Читать книгу Let´s play love: Leon - Hanna Nolden - Страница 6
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Den Rest des Tages verbrachte Vany in einer Art Dämmerzustand. Sie funktionierte. Sie gab ihren Eltern das Gefühl, dass alles in bester Ordnung sei und ging Tim aus dem Weg. In Wahrheit schossen die Gedanken wie Fußbälle durch ihren Kopf. Ständig kamen ihr Leons Worte in den Sinn, so sehr sie auch versuchte, sie zu verdrängen. In Dauerschleife sah sie ihn vor sich, wie er vor ihr in die Knie ging und sagte, was er gesagt hatte. Dabei wollte sie es nur vergessen, es verdrängen, es am liebsten ungeschehen machen. Sie versuchte, sich an Rebekka McLight festzuhalten. Wann immer ein Fußball mit Leons Namen darauf durch ihren Kopf schoss und gegen ihre Schädeldecke knallte, ersetzte sie ihn durch einen Rebekka-Ball. Sie erfand eine vollständige Biografie für sie, überlegte, auf welche Schule sie ging und welche Hobbys sie hatte. Es musste interessant sein, durfte dabei aber nicht unglaubwürdig werden. Vany fielen auf Anhieb haufenweise Sportarten ein. Tischtennis. Badminton. Rudern. Nichts davon schien so richtig zu passen.
Billard, dachte Vany schließlich. Sie selbst hatte erst ein paar Mal in ihrem Leben Billard gespielt und zwei linke Hände dabei gehabt. Zu Rebekka passte es irgendwie.
Außerdem, beschloss Vany, sollte sie Gitarre spielen. E-Gitarre natürlich.
Die Konzentration auf die fiktive Gestalt Rebekka McLight half ihr, sich den Tag über im Griff zu behalten. Trotzdem überprüfte sie dauernd ihr Handy auf Nachrichten von Leon, doch der war ähnlich wie Deckx komplett offline. Fortwährend fragte Vany sich, was er tat oder wo er gerade war. Allerdings ging es ihr bei Deckx nicht anders. Der sauste auf die gleiche Weise als Gedankenfußball durch ihren Kopf. Er hatte verkündet, dass er vorläufig keine Let’s Plays hochladen würde. Aber das hieß nicht, dass er nicht spielte. Vany konnte sich nicht vorstellen, dass es so leicht war, das Zocken aufzugeben. Gaming und Let’s Playen waren so sehr Deckx´ Leben, wie Fußball ihres gewesen war. Sie stellte sich vor, wie er in seinem Zimmer saß, in eben dem Zimmer, von dem sie durch die Facecam einen kleinen Ausschnitt gesehen hatte, und irgendein Computerspiel spielte. Vermutlich nahm er dabei sogar auf und kommentierte, einfach, weil er es nicht lassen konnte. Wobei – wenn sie ihn so sehr aus der Bahn geworfen hatte, würde sich das in seinen Kommentaren bestimmt niederschlagen. Oft genug erzählte er in seinen Let’s Plays private Geschichten. Zum Beispiel von seinem Hund und was er auf der Gassirunde erlebt hatte. Manchmal auch von Kunden, denen er im Einzelhandel begegnete, obwohl er, so Vany wusste, erst einmal erwähnt hatte, wo genau er im Einzelhandel arbeitete, was er jetzt vermutlich bitter bereute. Vany verzog das Gesicht. Sie war so dumm gewesen! Hätte sie bloß mehr Geduld gehabt, hätte sich da bestimmt etwas anbahnen lassen. Aber sie hatte es übertreiben müssen. Im Grunde war ihr Hang zur Übertreibung sogar schuld an ihrer Knieverletzung. Hätte sie auf dem Platz nicht so viel Gas gegeben, wäre sie vielleicht noch gesund. Und Leon? Da hatte sie eher zu wenig Gas gegeben. Vany schüttelte so heftig den Kopf, als versuchte sie, jeden einzelnen Leon-Fußball rauszuwerfen. Ihr war klar, dass sie es sich sowohl mit Leon als auch mit Deckx verscherzt hatte. Und wohl mit so ziemlich jedem in ihrem Leben. Jazz hatte deutlich gemacht, dass sie es ihr übel nahm, dass sie ohne ein Wort fortgelaufen war und versucht hatte, sich umzubringen. Und obwohl ein Großteil ihrer Familie sich jetzt um sie bemühte, spürte Vany, dass sie ganz allein war und sie wollte nicht länger allein sein. Oder sie wollte nicht länger ein Mensch sein, dem Alleinsein etwas ausmachte. Sie stellte sich vor, wie Rebekka McLight die Einsamkeit verehrte. Es gab viele Texte über Einsamkeit in den Liedern, die Vany durch Deckx entdeckt hatte. Sie malte sich aus, wie Rebekka auf Friedhöfen spazieren ging und die Stille und die Einsamkeit genoss. Genauso, wie Vany früher die Gemeinschaft auf dem Platz genossen hatte. Rebekka war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Vany und das war gut so. Denn so würde Deckx keinen Verdacht schöpfen und vielleicht anfangen, sich für sie zu interessieren.
