Читать книгу Let´s play love: Leon - Hanna Nolden - Страница 3
Оглавление1: Freundinnen
Es war zehn Uhr durch, als Vany wach wurde. Sie wunderte sich, dass niemand sie geweckt hatte. Es war Freitag und eigentlich hätte sie in die Schule gemusst. Entweder hatten ihre Eltern beschlossen, dass sie etwas Ruhe brauchte oder sie war ihnen inzwischen so egal, dass sie sich gar nicht mehr kümmerten. Vany bekam einen Kloß im Hals. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihre Mutter im Amt anrufen sollte. Stattdessen las sie die Nachrichten von Jazz und Leon. Jazz schrieb: »Lass uns nachher mal quatschen! Soll ich nach der Schule vorbeikommen?«
Vany überflog kurz die anstehenden Termine und antwortete: »Ich habe nachher Krankengymnastik und morgen wollte ich mein Team besuchen. Passt dir Sonntag?«
Dann war sie bereit für die Nachricht von Leon: »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Hab dich auch gern, du Pappnase.«
Vany musste grinsen. Sie fühlte sich erleichtert. Endlich gab es mal Reaktionen, die ihr halfen. Jetzt knurrte ihr jedoch der Magen und sie entschied, sich in der Küche nach etwas Essbarem umzusehen. Auf dem Weg durch den Flur betrachtete sie die Fotos an den Wänden. Familienfotos aus der Zeit, als Oma noch lebte. Wie glücklich sie alle ausgesehen hatten! Es fühlte sich nach wie vor seltsam an, durch das Haus zu gehen, aber das Gefühl hatte sich verändert. War es gestern auf eine unangenehme Art seltsam gewesen, fühlte es sich jetzt geradezu fantastisch an. Sie war nach Hause gekommen. Hier gehörte sie her. Sie humpelte die Treppe herunter, bog in die Küche ein und bekam den Schreck ihres Lebens. Am Fenster stand ihre Mutter, einen Becher Kaffee in der Hand.
»Was machst du denn hier?«, rief Vany verblüfft und stellte erschrocken fest, dass das überhaupt nicht nett klang. Das war ja ein toller Einstieg zur Wiedergutmachung! Aber ihre Muter schien es ihr nicht übel zu nehmen. Sie stellte ihren Becher zur Seite und entgegnete: »Ich habe mir freigenommen. Ich wollte dich heute nicht allein lassen und hier sein für den Fall, dass du reden willst. Und außerdem wollte ich dich im Blick haben.«
Ihre Mutter sah heute nicht mehr ganz so blass aus, doch sie hatte tiefe, dunkelblaue Augenringe. Wahrscheinlich hatte sie die Nacht über kein Auge zugetan. Vany verspürte den Impuls, sie zu umarmen, aber sie wusste nicht wohin mit ihren Krücken. Ohnehin war sie nie der Kuscheltyp gewesen und vermutlich hätte eine Umarmung ihre Mutter bloß noch mehr verunsichert. Also sagte sie: »Alles klar. Hier bin ich. Und ich habe einen Bärenhunger.«
»Das ist ja schon mal nicht schlecht«, fand ihre Mutter. »Was willst du denn haben?«
»Am liebsten Rühreier.«
»Setz dich. Ich mach dir welche.«
Vany setzte sich an den Küchentisch und beobachtete ihre Mutter, während sie ihr Kaffee und Orangensaft brachte und anfing, die Eier zuzubereiten. Sie schien froh zu sein, etwas zu tun zu haben. Vany wusste so gut wie Tim, dass ihre Eltern nicht gern über Probleme diskutierten. In der Familie schien die ungeschriebene Regel zu existieren, dass man Dinge besser totschwieg. Dieses Ding jedoch konnte man nicht totschweigen und ihre Mutter hatte offensichtlich keine Ahnung, was sie stattdessen tun sollte. Nachdem Vany sie eine Weile beobachtet hatte, hatte sie genügend Mut gesammelt für folgenden Satz: »Tut mir leid, dass ich euch Kummer bereitet habe.«
Ihre Mutter drehte sich zu ihr um und musterte sie lange mit einem schwer zu deutenden Blick. Dann erwiderte sie: »Es ist passiert. Es lässt sich nicht mehr ändern. Wir müssen nur irgendwie weitermachen, oder?«
Weitermachen. Ja, genau das war es, was Vany in der letzten Nacht beschlossen hatte.
