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Bingöl
ОглавлениеNach drei Stunden kamen wir in Bingöl an, die Sonne schien heiß vom Himmel, es war Nachmittag.
Rund um Bingöl lagen Berge mit Gletschern, man kam sich fast vor wie in der Schweiz. Die Stadt hatte knapp 70000 Einwohner. Fuat fuhr zuerst zum Großmarkt, wo er die Aprikosen ablud. Er rauchte mit dem Vorarbeiter eine Zigarette, dann fuhren wir raus zu seinen Eltern. Wir verließen das Stadtgebiet Richtung Mirzan nach Südwesten. Hinter Mirzan bogen wir in einen Feldweg ein und kamen nach hundert Metern zu Fuats Elternhaus. Fuat stellte den Motor ab und stieg aus. Sofort kam ein großer Hund kläffend angerannt. Ich stellte mich neben Fuat, wo mich der Hund beschnupperte, knurrend. Fuat sagte, ich sollte keine Angst haben, der Hund würde nur bellen. Dann kamen zwei alte Leute aus dem Haus, Fuats Eltern. Fuat ging auf sie zu und umarmte beide, sie lachten und freuten sich, sich wiederzusehen. Inzwischen hatte ich mich sogar getraut, den Hund zu streicheln, er wedelte mit dem Schwanz. Dann schüttelte ich Fuats Eltern die Hände und Fuat stellte mich vor. Offensichtlich hatte Fuat seinen Eltern gerade von meinem Vorhaben erzählt, denn ihre Mienen versteinerten plötzlich. Schnell kehrte aber das freundliche Lachen zurück.
Wir setzten uns vor das Haus und Fuats Mutter brachte Cay und Baklava raus. Wir tranken und aßen in aller Ruhe. In einer Stunde würde es Abendessen geben, sagte Fuats Mutter. Wie nett doch die Menschen bislang alle waren!
Dann stand Fuat auf und bat mich, mitzukommen. Er zeigte mir sein Zuhause, das Haus, den Stall, das Grundstück und die Weideflächen, immer war der große Hund bei uns, er hatte sich vollkommen beruhigt. Dann gingen wir ins Haus, wo Fuats Mutter das Abendessen auftrug. Es duftete herrlich nach Kräutern und gebratenem Fleisch. Im Haus war es relativ dunkel, ein großer Kaminofen diente als Heizung und Kochstelle. Vor dem Ofen stand ein Tisch mit fünf Stühlen. Fuats Mutter servierte Joghurt mit Tomaten, Gurken, Paprika und Kräutern, Cacik genannt, dann gab es gebratenes Zicklein mit einer hervorragend schmeckenden Kräutersauce und Pide (Fladenbrot), zum Nachtisch gab es Milchreis mit karamellisierter Oberfläche, Sütlac hieß der.
Fuats Vater hatte sogar Bier im Haus, jeder bekam eine Flasche „Efes“, es wurde auch Raki gereicht, der mit Eiswasser verdünnt wurde. Nach dem Essen musste ich erzählen, Fuat übersetzte, das war zwar mühsam, wenn sich alle anstrengten, klappte das aber. Fuats Mutter hatte mir im Wohnraum in einer Ecke eine Schlafstätte bereitet. Die Toilette war hinter dem Haus, man musste eine Kerze als Leuchte mit hinaus nehmen. Wasser gab es aus dem Brunnen. Ich fand das sehr romantisch, zu Hause schlüge man die Hände über dem Kopf zusammen, vor allem wegen des Plumpsklos. Ich konnte meinen Schlafsack immer noch unbenutzt lassen, Fuats Mutter hatte mir Bettwäsche hingelegt. Fuats Eltern erzählten, dass sie mittlerweile seit über vierzig Jahren in dem Haus lebten. Fuat würde einmal alles erben, er würde dann sicher alles verkaufen und in die Stadt ziehen. Fuat widersprach nicht. Sie hätten noch dreißig Ziegen zu versorgen. Ziegenkäse und Ziegenmilch würden sie nach Bingöl verkaufen. Sie wären noch nie aus Bingöl weggefahren, irgendjemand müsste sich schließlich um das Vieh kümmern und wo sollten sie denn auch hin?