Als endlich alle im Bett waren und das Haus lange genug in Stille gelegen hatte, stand Vany auf und holte ihren Laptop aus dem Schrank. Um das Gefühl, Rebekka zu sein, noch zu verstärken, zog sie den schwarzen Pullover an und legte ihre Kette um. Dinge, die eigentlich nie so recht zu ihr als Vany gepasst hatten. Hier passten sie. Rebekka loggte sich ein und überprüfte Deckx´ Kanal. Unter seinem Ankündigungsvideo waren mehrere neue Kommentare aufgetaucht. Alle waren voller Bedauern und obschon er darum gebeten hatte, von Nachfragen abzusehen, wollten natürlich viele wissen, was passiert war. Rebekkas Kommentar hatte ein paar Likes bekommen. Kurz verspürte sie das Verlangen, sich eines der alten Videos anzusehen. Sie stellte sich vor, was Deckx sagte, ließ seine Begrüßungsfloskel in sich ablaufen und wiederholte Sätze, Witze und Sprüche, die ihr besonders gefallen hatten. Sie zwang sich, stark zu bleiben. Rebekka war ein Neuanfang. Sie hatte keine nostalgischen Erinnerungen an bereits gesehene Videos. Sie fuhr den Laptop wieder herunter, zog den Pullover aus und nahm die Kette ab. Dann wickelte sie den Laptop wieder im Pullover ein und versteckte ihn von neuem im Kleiderschrank. Vany kontrollierte, ob ihr Wecker gestellt war, und ging schlafen.
Am Montagmorgen fiel es ihr schwer, richtig wach zu werden. Sie hatte nicht gleich einschlafen können und sich stundenlang zurechtgelegt, was sie Frau Volckmann-Doose mitteilen wollte. Sie hatte das Gespräch wieder und wieder durchgespielt, aber wohler war ihr bei dem Gedanken an die nächste Therapiestunde nicht geworden. Überhaupt gab es an diesem Morgen einige unangenehme Dinge. Zum Beispiel die Begegnung mit Tim, der sie so kritisch beäugte, als fürchtete er, sie würde jederzeit zum Messer greifen und sich vor den Augen der ganzen Familie die Pulsadern aufschneiden. Ihre Mutter war auch besorgt, jedoch aus anderen Gründen: »Meinst du denn wirklich, dass du wieder zur Schule gehen möchtest? Wir könnten zum Arzt gehen und dich krankschreiben lassen. Ich meine ... vielleicht ist es sowieso keine schlechte Idee, dich einmal durchchecken zu lassen.«
Vany schüttelte den Kopf. »Sind doch nur ein paar Prellungen. Und mit Prellungen kenne ich mich aus. Davon hatte ich in meinem Leben nun wahrlich genug.«
»Du weißt genau, dass ich nicht die Prellungen meine«, wurde ihre Mutter ungewohnt streng. Sie hatten ein paar schöne Stunden zusammen gehabt am Wochenende, was es ihrer Mutter offensichtlich nicht leichter machte, zu akzeptieren, was geschehen war. Vany verkniff sich ein Augenrollen und bemühte sich, ihre Stimme sanft und liebevoll klingen zu lassen: »Ich bin heute bei Frau Volckmann-Doose. Die habt ihr doch informiert, oder? Ich werde einfach mit ihr reden. Und außerdem habe ich gesagt, dass es mir besser geht. Ich war bloß ein wenig durcheinander. Jetzt bin ich wieder auf Kurs. Ehrenwort!«
Tim stellte krachend seine Müslischüssel ins Spülbecken und gab ansonsten keinen Ton von sich, aber sein Gesichtsausdruck verriet Vany, was in ihm vorging. Er glaubte ihr kein Wort. Ihr Vater ließ sich wie immer nichts anmerken, und ihre Mutter rang sichtlich mit sich. Schließlich gab sie nach: »Hoffen wir mal, dass die Gespräche mit Frau Volckmann-Doose etwas bringen.«
»Ganz bestimmt«, beteuerte Vany zuversichtlich.