»Ja, das müssen wir«, bekräftigte Vany und hoffte, dass ihre Mutter es richtig deuten würde. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr gelang, das Versprechen, sich nicht mehr umbringen zu wollen, über die Lippen zu bekommen. Sie verpackte den Hoffnungsschimmer anders: »Kannst du mich nachher zur Krankengymnastik fahren?«
Es funktionierte. Das Gesicht ihrer Mutter hellte sich ein wenig auf.
»Selbstverständlich. Das mache ich gern.«
Das Frühstück schmeckte großartig und Vany ließ sich jeden Bissen auf der Zunge zergehen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Mal etwas so gut geschmeckt hatte. Auch der Kaffee war ein Genuss und ließ das Gebräu auf der Polizeiwache zu einem fernen Albtraum verblassen.
So etwas Dummes mache ich echt nie wieder, bestärkte sich Vany in Gedanken.
Als sie fertig gegessen und ihre Mutter den Teller abgeräumt hatte, überlegte sie, was sie tun sollte. Obwohl ihr die gesamte rechte Seite wehtat, dort, wo sie aufgeschlagen war, als der Polizist sie zu Boden gerissen hatte, fühlte sie sich energiegeladen und hätte am liebsten etwas richtig Konstruktives getan. Wäre das verletzte Knie nicht, wäre sie joggen gegangen. Das war das Problem. Sie hatte sich bisher nie für etwas anderes als Sport interessiert. Sie war schon kurz davor, freiwillig etwas für die Schule zu tun, als ihre Mutter ihr plötzlich den Laptop vor die Nase hielt.
»Ich habe letzte Nacht noch einmal diese Kommentare gelesen.«
Vany schluckte. Diese Kommentare. Daran wollte sie lieber gar nicht erst erinnert werden, aber ihre Mutter sprach unerbittlich weiter.
»Ich habe begriffen, dass wir die Situation vollkommen falsch eingeschätzt haben. Du bist nicht computersüchtig. Deine Sucht beschränkt sich auf diesen einen Let’s Player.«
Vany war überrascht, wie leicht ihrer Mutter dieses noch vor kurzem unbekannte Wort über die Lippen ging.
»Seinetwegen warst du in Köln. Und seinetwegen hast du versucht, dich umzubringen. Das hat die Psychologin erzählt, die dein Tagebuch durchgeackert hat.«
Vany hielt den Atem an. Es war schon eine Katastrophe, dass eine Psychologin ihre geheimsten Gedanken gelesen hatte. Dass sie ihren Eltern davon berichtet hatte, war geradezu unerträglich. Sie fiel ihrer Mutter ins Wort, bevor sie weiterreden konnte: »Das Tagebuch existiert nicht mehr. Ich habe all die negativen Seiten herausgerissen. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Versprochen!«
Aber ihre Mutter ging gar nicht darauf ein. Vany begriff, dass sie für diesen Moment geübt hatte. Sie hatte sich die ganze Nacht überlegt, was sie Vany sagen wollte und würde sich nicht davon abbringen lassen: »Daher bekommst du deinen Laptop zurück. Ich nehme an, nachdem dieser junge Mann dich abgewiesen hat, wirst du ihn aus deinem Kopf bekommen. Trotzdem solltest du dir das Video ansehen, das er letzte Nacht hochgeladen hat. Denn es betrifft dich.«
