Читать книгу Blutiges Automatengeld oder Neid, Gier, Tod - Hajo Heider - Страница 5
Fluchtstrategie
ОглавлениеDraußen war Nacht, das Büro unfreundlich kühl. Ihre Jacken hingen auf Bügeln. Bramerthals Pistole steckte im Schulterhalfter. Rot kariertes Kurzarmhemd, er strich sich über die Arme, um die gelben Härchen zu glätten.
Die Chefin erklärte: „Der Leitende Direktor rief mich nach dem Alarm an und gab mir die Anweisung, Sie bei diesem Fall möglichst selbstständig arbeiten zu lassen.“
Schroth und Bramerthal wuchsen unter der Last von Verantwortung.
„Ich fürchte, der LD täuscht sich, hinsichtlich der Einfachheit des Falls“, schränkte die Chefin ein und sprach weiter, mit süffisantem Lächeln. „Der LD vermutet anscheinend, wir können die Täter aus dem Ärmel schütteln.“
KHK Elisabeth Schnürle hatte die Absolventen Johannes Bramerthal und Axel Schroth nach Göppingen geholt. Bramerthal erinnerte sich in diesem Augenblick an das Lampenfieber, das er beim ersten Eintritt ins Büro gespürt hatte. Mit einem Scherz wollte er sich locker machen.
„Das ist keine Normtür“, hatte er sich empört.
Die Chefin hatte trocken erwiderte: „Herr Bramerthal, sie sollten keine Pumps tragen.“
Seine flache Hand passte noch zwischen Türrahmen und Haar.
„Der LD ging vom einmaligen Fall eines Einzeltäters aus, aber wir haben die Handschrift einer Tätergruppe erkannt, die mindestens aus drei Personen besteht, sodass wir eine Spontantat ausschließen können.“
„Heißt Tätergruppe gleich Organisiertes Verbrechen?“, fragte Schroth gereizt. Er wartete auf keine Antwort, sondern fuhr fort: „Weshalb sollen wir den Fall behalten, wenn uns das LKA in einer Woche die Lorbeeren stielt?“
Schnürle zupfte an ihrem Blusenkragen. Sie wollte Schroths Abneigung gegen das LKA abschwächen und fragte: „Weshalb fürchten sie sich vor dieser Truppe?“
„Der Gedanke, wir nähern uns dem Ziel bis ein paar Klugscheißer kommen die nur Schaden anrichten, widert mich an“, sagte Schroth.
„Herr Schroth, wie sich so ein Fall entwickelt, können wir selten voraussehen. Sollte die Tätergruppe über den Bereich unseres zuständigen Präsidiums hinaus aktiv werden, käme das LKA automatisch ins Spiel und sollte die Gruppe im Bundesgebiet aktiv werden, müsste das BKA koordinieren. Letztlich verwendet die Polizei weltweit die gleiche Methodik, die sich nur durch Gründlichkeit unterscheidet. Wer persönlichen Erfolg sucht, arbeitet mit dem falschen Ansatz.“
Schroth knurrte mürrische Laute.
„Wir gehen an jede Tat mit der Überzeugung, dass wir sie aufklären werden. Der Blick nach hinten verbraucht kostbare Energie. Bisher spekulieren wir nur.“
„Ist mir schon klar“, sagte Schroth.
„Wir müssen uns außerdem auf Varianten durch Trittbrettfahrer vorbereiten. Die Entscheidung, ob das LKA zuständig ist, hängt nicht vom Wort organisiert ab.“
Sie wartete das zögerliche Zeichen des Verstehens ab.
„Wie gehen wir vor?“
Sie nickte zu Bramerthal.
„Ablaufanalyse wäre wohl das richtige Stichwort.“
Sie ging zur Flipchart, aber weder Bramerthal noch Schroth waren innerlich auf den Fall vorbereitet.
Die Chefin sagte: „Da es sich um den ersten bekannten Fall von Automatensprengung handelt, dürfen wir ein Übungsstück der Täter vermuten. Das Tatmotiv ist Geldbeschaffung, das Wozu klammern wir bei der ersten Betrachtung aus.“
Bramerthal erhob sich und ging von Wand zu Wand, vorbei an den zwei Fenstern. Er starrte dem Morgen wütend ins sonnige Gesicht.
