Читать книгу Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant - Страница 17

Die Totenwache

Оглавление

Sie war ru­hig ge­stor­ben, ohne To­des­kampf, wie ein Weib, das ein un­sträf­li­ches Le­ben hin­ter sich hat, und nun lag sie mit ge­schlos­se­nen Au­gen und fried­li­chen Zü­gen auf ih­rem Bet­te, als ob sie schlie­fe; ihr lan­ges wei­ßes Haar war sorg­fäl­tig fri­siert, als ob sie es erst zehn Mi­nu­ten vor ih­rem Tode ge­ord­net hät­te. Ihr mar­mor­nes To­ten­ant­litz drück­te sol­che Samm­lung und Ruhe, eine sol­che Er­ge­bung aus, dass man sich wohl vor­stel­len konn­te, wel­che schö­ne See­le in die­sem Kör­per ge­wohnt, wel­ches sturm­lo­se Le­ben die­se hei­te­re Grei­sin ge­führt, wel­ches fried­li­che Ende ohne Qua­len und Ge­wis­sens­bis­se die­se un­sträf­li­che Frau ge­fun­den hat­te.

An ih­rem Bet­te knie­ten in ver­zwei­fel­tem Schluch­zen ihr Sohn, ein Be­am­ter von un­beug­sa­men Grund­sät­zen, und ihre Toch­ter Mar­gue­ri­te, die als Non­ne Schwes­ter Eu­la­lia hieß. Sie hat­te sie in stren­ger Moral er­zo­gen, im Glau­ben ohne Wan­kel­mut un­ter­wie­sen und mit un­wan­del­ba­rem Pf­licht­ge­fühl be­seelt. Der Sohn war Be­am­ter ge­wor­den; er hielt das Ge­setz hoch und schlug die Läs­si­gen und Saum­se­li­gen mit un­er­bitt­li­cher Stren­ge. Und die Toch­ter war im Dran­ge der Tu­gend, mit der sie die­ses from­me Haus er­füllt hat­te, und weil sie die Men­schen ver­schmäh­te, Got­tes Braut ge­wor­den.

Ihren Va­ter hat­ten sie nicht ge­kannt; sie wuss­ten nur, dass er ihre Mut­ter un­glück­lich ge­macht hat­te; Ein­zel­hei­ten hat­ten sie nie er­fah­ren.

Die Non­ne drück­te in ir­rem Schmerz einen Kuss auf die her­ab­hän­gen­de El­fen­bein­hand der To­ten, eine wah­re Chris­tus­hand. Die an­de­re Hand, die auf der an­de­ren Sei­te des hin­ge­streck­ten Kör­pers ruh­te, hat­te sich noch vom To­des­kampf her mit ir­ren­dem Tas­ten in das Bett­tuch ge­krampft, und das Lei­nen lag noch in klei­nen wei­ßen, wel­li­gen Fal­ten, wie in Erin­ne­rung an die­se letz­ten Be­we­gun­gen, die der ewi­gen Un­be­weg­lich­keit vor­aus­ge­hen.

Es klopf­te lei­se an die Tür und die bei­den ver­wein­ten Ge­sich­ter blick­ten auf. Es war der Pries­ter, der vom Es­sen kam und eben ein­trat. Er war rot und pus­te­te von der be­gin­nen­den Ver­dau­ung, denn er hat­te viel Co­gnac in den Kaf­fee ge­gos­sen, um die Mü­dig­keit der letz­ten ver­wach­ten Näch­te und der be­vor­ste­hen­den Nacht zu be­kämp­fen.

Er blick­te trau­rig drein, mit je­ner be­rufs­mä­ßi­gen Trau­rig­keit, hin­ter der die Freu­de über den ein­träg­li­chen To­des­fall grinst. Er mach­te das Zei­chen des Kreu­zes und kam in be­rufs­mä­ßi­ger Gan­gart nä­her. »Mei­ne lie­ben Kin­der«, hub er an, »lasst mich Euch hel­fen, die­se trau­ri­gen Stun­den zu ver­brin­gen.« Aber Schwes­ter Eu­la­lia rich­te­te sich plötz­lich auf und sag­te: »Dan­ke, mein Va­ter, aber es ist un­ser bei­der Wunsch, al­lein bei der To­ten zu blei­ben. Es sind dies die letz­ten Au­gen­bli­cke, wo wir sie se­hen, und da wol­len wir wie­der alle drei zu­sam­men sein, wie einst, als wir… als wir klein wa­ren und un­se­re ar­me… arme Mut­ter…« Wei­ter kam sie nicht; der Schmerz und die her­vor­bre­chen­den Trä­nen er­stick­ten ihre Stim­me.