Vany riss die Augen auf. Auf einmal schlug ihr Herz wie wild und sie hätte den Laptop am liebsten gepackt und durchs Küchenfenster geschleudert, damit er bloß nicht mehr mit ihr im selben Zimmer war. Ein Video, das sie betraf? Das konnte nichts Gutes bedeuten! Vor 48 Stunden hätte Vany durch ihre rosarote Brille geguckt und gehofft, es würde so etwas kommen wie: »An das Mädchen, das gestern bei mir im Laden war: Tut mir leid, dass ich dich abgewiesen habe. Ich finde dich süß. Lass mal Kaffee trinken gehen.«
Heute wusste sie, wie unwahrscheinlich das war. Nein, er würde sie nur noch rüder abweisen als er es vor dem Electropoint getan hatte. Doch ihre Mutter erwartete offenbar von ihr, dass sie es sich hier und jetzt ansah, darum fuhr Vany den Laptop hoch und verfehlte dank ihrer zitternden Hände beinahe das YouTube-Icon. Die neuen Benachrichtigungen ignorierte sie. Eine geballte Ladung Beschimpfungen würde sie nicht ertragen. Ihre nächste Konsequenz würde es sein, ihren Account zu löschen. Sie sah das Video, das ihre Mutter meinte sofort. Es trug den Titel »Wie es weitergeht oder eben nicht«. Vany bekam Magenschmerzen. Wegrennen erschien ihr plötzlich eine angemessene Reaktion. Aber ihre Mutter beobachtete sie, also spielte sie das Video ab. Es gab bloß einen schwarzen Hintergrund und Deckx´ Stimme klang fremd und ausdruckslos mit einem Hauch Frank Decker darin. Vany hörte ihm zu und hätte heulen mögen, doch sie riss sich zusammen.
»Hallo, meine lieben Zuschauer. Ich wende mich heute an euch aus einem nicht so schönen Grund. Heute ist mir etwas passiert, von dem ich gedacht habe, dass es mir nie passieren könnte. Ich werde nicht näher darauf eingehen, aber es hat mich geschockt. Ich muss viel nachdenken und im Moment habe ich keine Lust, Videos hochzuladen. Alle Projekte liegen damit erst einmal auf Eis. Bitte hakt nicht nach. Drängt mich nicht. Habt Verständnis, auch wenn ich euch nicht näher erkläre, was geschehen ist. Bis dann, euer Deckx.«
Vanys Gedanken überschlugen sich. Vielleicht war das Video doch nicht so Frank-Decker-like. Immerhin hatte er sie nicht geoutet. Er hatte nicht gesagt: »Die bekloppte Vany96 ist bei mir im Laden aufgetaucht, hat mich angebaggert, eine Scheibe eingeschlagen und versucht, sich vor einen Zug zu werfen.« Das rechnete sie ihm hoch an und für einen winzigen Augenblick wollten sich die alten Deckx-Gefühle in ihr aufbäumen. Sie ließ es nicht zu. Deckx war nicht gut für sie. Deckx wollte sie nicht. Sie schloss den Browser und fuhr den Laptop herunter. Ihre Mutter sah sie gespannt an, aber Vany hatte keine Ahnung, was sie von ihr hören wollte. Sie sehnte sich danach, mit Jazz zu reden, obwohl es Ewigkeiten dauern würde, ihr alles zu erklären. Mit ihrer Mutter wollte sie sich jedenfalls nicht darüber austauschen.
»Ich bin oben, wenn du mich suchst.«
Die Reaktion schien ihrer Mutter nicht zu passen. Sie nahm sie am Ärmel und fragte ängstlich: »Du machst doch keinen Unsinn, oder?«
Vany musste sich beherrschen, nicht genervt aufzustöhnen. Wie oft würde sie ihren Eltern von heute an versichern müssen, dass sie nicht vorhatte, sich umzubringen? Fünfmal am Tag? Oder besser gleich zehnmal?
»Ich geh duschen«, sagte sie und machte sich los.
