau­ten Hoch­flä­che her­ab und mün­det schlucht­ar­tig, wie das Bett ei­nes Gieß­bachs, in das Ufer­ge­röll. Die­se Tä­ler sind von der Na­tur selbst ge­schaf­fen. Ihre Rän­der sind von den Ge­birgs­bä­chen ge­höhlt, wel­che die Res­te des ste­hen­den Ho­chu­fers fort­ge­spült und den Was­sern ein Bett bis zum Mee­re ge­gra­ben ha­ben, das den Men­schen jetzt als Weg dient. Bis­wei­len klemmt sich ein Dorf in den en­gen Tal­kes­sel, in dem der vol­le See­wind sich fängt.

Ich habe einen gan­zen Som­mer in ei­nem die­ser Küs­ten­ein­schnit­te ver­bracht; ich wohn­te bei ei­nem Bau­ern, des­sen Haus der See zu­ge­kehrt lag, so­dass ich von mei­nem Fens­ter aus zwi­schen den grü­nen Tal­hän­gen ein großes Drei­eck dun­kelblau­en Was­sers er­blick­te, das oft von wei­ßen Se­geln wim­mel­te, die von der Son­ne ge­trof­fen in der Fer­ne vor­über­zo­gen.

Der Weg zum Mee­re lief auf der Soh­le der Schlucht und ver­sank dann plötz­lich zwi­schen zwei senk­rech­ten Mer­gel­wän­den wie ein tie­fein­ge­schnit­te­nes Ge­lei­se, um als­dann auf einen schö­nen Kies­platz zu mün­den, des­sen Stei­ne durch das Jahr­hun­der­te lan­ge Spiel der Wo­gen ku­gel­rund ab­ge­schlif­fen und po­liert wa­ren. Die­se tie­fe Hoh­le hieß der »Schä­fer­sprung«. Die Ge­schich­te, der sie ih­ren Na­men ver­dankt, ist fol­gen­de.

*

Frü­her, so sag­te man mir, herrsch­te in die­sem Dor­fe ein jun­ger fa­na­ti­scher und ge­walt­tä­ti­ger Pries­ter. Voll Hass auf alle, die nach den Na­tur­ge­set­zen und nicht nach den Ge­set­zen sei­nes Got­tes leb­ten, war er aus dem Se­mi­nar ge­kom­men. Er war von un­beug­sa­mer Stren­ge ge­gen sich selbst und von un­ver­söhn­li­cher Un­duld­sam­keit ge­gen an­de­re. Ei­nes vor al­lem er­füll­te ihn mit Wut und Ab­scheu: die Lie­be. Hät­te er in Städ­ten, im Scho­ße der raf­fi­nier­ten Kul­tur­mensch­heit ge­lebt, wel­che die bru­ta­len Akte, die uns die Na­tur ge­bie­tet, in den zar­ten Schlei­er des Ge­fühls und der Zärt­lich­keit zu hül­len weiß, hät­te er im Halb­schat­ten der großen, ele­gan­ten Kir­chen­schif­fe im Beicht­stuhl ge­ses­sen und die duf­ten­den Sün­de­rin­nen ge­hört, de­ren Ver­ge­hen sich durch die An­mut ih­res Fal­les und die idea­le Ein­klei­dung der höchst ma­te­ri­el­len Umar­mung zu mil­dern scheint, so wäre jene ra­sen­de Em­pö­rung, jene zü­gel­lo­se Wut viel­leicht nicht über ihn ge­kom­men, wenn er der un­sau­be­ren Umar­mung des Ge­sin­dels im Schlamm ei­nes Stra­ßen­gra­bens oder auf dem Stroh ei­ner Scheu­ne ge­gen­über­stand.

Er hielt sie durch­aus für Vieh, die­se Men­schen, wel­che die Lie­be nicht kann­ten, und sich nach Art der Tie­re ver­ei­nig­ten; er hass­te sie we­gen ih­rer See­len-Roh­heit, we­gen der eklen Be­frie­di­gung ih­rer Lust, we­gen der wi­der­li­chen Freu­de, die sie noch als Grei­se emp­fan­den, wenn sie von die­sen Din­gen spra­chen.

Vi­el­leicht auch ward er selbst wi­der Wil­len von un­ge­still­ten Ge­lüs­ten ge­pei­nigt und durch den Kampf sei­nes keu­schen, aber des­po­ti­schen Geis­tes mit sei­nem wi­der­späns­ti­gen Kör­per dumpf ge­quält.