„Müssen wir geduldig warten bis der nächste Automat explodiert?“, fragte er.
„Wir werden ein genaues Bild des Ablaufs erarbeiten, um den Modus Operandi zu erkennen. Mit diesem Wissen versuchen wir, Trittbrettfahrer zu lenken. Der Modus Operandi wird idealerweise eine Prognose zu weiteren Sprengungen ermöglichen.“
„Ähnlich einer Wettervorhersage.“
Bramerthals zynischer Kommentar wurde mit zustimmendem Kopfnicken honoriert.
Axel Schroth fragte: „Was hilft’s, wenn wir Trittbrettfahrer erkennen?“
„Wir müssen die Täter bis in die Details von Vorbereitung, Ausführung und Fluchtstrategie kennenlernen.“ Sie wandte sich an beide Mitarbeiter. „Haben wir einen Grund, uns vor dem LKA zu verstecken? Wir werden in jedem Fall eine Menge lernen. Ob das unser Fall bleibt, ist bedeutungslos.“
Sie zog das >Handbuch des Ermittlers von E. Schnürle< aus dem Bücherregal.
„Ich muss nachlesen, was ich geschrieben habe und notfalls korrigieren. Sie können mein Exemplar benützen, aber danach zurückstellen, weil ich Randnotizen für die nächste Ausgabe mache.“
Sie schob das Buch ins Regal zurück.
„Ab jetzt befinden Sie sich im Alltag des Ermittlers.“
Sie schrieb auf die Flipchart: >gesicherte Informationen<, >Vermutungen<, >Folgerungen<.
Aus Bramerthal sprudelten Stichworte, ihr Schreiber flog übers Papier. Nebenbei erklärte sie die Begriffe, die, in der Mühle der Ermittlung zu Beweisen gemahlen werden sollten. Nach dem Versiegen der Ideen betrachteten sie Tatortfotos auf Schnürles Bildschirm. Das Überwachungsfoto aus dem Automatenraum war in Schwarz-Weiß. Die Skimaske beulte sich stark aus. Der Mann war sehr groß, seine Augen fehlten auf dem Foto. Er überschritt die von Bramerthal definierte Normalgröße, seine Schulterbreite überforderte die Kamera ebenfalls.
Bramerthal zählte seine Beobachtungen auf und schloss: „Der Mann ist extrem groß und hat eine gewaltige Nase.“
Schnürle schob die zweite Kassette ins Gerät. Eine Strecke, längs der linken Hauswand, wurde von der Videokamera erfasst.
„Die Zeugen hatten gut beobachtet. Die kleine Person ist eindeutig eine Frau. Der Gang, die Hüften, ihre Kleidung könnte Schick vertragen“, sagte Schnürle. „Hinter dem Mann ist sie unscheinbar.“
Der Gang des Riesen war der hochbeinige Trab eines Gepards. Die Frau wirkte durch ihre kurzen Schritte kindlich. Ein Schritt des Riesen erforderte drei mädchenhafte Hüpfer.
„Ich vermute Kinderarbeit“, sagte Schroth.
Bramerthal setzte seine Tasse ab, weil er lachen musste.
Das Video lief drei Mal. Der Rucksack hing auf dem breiten Rücken wie ein Furunkel, obwohl er Geld und Werkzeug enthielt.
„Der Rucksack bietet Potenzial zur Spekulation, denn …“ Nach längerem Nachdenken sprach sie weiter. „Er ist für das Mädchen eingestellt. Im Auto braucht sie vermutlich keinen Rucksack.“ Sie wartete einige Sekunden und fragte: „Was jetzt?“
Sie schien über ihre eigene Feststellung erstaunt, reflektierte mit halb geschlossenen Augen, bevor sie weitersprach.
„Das Mädchen wird den Rucksack tragen. Sie könnte mit der Bahn fahren, zu Fuß gehen, wird sie …“ Sie schwieg wieder, um mit neuem Atem in Schroths Richtung zu sprechen. „Wir sind an dem Punkt angelangt, der bei der Fluchtbewegung besonders wichtig scheint. Das Mädchen übernimmt den Rucksack, um was zu tun?“
„Natürlich ist der Rucksack mit Vorsatz für die Frau eingestellt“, sagte Schroth, ohne einen Erklärungsversuch zu liefern.