Vany schloss sich im Bad ein und lehnte sich gegen die Tür. Sie verstand gar nichts mehr. Nachdem sie ihr Tagebuch bereinigt und sich selbst geschworen hatte, von nun an alles anders zu machen, hatte sie sich beschwingt gefühlt. Sie hatte erwartet, dass ihre Mutter darauf eingehen würde, dass sie es bemerken und sie dafür loben würde. Stattdessen bekam sie Misstrauen und komische Blicke. Vany spürte die Wut in sich. Die gleiche Wut, die sie dazu gebracht hatte, auf den Schwabbelschrank einzuprügeln und die Scheibe zu zertrümmern. Sie wollte nicht mehr wütend sein. Sie wollte positiv denken und nach vorn schauen! Sie ging unter die Dusche und stellte das Wasser so kalt, wie sie es gerade ertragen konnte. Während sie dastand, unterzog sie ihr Knie einer genaueren Untersuchung. Es fühlte sich überhaupt nicht gesund an. Es trug sie nicht und war immer noch geschwollen. Sie wusste, dass sie Geduld haben musste, auch wenn ihr das verdammt schwerfiel. Vany blieb unter der Dusche, bis sie am ganzen Körper vor Kälte zitterte. Die Wut war verflogen. Wenigstens etwas. In ihrem Zimmer suchte sie sich möglichst helle Kleidung heraus, um den anderen zu demonstrieren, dass ihre Stimmung sich aufgehellt hatte. Nachdem ihre Mutter am Vormittag jedoch schon nichts davon mitbekommen hatte, hatte sie wenig Hoffnung, dass irgendjemand es bemerken würde. Erst als sie sich fertig angezogen hatte, stellte sie fest, dass ihre Mutter ihr den Laptop auf den Schreibtisch gelegt hatte. Es war vermutlich gut gemeint. Eine Art Friedensangebot. Trotzdem fühlte sich Vany unwohl dabei. Sie betrachtete das Gerät, als wäre es eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte. Kurz entschlossen schnappte sie das Ding und schob es in das Fach unter der Schreibplatte. Sie legte noch ein paar Bücher davor, damit sie es bloß nicht sehen musste. Jetzt fühlte sie sich etwas besser. Sie blickte auf ihr Handy. Jazz war mit einem Treffen am Sonntag einverstanden. Wenigstens klappte einmal etwas. Sie setzte sich auf ihr Bett und überlegte, was sie tun sollte. Der Laptop war aus ihrem Blickfeld verschwunden, allerdings nicht aus ihren Gedanken. Es gab so vieles, worüber sie hätte nachdenken sollen, aber lieber hätte sie sich abgelenkt. Ihr Blick fiel auf die Xbox, die noch an ihren Fernseher angeschlossen war. Damit hatte alles angefangen. Mit Fußballgott 2016. Irgendwann hatte sie dann nur noch Let’s Plays gesehen und das Spiel nicht mehr weiter verfolgt. Tim war ohnehin nur mit Lernen beschäftigt und nach dem, was zwischen ihnen vorgefallen war, bezweifelte Vany, dass es jemals wieder so werden würde wie früher. Trotzdem reizte es sie, diesen Moment wieder aufleben zu lassen. Sie schaltete Fernseher und Xbox ein und begann zu zocken. Das Spiel forderte sie längst nicht so wie am Anfang und ihr Ehrgeiz war verpufft. Noch immer gelang ihr nicht alles, doch auf einmal machte es ihr nicht mehr so viel aus, zu verlieren. Sie war richtig stolz auf sich, als sie das erkannte, und das Spiel machte ihr mehr Spaß denn je. Sie bekam ein paar Stunden totgeschlagen und schließlich stand Tim in der Tür und sah ihr schweigend zu. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihn bemerkte. Vany beschloss, einen Vorstoß zu wagen, und fragte: »Willst du mitspielen?«
Die Antwort, ein desinteressiertes »Hab zu tun.«, gefiel ihr ganz und gar nicht. Was war bloß los mit ihrer Familie? Sie gab sich die größte Mühe, alles wieder geradezubiegen und niemand kam ihr entgegen? Aber so schnell gab sie nicht auf.