Fuats Vater hatte hinter dem Haus Bienenstöcke, er schleuderte den Honig selbst. Aus dem Honig stellte Fuats Mutter türkischen Honig her, eine extrem süße Speise. Die beiden Alten waren mit ihrem Leben zufrieden. Ich erzählte von meiner Schulzeit, die ich glücklich hinter mich gebracht hatte. Dann berichtete ich von Aydin, meinem ehemaligen Klassenkameraden, bei dessen Eltern ich in Istanbul gewohnt hatte, von dem quirligen Leben in Istanbul, wo die Menschen Schulter an Schulter durch die Straßen liefen. Die Alten fragten sich, wie man so leben könnte. In der Ecke des Wohnraumes stand ein Fernseher, ab und zu sahen sie Bilder aus Istanbul und schüttelten dann mit dem Kopf. Nie würden sie ihren Hof für eine Wohnung in Istanbul oder einer anderen Großstadt tauschen wollen. Wir gingen früh zu Bett, ich war rechtschaffen müde.
Auf meinem Lager im Wohnzimmer schlief ich ausgezeichnet. Früh am Morgen hörte ich Fuats Mutter herumwerkeln, sie war mit dem Frühstück beschäftigt. Ich stand auf, wünschte ihr einen guten Morgen und ging auf den Hof, um mich am Brunnen zu waschen. Es war noch frisch draußen, das kalte Brunnenwasser erschreckte einen, tat aber gut. Ich hörte die Ziegen auf der Weide, einige hatten Glocken um den Hals gebunden. Es roch etwas streng, aber nicht unangenehm. Dann kam Fuat und rieb sich den Schlaf aus den Augen, er fragte, ob ich gut geschlafen hätte. Ich bejahte und sah, wie die Sonne hinter den Bergen aufging, das war eine tolle Morgenstimmung. Fuat wusch sich ausgiebig, ihm machte das kalte Wasser nichts aus. Dann gingen wir zusammen frühstücken. Fuat hatte einen Tag frei und wollte mir Bingöl zeigen, ich war einverstanden. Inzwischen war auch Fuats Vater aufgestanden und saß schon am Frühstückstisch. Ich wünschte ihm einen guten Morgen, er mir Allahs Segen. Beim Frühstück wurde nicht viel geredet, es gab leckeren Honig und selbst gemachte Marmelade, Fuats Mutter hatte für den Besuch aus Deutschland sogar Kaffee gekocht. Das fand ich sehr aufmerksam und nahm dankend eine Tasse. Der Hund war hereingekommen und fraß aus seinem Napf die Knochen, die vom Abend zuvor übrig geblieben waren. Nach dem Frühstück ging Fuat mit mir hinaus auf die Ziegenweide. Die Weide war ein Hanggrundstück und stieg ziemlich steil an. Auf der Weide standen Aprikosen-, Apfel- und Kirschbäume. Fuat setzte sich mit mir unter einen Aprikosenbaum und fing an, mir mit seinem gebrochenen Deutsch etwas über die Kurden zu erzählen. Abdullah Öcalan wäre ein guter Mann gewesen. Als er 1999 wegen Hochverrates festgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, waren alle sehr traurig. Aber es mischte sich auch Wut unter die Trauer, viele Kurden wurden fanatische Kämpfer gegen die türkischen Nationalisten, sie wollten einen von der Türkei losgelösten Staat in Ostanatolien. Ich sagte, dass es auch in Deutschland Demonstrationen zur Befreiung Öcalans gegeben hätte, die PKK hätte dazu aufgerufen. Fuat meinte, dass Bingöl mitten im Siedlungsgebiet der Kurden läge, es lebten in Bingöl fast nur Kurden. Er selbst wäre Kurde, aber kein Fanatiker, könnte aber das Bestreben der Kurden nach Unabhängigkeit verstehen. Er hätte Abdullah Öcalan einmal auf einer Kundgebung in Bingöl erlebt, das wären gute Sachen gewesen, die er da von sich gegeben hätte. Es gäbe niemanden, der seine Position für die kurdische Sache übernehmen könnte, das wäre sehr schade.
Die Ziegen drängten sich in einer Ecke der Weide. Öcalan wurde von vielen geliebt, man vertraute ihm.
Die Ziegen fingen an, wie wild zu meckern.
Die PKK stünde hilflos da, es fände sich auch niemand, der das Charisma Öcalans hätte.
Die Ziegen rannten wie verrückt hin und her und als Fuat das bemerkte, war es schon zu spät.