Der Pries­ter ver­neig­te sich; im Grun­de freu­te er sich auf sein Bett. »Wie Ihr wollt, mei­ne lie­ben Kin­der«, sag­te er sal­bungs­voll, knie­te nie­der, be­kreu­zig­te sich, ver­rich­te­te sein Ge­bet, stand wie­der auf und ver­ließ das Zim­mer mit sanf­ten Schrit­ten. »Sie war eine Hei­li­ge!« mur­mel­te er.

Nun wa­ren sie wie­der al­lein, die Tote und ihre Kin­der. Eine Wand­uhr, die man nicht sah, un­ter­brach das Schwei­gen mit re­gel­mä­ßi­gem Ti­cken, und durch das of­fe­ne Fens­ter quoll der wei­che Duft des Heus und der Wäl­der mit dem sehn­süch­ti­gen Schim­mer des Mon­des her­ein. Al­les war still; nur zit­tern­de Un­ken­ru­fe ver­nahm man, und zu­wei­len das nächt­li­che Sur­ren ei­nes In­sekts, das wie eine Ku­gel her­ein­ge­flo­gen kam und brum­mend an die Wand stieß. Unend­li­cher Frie­den, himm­li­sche Schwer­mut und schwei­gen­de Hei­ter­keit wa­ren um die­se Tote, sie schie­nen von ihr aus­zu­ge­hen und sich be­sänf­ti­gend auf die Na­tur rings­um zu le­gen.

Da schluchz­te der Be­am­te, der noch im­mer auf den Kni­en lag und das Haupt in die Lei­nen­tü­cher des Bet­tes ver­gra­ben hat­te, plötz­lich mit hei­se­rer, herz­bre­chen­der Stim­me durch De­cken und Tü­cher hin­durch: »O Mut­ter! Mut­ter! Mut­ter!« Und die Schwes­ter warf sich wild auf den Fuß­bo­den nie­der und schlug mit ra­sen­der Stirn ge­gen den Bett­pfos­ten. Sie wand sich krampf­haft am Bo­den und zit­ter­te, wie bei ei­nem epi­lep­ti­schen An­fall. »Je­sus! Je­sus! O Mut­ter! Je­sus!« hauch­te sie.

Dann keuch­ten und rö­chel­ten bei­de, wie von ei­nem Schmer­zen­sor­kan ge­peitscht. Nur all­mäh­lich ließ der An­fall nach und mach­te ei­nem sanf­ten Wei­nen Platz, wie wind­stil­le Re­gen­güs­se nach Ge­wit­ter­böen auf to­ben­dem Mee­re.

Erst lan­ge nach­her er­ho­ben sie sich wie­der und be­gan­nen die teu­re Lei­che zu be­trach­ten. Und die Erin­ne­rung, die ges­tern noch so süße, heu­te so quä­len­de Erin­ne­rung, be­fiel ih­ren Geist mit al­len ih­ren ver­ges­se­nen Ein­zel­hei­ten, al­len ih­ren in­ti­men und trau­ten Klei­nig­kei­ten; und die ge­lieb­te Tote leb­te ih­nen wie­der auf. Sie er­in­ner­ten sich der man­nig­fachs­ten Le­bens­la­gen, der Wor­te, des Lä­chelns, des Stimm­falls der Frau, die nun nie mehr mit ih­nen re­den soll­te. Sie ver­ge­gen­wär­tig­ten sie sich in ih­rer glück­li­chen Ruhe, sie ent­san­nen sich al­ler Wor­te, die sie zu ge­brau­chen pfleg­te, und ei­ner ge­wis­sen klei­nen Hand­be­we­gung, die sie bis­wei­len mach­te, wenn sie ein wich­ti­ges Ge­spräch führ­te.

Und sie lieb­ten sie, wie sie sie nie ge­liebt hat­ten, und er­ma­ßen an ih­rer Verzweif­lung, wie teu­er sie ih­nen ge­we­sen war, wie al­lein und ver­las­sen sie jetzt wa­ren.

Sie war ihr Halt, ihr Leit­stern ge­we­sen; ihre gan­ze Ju­gend, die gan­ze fröh­li­che Hälf­te ih­res Da­seins war mit ihr da­hin; das Band, das sie an’s Le­ben ge­knüpft, ihre Mut­ter, der Leib, der sie ge­bo­ren, das Glied, das sie an die Ket­te der Vor­fah­ren ge­bun­den, war zer­ris­sen. Von nun an wür­den sie al­lein und ver­ein­samt sein und nicht mehr zu­rück­bli­cken kön­nen.

– Du weißt, sag­te die Non­ne zu ih­rem Bru­der, wie ger­ne Mama ihre al­ten Brie­fe wie­der las. Sie sind da alle in ih­rer Schub­la­de. Wenn wir sie jetzt le­sen, wer­den wir ihr gan­zes Le­ben in die­ser Nacht noch ein­mal durch­le­ben. Es wäre wie ein Gang auf den Kirch­hof, denn wir wür­den auch ihre Mut­ter und ihre Gro­ß­el­tern ken­nen ler­nen, die wir nicht kann­ten, de­ren Brie­fe auch da sind, und von de­nen sie so oft sprach. Du ent­sinnst dich doch? –

Und sie nah­men aus der Schub­la­de ein Dut­zend Päck­chen von ver­gilb­tem Pa­pier, die sorg­fäl­tig zu­sam­men­ge­bun­den und auf ein­an­der ge­legt wa­ren. Sie war­fen die­se Re­li­qui­en auf das Bett und nah­men ein Päck­chen mit der Auf­schrift »Va­ter« her­aus, mach­ten es auf und la­sen.