Denn al­les, was auf das Fleisch Be­zug hat­te, em­pör­te ihn, brach­te ihn au­ßer sich, und sei­ne wil­den Pre­dig­ten vol­ler Dro­hun­gen und wü­ten­der An­spie­lun­gen rie­fen das höh­ni­sche La­chen der Dir­nen und Bur­schen her­vor, die sich durch die Kir­che hin ver­stoh­le­ne Bli­cke zu­war­fen. Und wenn die Päch­ter in ih­rer blau­en Blu­se und die Päch­ters­frau­en in ih­rem schwar­zen Man­tel Sonn­tags aus der Mes­se heim­kehr­ten und auf ihre Hüt­te zu­steu­er­ten, de­ren Schorn­stein lan­ge Sträh­nen bläu­li­chen Rau­ches durch die Luft wob, dann sag­ten sie sich wohl: »Da­rin ver­steht er kei­nen Spaß, der Herr Pfar­rer.«

Ein­mal nun ge­riet er um nichts so au­ßer sich, dass er fast die Be­sin­nung ver­lor. Er woll­te einen Kran­ken be­su­chen. Als er den Pacht­hof be­trat, wo der Kran­ke lag, be­merk­te er einen Hau­fen Kin­der aus dem Hau­se und der Nach­bar­schaft, die um die Hun­de­hüt­te her­um­stan­den. Sie rühr­ten sich nicht und blick­ten mit ge­spann­ter und stum­mer Auf­merk­sam­keit auf et­was, das am Bo­den lag. Der Pries­ter trat nä­her und er­blick­te die Hün­din, die ge­ra­de warf. Sie lag vor ih­rer Hüt­te. Fünf Jun­ge kro­chen be­reits um die Mut­ter her­um, die sie zärt­lich leck­te und ge­ra­de in dem Au­gen­blick, wo der Pfar­rer sei­nen Kopf über die Köp­fe der Kin­der hin­aus­reck­te, noch ein sechs­tes Jun­ges zur Welt brach­te. Da fing der gan­ze Schwarm vor Freu­de an zu schrei­en und in die Hän­de zu klat­schen: »Da kimmt noch eins! Da kimmt noch eins!« Es war dies eine Be­lus­ti­gung für sie, eine ganz na­tür­li­che Be­lus­ti­gung ohne ir­gend­wel­che un­rei­ne Bei­mi­schung. Sie sa­hen die­ser Ge­burt zu, wie sie Äp­fel hät­ten fal­len se­hen. Aber der Mann im schwar­zen Ro­cke er­beb­te vor Ent­rüs­tung und ver­lor völ­lig den Kopf. Er er­hob sei­nen blau­en Re­gen­schirm und schlug da­mit wü­tend auf die Kin­der ein. Da lie­fen sie, was sie lau­fen konn­ten. Dann wand­te sei­ne Wut sich ge­gen die nie­der­ge­kom­me­ne Hün­din. Er schlug bald mit der Rech­ten, bald mit der Lin­ken auf sie los, und als das Tier, das an der Ket­te lag und nicht fort­lau­fen konn­te, sich stöh­nend wehr­te, tram­pel­te er dar­auf her­um und zer­trat es mit sei­nen Fü­ßen – wo­bei noch ein letz­tes Jun­ges zur Welt kam; dann gab er ihm mit dem Ha­cken den Rest. Den blu­ti­gen Kör­per ließ er in­mit­ten der Neu­ge­bo­re­nen lie­gen, die kläg­lich piep­send her­um­taps­ten und be­reits nach den Brüs­ten der Mut­ter such­ten.

*

Eine sei­ner Ge­wohn­hei­ten war, lan­ge Aus­flü­ge zu ma­chen; er ging dann mit großen Schrit­ten und wil­der Mie­ne durchs Feld. Ei­nes Abends im Mai nun, als er von ei­nem sol­chen wei­ten Spa­zier­gang zu­rück­kehr­te und das Steilufer ent­lang ging, um das Dorf zu ge­win­nen, über­fiel ihn ein furcht­ba­rer Guß. Kein Haus war in Sicht, über­all nack­te Küs­te, von Wet­ter­strö­men zer­spült.

Das Meer ging hoch und roll­te sei­ne Schaum­käm­me. Gro­ße fin­stre Wol­ken zo­gen vom Ho­ri­zont her­an und ver­dop­pel­ten den Re­gen. Der Wind pfiff und heul­te und leg­te die jun­gen Saa­ten nie­der, schüt­tel­te den trie­fen­den Abbé und press­te sei­nen durch­näss­ten Rock ge­gen sei­ne Bei­ne, er­füll­te sei­ne Ohren mit Sturm­ge­heul und sein Herz mit trun­ke­ner Er­re­gung.