Die Erde bebte, zwanzig Meter vor uns tat sich eine gewaltige Erdspalte auf und hatte alle Ziegen verschlungen. Der Weidezaun war plötzlich nicht mehr vorhanden, wir waren vollkommen verschreckt und klammerten uns an den Aprikosenbaum. Der Blick zum Hof verhieß nichts Gutes, das Wohnhaus war eingestürzt. Fuat und ich wollten losrennen, als eine zweite Erdbebenwelle einsetzte. Sie riss den Platz vor dem Hof auf. Der Hühnerstall verschwand mitsamt allen Hühnern, der Ziegenstall stürzt in sich zusammen. Fuat schrie „Mama, Papa!“, nichts war zu hören. Es herrschte eine gespenstische Stille. Der LKW stand völlig unversehrt auf seinem Platz vor der Hofanlage. Fuat und ich standen vor den Trümmern des Hauses und riefen nach den Alten, wir räumten ein paar große Schuttstücke weg und fanden sie lebend unter einem Türblatt, das einen sie schützenden Hohlraum abgedeckt hatte. Fuat half beiden hoch und nahm sie in den Arm. Völlig aufgelöst und sprachlos standen wir vor den Trümmern, es herrschte absolute Stille!
Wo war der Hund, man hätte ihn doch bellen hören müssen? Nach einigem Suchen fanden wir den Hund von einem Trümmerstück erschlagen auf dem Hof liegen, er war tot. Fuats Mutter fing an zu weinen. Niemand konnte fassen, was passiert war. Es hatte zwei große Erdbebenwellen gegeben, jede hatte etwa fünf Sekunden angehalten. In der Ferne hörte man die Sirenen von Krankenwagen und Polizei. Fuat nahm seine Mutter in den Arm und sagte, dass sie doch alle froh sein sollten, überlebt zu haben. Wir würden das Haus mit vereinten Kräften wieder aufbauen. Auch der Stall wäre schnell wieder aufgebaut. Fuat beschloss, nach Bingöl rein zu fahren, um zu sehen, ob wir irgendwo helfen könnten. Wir kamen bis zur Fuzuli Caddesi, wo sich eine gewaltige Erdspalte auftat und ein Weiterfahren unmöglich machte. Was wir sahen, war schrecklich. Es stand kein Stein auf dem anderen, Menschen schrien um Hilfe, zum Teil lagen sie halb verschüttet und eingeklemmt unter Trümmern. Ich sah auch völlig zerquetschte Tote, unbeschreiblich, dieses Elend! Hunde hetzten kläffend durch die Straßen, Gasleitungen standen in Flammen, überall brannte es, es roch nach verkohltem Fleisch. Da, wo die Feuerwehr fahren konnte, wurde gelöscht, viele standen auf der Straße und löschten mit Eimern, was natürlich gegen die lodernden Flammen nicht viel half. Obwohl Bingöl Provinzhauptstadt war, gab es in der ganzen Stadt nicht die Hilfsmittel gegen eine solche Naturkatastrophe. Ich ging mit Fuat und seinen Eltern soweit wie wir kamen und wir halfen, so gut wie wir konnten.
Nach zwei Stunden rückte Militär an, unterstützt von Hubschraubern begannen die Soldaten, die Stadt zu sichern und da, wo es möglich war, zu helfen. Plünderungen mussten vermieden werden. Bingöl war ein einziges Trümmermeer. Wir schauten uns an, jeder hatte dreckverschmierte Kleidung an, die Gesichter klebten von Schweiß, es war inzwischen heiß geworden. Fuat sagte, dass wir wieder zurückkehren sollten, wir könnten ohnehin nicht mehr helfen, auch hätten die Soldaten zu verstehen gegeben, dass wir unerwünscht wären. Also fuhren wir wieder zurück. Das Bild, das sich dort bot, war schrecklich, ein einziges Trümmerfeld, zerborstene Fenster und Türen, zersplittertes Holz, kaputtes Geschirr, lediglich die Mauern von Fuats Zimmer waren stehengeblieben und auch der alte Steinofen war relativ intakt. Aber es gab nirgendwo ein Dach und es gab keine Möglichkeit, sich hinzusetzen. Das war das Erste, was wir machten, wir bauten aus einem Türblatt, das wir mit Steinen abstützten einen Tisch, dann nahmen wir zwei Bohlen, stützen auch die mit Steinen ab und hatten zwei Bänke. Wenigstens konnte man so am Tisch sitzen. Fuat und ich suchten in dem Hausschutt nach noch brauchbaren Gegenständen und brachten alles, was wir fanden und was unversehrt war, zum Tisch, auch Cay. Dann machten wir Feuer im Steinofen und baten Fuats Mutter, Cay zu kochen. Wir fanden auch noch einige Baklava vom Vortag, nach dem ersten Tee und einem Stück Gebäck sah die Welt schon ganz anders aus.