Schnürle suchte einen neuen Ansatz.
„Die gesamte Tatausführung möchte ich klobig nennen. Es hat funktioniert, was wie der geglückte Anfang einer erfolgreichen Karriere wirkt.“
Die Mitarbeiter stimmten zu.
Sie fragte weiter: „Was würden wir verbessern?“
Die Ermittler machten sich über Auffälligkeiten Gedanken.
„Der gläserne Teppich auf der Straße war ein Anfängerfehler“, sagte Bramerthal.
„Was leiten Sie daraus ab?“, wandte sie sich an Schroth.
„Die Wucht der Explosion war zu groß“, sagte Schroth. „Die Glastür sollte geöffnet bleiben, denn die Splitter könnten Personenschäden verursachen. Ich kenne viele Automaten ohne Glastür, warum also?“
„Den großen Mann würde ich zu Hause lassen. Allen Zeugen fiel er auf. Er wird uns garantiert nie mehr begegnen“, vermutete Bramerthal.
Sie klebte ein Transparentblatt über den Stadtplan und zeichnete den Weg des Wagens, ausgehend vom Automaten, mit rotem Filzstift. Den Fußweg der Sprengmannschaft zeichnete sie blau, die Wege trafen sich in der Gottfried-Kinkel-Straße.
„Die Gruppe hat sich mit der Örtlichkeit beschäftigt und mindestens eine nächtliche Probefahrt unternommen, aber etwas fehlt in unserer Überlegung“, sagte Schnürle.
Bramerthal zeigte mit dem Laserpointer die Strecke zur B10 und schüttelte ablehnend den Kopf.
„Die Bande wird in keine vorhersehbare Falle stolpern. Wir sollten uns eine intelligente Fluchtstrategie überlegen.“
Er schwieg, die Chefin ermunterte ihn, weiterzusprechen.
„Das Mädchen steigt mit dem Rucksack aus. Der Wagen ist danach sauber.“
„Geht sie in die Jugendherberge?“ fragte Schroth.
„Nein und nein“, sagte Bramerthal empört. „Sie besteigt ein Motorrad.“
Er ging zu Schnürles Bildschirm, die anderen folgen. Plötzlich erkannten sie den derben Stoff und den Schnitt einer Motorradkleidung.
„Entweder geht sie zu einem versteckten Motorrad, oder der Fahrer wartet entlang der Fluchtstrecke.“ Schnürle zeigte Wegalternativen und setzte den begonnenen Gedanken fort. „Das Mädchen schätzen wir auf vierzehn oder fünfzehn. Sie wird nicht selbst Motorrad fahren, also ist sie Beifahrerin. Sie wird schnellstens zu dem Motorradfahrer gehen, der hinter Hecken oder Bäumen wartet.“
Ihr Laserpunkt kreiste um eine grüne Stelle, in der Nähe des Freibads.
„Das sieht aus, wie ein ideales Versteck?“
Der rote Punkt wanderte weiter.
„Sofern wir am Freibad nicht fündig werden, schauen wir hier. Die Übergabe an ein Motorrad ergibt einen konsistenten Ablauf. Wir prüfen unsere Überlegung, bevor die Spuren verwischt sind.
Schnürle und ihre Mitarbeiter fuhren zum Tatort. Sie suchten Einblick in das Täterverhalten. Die Tat wurde extrem schnell ausgeführt, weshalb die Zeugen keine entscheidende Beobachtung gemacht hatten. Nach viermaligem rechts Abbiegen gelangte ihr Wagen in die Boßlerstraße. Von hier sahen sie die Ecke der Sparkassenfiliale.
Der Wagen der Ermittler glitt zur Holzheimer Straße. Vier Augen prüften den Straßenrand. Schroth stoppte zehn Meter vor dem Zaun, der die Liegewiese des Freibads begrenzte. Sie stiegen aus. Mit gesenkten Blicken tasteten sie sich über den trockenen Rasen. Entlang des Radwegs boten Baumschatten Deckung und gleichzeitig freie Sicht. Sie gingen den Radweg mehrfach auf und ab, weil sie eine Schuhabdruckspur der Größe 36 finden wollten. Am Straßenrand erkannte Schnürle eine Stelle, wo ein grobstolliges Hinterrad Erde geschleudert hatte.