Er riss sich den Hut ab und bot sei­ne Stirn dem Ge­wit­ter preis, wäh­rend er sich all­mäh­lich dem Ab­stieg ins Nie­der­land nä­her­te. Doch da pack­te ihn ein Wind­stoß mit sol­cher Ge­walt, dass er nicht mehr wei­ter kam, und da er plötz­lich eine Schaf­hür­de und da­ne­ben den Schutz­kar­ren ei­nes Schä­fers er­blick­te, lief er dar­auf zu, um Un­ter­schlupf zu fin­den.

Die Hun­de, die der Or­kan peitsch­te, schlu­gen nicht an, als er nah­te, und lie­ßen ihn un­ge­hin­dert an die Hüt­te, eine Art Hun­de­hüt­te auf Rä­dern, wie sie die Schä­fer im Som­mer von Wei­de zu Wei­de mit­schlep­pen.

Über ei­nem Tritt­brett öff­ne­te sich die nied­ri­ge Tür, so­dass man das Stroh dar­in­nen er­ken­nen konn­te. Der Pries­ter woll­te hin­ein­schlüp­fen – als er plötz­lich im Dun­kel des Rau­mes ein Lie­bespär­chen ge­wahr­te. Da klapp­te er den Wet­ter­schirm in jä­her Ent­schlos­sen­heit zu, leg­te den Rie­gel da­vor, spann­te sich zwi­schen die Arme der Schub­kar­re und leg­te sich weit vorn­über­ge­beugt da­vor. Er zog wie ein Pferd und rann­te, un­ter sei­nem feuch­ten Tuch­rock keu­chend, dem jä­hen Steil­fall des tod­brin­gen­den Ab­hangs ent­ge­gen. Das über­rasch­te Lie­bes­paar glaub­te wohl, ein Vor­über­ge­hen­der mach­te sich einen Scherz, und trom­mel­te mit den Fäus­ten ge­gen die Wän­de des Holz­hau­ses.

Als er den Kamm des Ab­falls er­reicht hat­te, ließ er das Wan­der­haus fah­ren, und nun schoss es den schrä­gen Hang hin­un­ter, in im­mer schnel­ler­er Fahrt, in ra­sen­dem Lau­fe da­hin­rol­lend, bald hoch­sprin­gend und stol­pernd, wie ein Tier, und mit den Ar­men auf­schla­gend.

Ein al­ter Bett­ler, der in ei­nem Gra­ben hock­te, sah es über sei­nen Kopf hin­weg sau­sen und hör­te das ent­setz­te Ge­schrei in dem höl­zer­nen Kas­ten.

Plötz­lich prall­te es auf, ver­lor ein Rad, leg­te sich auf die Sei­te und be­gann wie eine Ku­gel bergab zu rol­len, wie ein ent­wur­zel­tes Haus vom Gip­fel ei­nes Ber­ges her­un­ter­rol­len wür­de. Am an­de­ren Ran­de des un­ters­ten Hohl­we­ges sprang es auf und flog in ho­hem Bo­gen auf den Kies, wo es wie ein Ei zer­platz­te.

Dort hob man die Lie­ben­den auf. Sie wa­ren zer­schla­gen und zer­malmt, alle Glie­der ge­bro­chen, aber im­mer noch eng ver­schlun­gen. In ih­rer Angst hat­ten sie die Arme um den Na­cken ge­schla­gen, als wäre es aus Lie­be ge­sche­hen…

Der Pfar­rer er­laub­te nicht, dass ihre Lei­chen in die Kir­che ka­men, auch ver­wei­ger­te er den Se­gen an ih­ren Sär­gen. Und am Sonn­tag bei der Pre­digt sprach er don­nernd vom sechs­ten Ge­bo­te Got­tes des Herrn und droh­te den Lie­ben­den mit rä­chend er­ho­be­nem Arm und ge­heim­nis­vol­ler Mie­ne, in­dem er ih­nen das Bei­spiel der bei­den Un­glück­li­chen vor­hielt, die in ih­rer Sün­de ge­stor­ben wa­ren.

Als er die Kir­che ver­ließ, nah­men zwei Gen­darmen ihn fest. Ein Zoll­wäch­ter, der im Guck­loch ge­le­gen hat­te, hat­te al­les ge­se­hen. Er wur­de mit Zucht­haus be­straft.

*

Und der Bau­er, von dem ich die­se Ge­schich­te habe, setz­te ernst hin­zu:

– Ich habe ihn noch ge­kannt, Herr, ich selbst. Er war ein stren­ger Mann und von der Lie­be woll­te er über­haupt nichts wis­sen.

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