Fuat sagte, dass er in Malatya anrufen und sich zwei Wochen Urlaub geben lassen würde. Für die Urlaubszeit wollte er sich den LKW ausleihen, um den gröbsten Schutt wegzufahren. Ich erklärte mich bereit, einige Tage zu bleiben und bei den Aufräumungsarbeiten zu helfen. Fuat fuhr mit mir nach Mirzan, zwei Tonnen Sand und zehn Säcke Zement holen. Als wir wieder zurück waren, ging es sofort an die Arbeit. Mühsam wurde von Hand Speis gemischt und das Haus aus den Trümmern wieder aufgebaut. Die Alten halfen, indem sie von den Steinen, die nicht kaputt waren, den Speis abschlugen. Das ging sehr leicht, weil man früher wohl nicht mit Zement gearbeitet hatte. Ich reichte Fuat immer die Steine und den Speis, Fuat mauerte. Am frühen Abend konnte man tatsächlich schon erste Erfolge sehen.
Fuats Mutter machte sich am Steinofen zu schaffen, sein Vater holte Lebensmittel aus der Vorratskammer, die einmal hinter dem Haus gestanden hatte und relativ unbeschädigt geblieben war. Die Mutter backte Fladenbrot und briet Fleisch. Fast war alles so wie immer, wir saßen aber im Freien. Fuat schlug über die Reste seines Zimmers ein Dach aus Folie, die er mit Balken beschwerte. Dort konnten die Eltern übernachten. Fuat schlief im LKW und ich würde in meinen Schlafsack kriechen und auf der Ziegenweide schlafen. Es wurde schnell frisch und wir machten ein Feuer auf dem Hof. Der Vater hatte Bier und Raki herbeigeschafft, das tat gut, sogar Fuats Mutter trank zwei Raki. Das war die Zeit, wo alle einmal durchatmeten und dankbar waren, noch am Leben und gesund zu sein. Ich war ziemlich müde, die Arbeit hatte mich doch angestrengt, Fuat hatte geschuftet wie zwei Arbeiter auf einmal.
Er hatte das Wohnzimmer bis unter die Fenster schon wieder hochgezogen. Er hatte sich überlegt, das Haus nach energetischen Gesichtspunkten zu bauen. Er würde acht Zentimeter dickes Styropor vor die Klinker setzen und noch einmal die gleiche Wand dagegen bauen. Dann würde er doppelt verglaste Fenster einsetzen und das Dach dämmen, er würde eine Fotovoltaikanlage installieren lassen und ein richtiges Badezimmer bauen. Er würde dann eben mehrere Male kommen müssen und weiter arbeiten. Auch eine Küche würde er seiner Mutter bauen, den Steinofen würde er aber bestehen lassen.
Ich verabschiedete mich, wusch mich am Brunnen, und legte mich auf der Ziegenweide in meinen Schlafsack, ein schönes Gefühl! Ich dachte lange über die schrecklichen Ereignisse nach und musste immer wieder sagen, wie glücklich wir alle sein konnten, mit dem Leben davongekommen zu sein.
Am nächsten Morgen wurde schnell gefrühstückt, dann begruben wir den Hund. Fuats Vater, Fuat und ich gingen durch das Gelände und begutachteten die Schäden, einige Bäume waren entwurzelt, kein Problem. Die beiden großen Erdspalten müsste man verfüllen, in jede würden mit Sicherheit fünf LKW-Ladungen Schutt passen. Fuat bat mich, das zu übernehmen. Ich setzte mich hinter das Steuer des LKWs und fuhr mit dem Vater nach Bingöl. Direkt an der Fuzuli Caddesi war ein Bagger mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Fuats Vater bat den Baggerführer, unseren LKW voll Schutt zu laden, er bot ihm dafür eine Schachtel Zigaretten.
Wir fuhren tatsächlich zehnmal, dann waren die beiden Erdspalten verschwunden. Die oberste Schicht füllten wir mit Mutterboden auf, dann war nichts mehr zu sehen. Fuat kam natürlich allein nicht so schnell voran, seine Mutter half ihm aber, so gut sie konnte. Am Ende des zweiten Tages nach dem Erdbeben war jedenfalls eine Menge passiert und alle waren wieder zufrieden. Fuats Mutter freute sich auf das neue Haus und auch der Vater war froh, den alten Kotten hinter sich gelassen zu haben. Ob sie jemals wieder Ziegen züchten würden, wussten die Alten noch nicht.