Es wa­ren alte Epis­teln, wie man sie in al­ten Fa­mi­li­en-Schreib­ti­schen vor­fin­det, Epis­teln, die nach dem letz­ten Jahr­hun­dert schmeck­ten. Die ers­te be­gann: »Mein Herz­chen«, eine an­de­re »Mein lie­bes klei­nes Mäd­chen«, wie­der an­de­re: »Lie­bes Kind« und schließ­lich auch »Mei­ne lie­be Toch­ter.« Und plötz­lich be­gann die Non­ne laut zu le­sen – der To­ten ihre ei­ge­ne Le­bens­ge­schich­te vor­zu­le­sen, all ihre hol­den Erin­ne­run­gen, und der Be­am­te hör­te auf­merk­sam zu, wäh­rend er einen El­len­bo­gen auf das Bett stütz­te und sei­ne Mut­ter an­blick­te. Die Lei­che lag un­be­weg­lich; ihr schi­en wohl zu sein.

Schwes­ter Eu­la­lia hielt plötz­lich inne und sag­te: »Wir soll­ten sie ihr alle ins Grab le­gen, ihr ein Lei­chen­tuch dar­aus ma­chen und sie dar­in be­gra­ben.« Dann nahm sie ein andres Päck­chen zur Hand, das kei­ne Auf­schrift trug, und be­gann mit lau­ter Stim­me: »An­ge­be­te­tes Weib! ich lie­be dich bis zur Be­ses­sen­heit. Seit ges­tern schmach­te ich wie ein Ver­damm­ter im Fe­ge­feu­er; die Erin­ne­rung an dich ver­zehrt mich. Ich füh­le dei­ne Lip­pen noch auf mei­nen Lip­pen, dei­ne Au­gen noch in mei­nen Au­gen, dei­ne Brust an mei­ner Brust. Ich lie­be dich! Ich lie­be dich! Ra­send hast du mich ge­macht. Mei­ne Arme stre­cken sich dir ent­ge­gen. Ich atme be­klom­men und seh­ne mich un­end­lich, dich noch ein­mal mein zu nen­nen! Mein gan­zes We­sen schreit nach dir! Auf mei­ner Zun­ge liegt mir noch der Ge­schmack dei­ner Küs­se«…

Der Be­am­te hat­te sich hoch auf­ge­rich­tet, die Non­ne hielt inne. Er riss ihr das Blatt aus der Hand und such­te nach der Un­ter­schrift. Es stand nichts dar­un­ter, als die­se Wor­te: »Dein dich an­be­ten­der« und dar­un­ter »Hen­ry.« Ihr Va­ter hat­te René ge­hei­ßen. Er konn­te es also nicht sein. Da wühl­te der Sohn mit zit­tern­der Hand in den Päck­chen her­um, riss ein an­de­res Schrei­ben her­aus und las: »Ich kann es ohne dei­ne Lie­be nicht mehr er­tra­gen«… Er war auf­ge­stan­den, streng, als ob er von sei­nem Richter­stuhl auf­stün­de, und sah die Tote un­ver­wandt an.

Die Non­ne stand hoch auf­ge­rich­tet, wie ein Mar­mor­bild, und blick­te, wäh­rend Trä­nen ihr in die Au­gen­win­kel tra­ten, ih­ren Bru­der er­war­tungs­voll an. Der aber schritt lang­sam durchs Zim­mer bis an’s Fens­ter und starr­te träu­mend in die Nacht hin­aus.

Als er sich um­dreh­te, stand Schwes­ter Eu­la­lia, jetzt tro­ckenen Au­ges, noch im­mer am Bet­te der To­ten und senk­te das Haupt.

Er trat wie­der nä­her, hob die Brie­fe has­tig auf und warf sie durch­ein­an­der in die Schub­la­de, dann zog er den Bett­vor­hang schwei­gend zu.

Und als die Ker­zen, die auf dem Ti­sche brann­ten, im Ta­ges­schein ver­bli­chen, er­hob sich der Sohn lang­sam aus sei­nem Lehn­stuhl, ohne die Mut­ter, die er so von ih­ren Kin­dern ge­trennt und ver­dammt hat­te, noch ei­nes Blickes zu wür­di­gen, und sag­te in lang­sa­mem Tone: »So, Schwes­ter, nun kön­nen wir zur Ruhe ge­hen!«

*

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

Подняться наверх