Mehr Sorgen als der Termin bei Frau Volckmann-Doose machte Vany allerdings eine bevorstehende Begegnung mit Leon. Bei dem Gedanken daran wurde ihr so schlecht, dass ihr fast das Frühstück hochkam. Sie könnte zwar zur Mittagspause die Mensa meiden, trotzdem lief sie Gefahr, ihm irgendwo zu begegnen, und außerdem war das mehr als feige. Sie war sich immer noch nicht im Klaren darüber, was sie eigentlich wollte. Seine Worte hatten sie verletzt, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sie selbst mehr von Leon wollte, aber ein anderer Teil von ihr wollte das Gegenteil. Sie verspürte ein gewisses Unbehagen, wenn sie an diesen Teil dachte, den Teil, den sie Rebekka nannte. In ihr schrillten sämtliche Alarmglocken. Sie wusste, dass sie sich auf einen gefährlichen, unüberschaubaren Weg begab, aber sie konnte es nicht lassen. Irgendetwas trieb sie dazu an, weiterzugehen, konnte noch nicht von Deckx lassen. Vany hätte Deckx lieber aus ihrem Leben gestrichen und sich ganz aufs Voranschreiten konzentriert, inzwischen war es jedoch fast so, als wäre Rebekka eine eigenständige Person, die selbst ihre Entscheidungen traf. Und Rebekka wollte bloß eines: Deckx. Rebekka war Leon vollkommen egal. Vany spürte eine immer breitere Kluft zwischen sich und der fiktiven Person, die sie erschaffen hatte. Als würde etwas in ihrem Inneren immer weiter auseinanderdriften und sie konnte es nicht aufhalten. Sie konnte nicht einfach Stopp rufen und den Rebekka-Plan aufgeben. Sie konnte von diesem Teil ihres Lebens nicht einmal sprechen. Und sie würde es bei dem Gespräch mit Frau Volckmann-Doose ausklammern.
Jazz begrüßte sie mit einer liebevollen Umarmung im Klassenraum, was Vany etwas unangenehm war. Verstohlen sah sie sich im Zimmer um. Sie hatte das Gefühl, jeder würde sie anstarren. Jedes getuschelte Gespräch schien ihr zu gelten, jedes Lachen sie auszulachen. Gerüchte machten an Schulen schnell die Runde und sie konnte nicht sicher wissen, wem Tim von ihrem Selbstmordversuch erzählt hatte. Im Unterricht halfen ihr auch ihre neu geordneten Schulunterlagen nicht. Sie war so fahrig, dass sie sich nicht konzentrieren konnte. Mechanisch schrieb sie mit in der Hoffnung, den Stoff zuhause nachholen zu können, mehr war nicht drin. Die Lehrer waren auf jeden Fall von ihren Eltern informiert worden, denn man ließ sie komplett in Ruhe. Es war fast, als wäre sie unsichtbar. Die Erwachsenen konnten sie kaum ansehen, während die Augen der anderen Jugendlichen immer mal wieder neugierig auf ihr ruhten. Dann ging es für Jazz zum Sportunterricht und für Vany ins Büro der Schulpsychologin. Jetzt wurde es ernst. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, vor allem, weil sie fest entschlossen war, sich diesmal nicht zu verstellen und tatsächlich etwas von sich preiszugeben. Interessanterweise schien Frau Volckmann-Doose mindestens genauso nervös zu sein wie sie. Vany fragte sich, ob sie jemals mit suizidalen Jugendlichen zu tun gehabt hatte. Das bedeutete ja auch eine ganze Menge Verantwortung. Vany hoffte, dass die Psychologin ihr trotzdem würde helfen können, nachdem sie allerdings bereits erlebt hatte, wie inkompetent die Frau war, wagte sie das zu bezweifeln. Heute scheiterte es schon an der Begrüßung. Vany rechnete mit einer Eingangsfrage wie beim letzten Mal, doch nach einem unverbindlichen »Hallo Vanessa.« verstummte Frau Volckmann-Doose und sah sie nur an. Vany unterdrückte ein Seufzen. Machte sie es ihr absichtlich schwer? Sie ergriff die Initiative: »Ich nehme an, meine Eltern haben Ihnen erzählt, was letzte Woche geschehen ist?«
Frau Volckmann-Doose nickte. »Sie haben mir berichtet, dass du von zuhause weggelaufen bist, um dich in Köln mit jemandem zu treffen. Es sei zu Handgreiflichkeiten gekommen und anschließend hast du dich vor einen Zug werfen wollen, wo du dann von der Polizei aufgegriffen wurdest. Ist das richtig?«
Vany zuckte nachlässig die Schultern. »Im Groben ja.«
»Wie fühlst du dich jetzt?«
Endlich: Fragen!