Nach vier Tagen war das Wohnzimmer hoch gezogen und Fuat begann, das Dach aus einer Balkenlage zu errichten. Er hatte längst Fenster in Auftrag gegeben, die ich mit seinem Vater abholen sollte. Er hatte die Balkenlage verbrettert und oben und unten mit einer Styroporlage gedämmt. Dann wurde das Dach mit Dachblechen abgedichtet und das Wohnzimmer war wieder bewohnbar. Als nächstes erneuerte Fuat das Dach über seinem Zimmer nach der gleichen Methode. Das Wetter war die ganze Zeit über gut, sodass die Arbeit voran ging. Nach dem vierten Tag sagte ich, dass ich weiter wollte, wenn Fuat meine Hilfe nicht mehr benötigte. Mein letzter Abend in Bingöl war angebrochen.
Fuat sagte, dass er mich mit dem LKW bis nach Ekinyolu bringen wollte, dort könnte ich in den Bus nach Van einsteigen. Er kannte Schleichwege, denn durch Bingöl wäre kein Durchkommen.
Noch einmal saßen wir am Abend zusammen und erzählten am Feuer, die Alten hatten das Unglück, das über sie gekommen war, verwunden. Später erfuhren wir, dass das Erdbeben eine Stärke von 7.2 hatte, also gewaltig war.
Bingöl lag in einem Erdbebengebiet, das letzte Beben hatte es dort 2003 gegeben, es hatte eine stärke von 6.4. Nördlich der Anatolischen Platte verlief ein tektonischer Graben, alle Orte, die dort lagen, waren extrem gefährdet. Am Ende des Grabens lag Istanbul, ein Beben der Stärke in Istanbul wäre eine Katastrophe, nicht auszudenken, wie viele Menschenleben und welche Sachschäden das kosten würde! Aber was sollte man dagegen tun? Die Stadt evakuieren? Man konnte nur auf die Katastrophe warten, so schrecklich das auch war.
Das gleiche Schicksal blühte den Städten am Sankt-Andreas-Graben in Kalifornien.
Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von Fuats Eltern und dankte ihnen für alles. Fuats Mutter gab mir ein Lunchpaket mit, Sesamkringel, Ziegenkäse, Honig, Baklava und Pide. Ich wünschte alles Gute beim Wiederaufbau des Hofes. Dann fuhr ich mit Fuat nach Ekinyolu.
Der Blick auf Bingöl zeigte noch einmal die Verwüstung, die die Stadt getroffen hatte. Auch die kleinen Orte unterwegs waren zerstört. Die Straße war heil geblieben, sodass der Bus fahren konnte. Ich umarmte Fuat und sagte ihm, dass ich mich melden würde, er würde auf jeden Fall Post von mir bekommen. Wir hatten Schlimmes zusammen erlebt, das würde ich so schnell nicht vergessen. Vielleicht käme ich mal zum Duschen in seinem neuen Badezimmer vorbei, scherzte ich. Dann kam der Bus, Fuat hatte Tränen in den Augen, ich auch. Wir winkten uns noch zu. bis der Bus hinter einer Kurve verschwand.
Ich dachte noch lange Zeit an das schreckliche Erdbeben, der Blick aus dem Busfenster zeigte lange noch die Schäden an den Häusern. Ich holte meine Kladde aus dem Rucksack und schrieb die Erlebnisse der letzten Tage auf. Die Fahrt verlief völlig problemlos, zog sich aber mal wieder in die Länge. Wir fuhren zunächst nach Mus, wo wir eine kleine Pause einlegten, ich setzte mich in den Schatten und aß einen Sesamkringel mit Ziegenkäse, meine Wasserflasche füllte ich noch einmal auf. Es war um die Mittagszeit sehr heiß. Mus zeigte reichlich Zerstörungen, aber längst nicht so viele wie Bingöl. Mus lag 1000 m hoch, in der Nähe vereinigten sich der Karasu und der Murat zum Euphrat. Unser nächster Stopp wurde in Tatvan am Van-See gemacht. Dort gab es so gut wie gar keine Verwüstungen. Von Tatvan gab es eine Eisenbahnfähre nach Van. Im Ort wehte ein angenehmes Lüftchen vom See herüber, das die Hitze erträglich machte. Auch lag der See 1729 m hoch, das ließ die Temperaturen nicht ganz so stark ansteigen. Tatvan war ein touristischer Ort, man konnte mit der Fähre zur Insel Akdamar fahren, die Insel wurde gerne zum Grillen und Baden angesteuert. 12 km westlich von Tatvan lag der 3050 m hohe Vulkan Nemrut, er war seit 600 Jahren inaktiv und bildete einen sehr großen Kratersee. Wir fuhren nach unserer Pause weiter nach Van, das waren noch hundertdreißig Kilometer, wozu wir zweieinhalb Stunden brauchten. Van lag auf 850 m Höhe ganz im Osten der Türkei. Wir kamen am späten Nachmittag im Ort an.