»Ist doch Wochenende!«
Sie ließ das Spiel pausieren und drehte sich zu Tim um. Er sah sie säuerlich an. Sie hatte keine Ahnung, was sie falsch gemacht hatte. Sie war freundlich gewesen, heiter. So, wie man sich eine kleine Schwester wünschen sollte. Und er schüttelte abfällig den Kopf und sagte: »Ich versteh dich einfach nicht. Gestern willst du dich vor einen Zug werfen und heute tust du so, als wäre nie was gewesen? Sorry, das ist mir zu doof.«
Das hatte gesessen. Vany spürte einen eisernen Dolch in ihrem Herzen. Sie kämpfte die Tränen zurück, bemühte sich, es ihn nicht sehen zu lassen. Zum Glück drehte er sich um und ging in sein Zimmer. Nun war sie wieder da: die Wut. Vany zwang sich, tief durchzuatmen. Dann schaltete sie die Xbox aus, stand auf und schloss ihre Zimmertür. Den ganzen Vormittag hatte sie sie offen gelassen. Als Einladung für ihre Mutter und Tim, wenn er nach Hause kam. Als Zeichen, dass sie Nähe wollte. Aber niemand war gekommen. Niemand hatte ihr gegeben, wonach sie sich sehnte. Was erwartete ihre Familie von ihr? Ihr kam es fast so vor, als wollten sie alle, dass sie es noch einmal versuchte. Vany nahm ihr gerupftes Tagebuch zur Hand und schlug es auf. In ihrem Schwur hatte sie einige Personen erwähnt. Sie beschloss, eine Liste anzulegen.
Mama – verhält sich seltsam.
Papa
Tim – scheint sauer auf mich zu sein.
Jazz
Leon
Das Team
Frau Volckmann-Doose
Ihren Vater hatte sie heute noch nicht gesehen und nachdem der Rest ihrer Familie so sonderbar reagiert hatte, bekam sie schon Magenschmerzen, wenn sie nur an eine Begegnung mit ihm dachte. Alle schienen sauer auf sie zu sein. Hieß es sonst nicht überall, ein misslungener Selbstmordversuch wäre ein Schrei nach Hilfe? Warum half ihr dann niemand? Alle führten sich auf, als müssten sie sie bestrafen. Vany wollte sich jedoch nicht kleinkriegen lassen. Sie würde das irgendwie durchstehen. Notfalls auch allein.
Ihr Vater war noch nicht von der Arbeit zurück, als ihre Mutter ihr von unten zurief, es wäre Zeit für die Krankengymnastik. Vany trödelte nicht. Bloß nicht noch mehr Ärger anziehen! Ihre Mutter wirkte weiterhin nervös und Vanys Laune sank in den Keller. Vielleicht sollte sie ihren Schwur kopieren und jeder Person in ihrem Leben eine Kopie aushändigen: »Hier, seht her! Ich habe beschlossen, dass ich leben will! Es wäre schön, dabei etwas Unterstützung zu bekommen!«
Aber sie befürchtete, selbst wenn sie das täte – einen Auszug aus ihrem Tagebuch verbreiten, aus dem intimsten Dokument, das sie besaß! - würde ihre Familie sich trotzdem nicht beruhigen. Sie fasste den Entschluss, am Montag mit Frau Volckmann-Doose darüber zu sprechen. Die war schließlich Fachfrau für so was und außerdem war sie dazu da, ihr zu helfen. Wenn die sie ebenfalls fallen ließ, war vermutlich Hopfen und Malz verloren.