»Ich weiß es nicht genau. Es ist viel passiert. In meinem Kopf sind Unmengen Gefühle und Gedanken. Ich wundere mich, dass er noch nicht geplatzt ist. Ich … ich würde sie wahnsinnig gern ordnen, aber ich habe keine Ahnung, wo ich beginnen soll.«
Offen und ehrlich. Vany atmete tief durch. Zum ersten Mal an diesem Tag schöpfte sie Hoffnung. Vielleicht konnte Frau Volckmann-Doose ihr ja tatsächlich helfen. Dabei, ihre Gedanken zu ordnen. Dabei, Rebekka McLight wieder einzustampfen und einen Schlussstrich unter das Kapitel Deckx zu ziehen.
»Beginnen wir doch mit dem jungen Mann. Wer ist das? Wie bist du auf ihn gekommen? Was hat dich dazu bewogen, für ihn nach Köln zu fahren?«
Das könnte eine lange Sitzung werden, überlegte Vany. Die Worte fielen ihr unglaublich schwer, dennoch mussten sie raus und einmal angefangen konnte sie nicht wieder aufhören: »Sein Name ist Frank Decker. Ich habe ihn im Internet unter dem Namen Deckx kennengelernt. Nach meiner Knieverletzung. Er ist mir sehr schnell sehr wichtig geworden. Er hat einen YouTube-Kanal. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was das ist. Er lädt Videos im Internet hoch, wo er Computerspiele spielt und kommentiert. Ich habe viel Zeit damit verbracht, seine Videos zu sehen und seine Stimme … seine Stimme zu hören, war ein wichtiger Bestandteil meines Tages.«
Sie versuchte, zu ergründen, was in Frau Volckmann-Doose vorging, die ein wenig ratlos aussah. Vany wusste, dass Computersucht bei Jugendlichen nicht so selten war. Sie hatten bereits im Unterricht darüber gesprochen, allerdings zu einer Zeit, in der sie sich null für Computer interessiert hatte.
Plötzlich schien sich in der Psychologin ein Schalter umzulegen, als wäre ihr gerade ein Fragenkatalog eingefallen, den sie irgendwann einmal auswendig gelernt hatte.
»Du sagst, du hast nach deiner Knieverletzung damit begonnen, diese Videos zu sehen. Überhaupt ist diese Knieverletzung scheinbar der Auslöser für alle deine Probleme. Ich habe mich lange mit deinen Eltern unterhalten und sie haben erwähnt, dass du sehr ehrgeizig gewesen bist. Aber auf mich macht es gerade den Eindruck, als würdest du generell zu Suchtverhalten neigen. Würdest du sagen, dass du vor deiner Verletzung so viel Zeit mit Sport verbracht hast, wie du nach der Verletzung damit verbracht hast, diese Videos anzusehen?«
Bereits diese erste Frage brachte Vany ins Trudeln. Sie hatte ihren Sport nie als etwas Negatives betrachtet, obwohl sie sich tatsächlich bemüht hatte, die Fitteste auf dem Platz zu sein. Während andere Mädchen aus ihrem Team sich damit begnügt hatten, zu den festen Trainingszeiten auf dem Platz zu sein, war Vany nebenbei joggen oder Fahrrad fahren gegangen und hatte am Abend Kraftsport gemacht. Es stimmte schon. In ihrem Leben hatte sich fast alles um Sport gedreht. Und das war es vermutlich, was Leon gemeint hatte. In ihrem Leben gab es wenig anderes als das.
»Ja, kann sein«, murmelte Vany verunsichert.
»Als deine Eltern dir den Laptop weggenommen haben, hat sich das so ähnlich angefühlt, wie damals, als du den Kreuzbandriss hattest? Hast du da oft daran gedacht, dass du jetzt lieber auf dem Platz stehen würdest oder später, dass du viel lieber Videos sehen würdest als irgendetwas anderes zu tun?«
Vany riss überrascht die Augen auf. Verdammt! Sie war davon ausgegangen, dass es auf diesem Planeten keine inkompetentere Psychologin als ihre gab, aber sie hatte wirklich Recht. Da gab es erstaunliche Parallelen. Sie nickte verblüfft und ein wenig erschrocken.