Ihre Mutter setzte sie bei der Krankengymnastik ab, verkündete, dass sie einkaufen wollte und nach einer Stunde wieder da sein würde. Vany versuchte erneut, positiv zu denken. Die letzte Stunde Krankengymnastik war anstrengend gewesen. Genau das brauchte sie jetzt. Etwas körperliche Betätigung, um den Kopf frei zu bekommen. Leider hatte Kerstin, ihre Krankengymnastin, keine guten Nachrichten für sie. Zum einen musste Vany die Prellungen ihrer kompletten rechten Seite beichten und behauptete, sie wäre gestürzt. Zum anderen zeigte ihr Knie kaum Besserung und die zweite Beichte war, dass Vany die Übungen, die Kerstin ihr als Hausaufgabe mitgegeben hatte, hatte schleifen lassen. Trotzdem genoss Vany wenigstens in dieser einen Stunde das Mitleid und die Fürsorge, die Kerstin ihr entgegenbrachte. Sie versprach, von nun an fleißiger zu sein, und erinnerte sich selbst daran, dass sie schließlich vorhatte, irgendwann wieder Fußball zu spielen. Am liebsten wäre es Vany gewesen, die Stunde in diesem ruhigen Raum mit den bunten Gymnastikbällen und Therabändern, der Sprossenwand und dem kitschigen Motivationsspruch an der Wand würde niemals enden. Hier wirkte alles so warm und hell, während sie zuhause nur Kälte und Negativität erwarteten. Ihrer Mutter zumindest hatte der Einkauf nicht geholfen, bessere Laune zu bekommen. Das Schweigen im Auto war mal wieder so unangenehm, dass Vany sogar das Radiogedudel willkommen gewesen wäre. Ihre Mutter allerdings schien Gedudel im Moment nicht ertragen zu können. Vany setzte einen Funken Hoffnung auf ein gemeinsames Abendessen, aber nicht einmal daraus wurde etwas. Tim meinte, er hätte zu viel zu lernen und würde sein Brot in seinem Zimmer essen. Ihr Vater erzählte nach einem knappen, unverbindlichen Gruß, er hätte bereits in der Redaktion gegessen. Und auch ihre Mutter verkündete, keinen Hunger zu haben. Den hatte Vany nun auch nicht mehr und verabschiedete sich ins Bett. Dort saß sie ratlos und wusste erneut nichts mit sich anzufangen. Die Reaktionen ihrer Familienmitglieder überforderten sie restlos. Außerdem hatte sie Magengrummeln wegen dem bevorstehenden Zusammentreffen mit ihrem Team. Zum Schlafen war sie viel zu aufgewühlt. Sie nahm ihr Handy und entdeckte eine Nachricht von Jazz: »Hab heute in der Schule mit Tim gesprochen. Hast du wirklich versucht, dich umzubringen?«
Verdammt, Jazz! Nicht du auch noch! Vany traten die Tränen in die Augen, doch sie wollte nicht aufgeben. Sowohl Jazz als auch Leon hatten positiv auf ihre ehrliche und emotionale Nachricht reagiert, also beschloss Vany, diesen Kurs beizubehalten: »Ist eine lange Geschichte. Erzähl ich dir am Sonntag. Sagen wir einfach, ich hatte einen Kurzschluss. Jetzt bin ich wieder richtig verdrahtet. Nur glaubt mir das hier niemand. Alle behandeln mich wie eine Aussätzige. Ich halt das nicht aus. Ich fühl mich schrecklich einsam.«
Die Antwort kam postwendend und ließ Vanys Tränen überlaufen: »Ich war ´ne scheiß Freundin nach deinem Ausraster. Hab was wieder gut zu machen. Ich bin für dich da. Immer!«
Vanys Sicht verschwamm. Sie konnte ihre Dankbarkeit kaum in Worte fassen. Zum ersten Mal an diesem beschissenen Tag hatte sie das Gefühl, dass alles wieder gut werden konnte. Sie tauschte mit Jazz noch ein paar Emojis aus, bis es ihr besser ging und die Tränen versiegten. Anschließend ließ sie das Erlebte in ihrem Tagebuch Revue passieren und versuchte, ihre Familie zu verstehen. Es gelang ihr nicht, aber Jazz´ Worte halfen ihr, diesen Tag dennoch mit einem angenehmen Gefühl abzuschließen und so stellte sie ihren Wecker für den nächsten Morgen und ging schlafen.