»Wie geht es dir jetzt damit? Kannst du dir ein Leben ohne Sport vorstellen? Oder ein Leben ohne die Videos dieses jungen Mannes?«
Eiskalt erwischt. Sie hatte es versucht. Nach ihrer Knieverletzung hatte sie versucht, ohne Sport auszukommen und hatte sich mit einer ganzen Reihe Sit-ups an den Rand der Erschöpfung getrieben. Und nun? Sie hatte sich gesagt, dass sie durch war mit Deckx. Dass sie ihn nicht mehr brauchte und nicht mehr an ihn denken wollte. Sie hatte jedes Wort von ihm aus ihrem Tagebuch entfernt und zerstört. Sie war so überzeugt gewesen, es geschafft zu haben, um gleich am ersten Abend wieder rückfällig zu werden. In ihrem Innern tat sich auf einmal eine große Leere auf, die sie zu verschlingen drohte. Vany kämpfte dagegen an und versuchte, sich zu verteidigen: »Nun, also, ich glaube, es ist gar nicht so sinnvoll, ein Leben ohne Sport zu führen. Sport ist immerhin sehr gesund. Und das Internet … das ist ja quasi überall. Da kann man sich ja eigentlich gar nicht entziehen.«
Frau Volckmann-Doose nickte, als würde sie ihr zustimmen, aber sie kritzelte eine Menge unleserlicher Notizen in ihren Block. Vany schlang die Arme um sich selbst und versuchte, sich auf diese Weise etwas Halt zu geben. Es gelang kläglich.
»Gibt es vielleicht andere Dinge, die dir Spaß machen? Etwas, das dich ablenken könnte oder das mit Sport oder Internetvideos gleichzusetzen wäre?«
Vany drehte diese Frage geradezu verzweifelt in ihrem Kopf. Wieder war da dieses Aha-Erlebnis. Genau das war es, was Leon ihr hatte klarmachen wollen. Da war nichts. Leon war so vielschichtig. Er zeichnete Comics, führte Hunde aus und verstand sich gut mit den Kollegen. Er ging für alte Menschen einkaufen und aß mit ihnen, verbrachte Zeit mit so vielen verschiedenen Menschen. Und sie?
»Ich habe eine Zeitlang mit meiner Familie Spiele gespielt. Brettspiele. Und Xbox mit meinem Bruder. Und ich habe Jazz. Meine Freundin. Und Leon. In den letzten Tagen habe ich meiner Mutter in der Küche geholfen. Ich glaube, Kochen könnte mir Spaß machen.«
Sie hörte selbst, wie unzulänglich ihre Verteidigungsversuche klangen. Himmel, sie war verloren! Und Frau Volckmann-Doose war längst nicht fertig mit ihr.
»Wenn etwas dich traurig macht oder aufwühlt, wo suchst du Trost?«
Die Antwort stand Vany sofort klar vor Augen: bei Deckx. Nichts konnte sie so gut ablenken und trösten wie seine Stimme. Wie war es vor Deckx gewesen? Wo hatte sie da Trost gefunden?
»Bei meinem Bruder. Und bei Jazz, meiner besten Freundin.«
Die Antworten klangen gut. Natürlich. Gesünder. Und sie waren gelogen, denn im Moment wollte Vany weder von Jazz noch von ihrem Bruder Trost. Frau Volckmann-Doose schien die Lüge zu riechen.
»Verheimlichst du deinen Eltern oder anderen, wie viel Zeit du damit zubringst, Videos zu sehen?«
Erneut ins Schwarze. Vany dachte an ihren Laptop, der im Dunkeln ihres Kleiderschrankes auf sie wartete. An das geheime Profil, das sie angelegt hatte. Mehr Heimlichkeit ging schon gar nicht mehr. Sie schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf.
»Ich glaube nicht.«
»Wie reagierst du, wenn dich jemand beim Gucken deiner Videos stört? Macht dich das wütend?«
Vany verzog unwillkürlich den Mund. Sie erinnerte sich daran, wie sie die erste WhatsApp von Leon bekommen hatte. Wie Tim ihr den Laptop weggenommen hatte. Was passierte hier mit ihr? Wie konnte es sein, dass jede dieser Fragen sie mitten ins Herz traf?
»Ich bin ziemlich oft wütend in letzter Zeit«, gab sie kleinlaut zu. Diesmal war es an Frau Volckmann-Doose zu nicken.
»Ja, das bist du. Und du bist sehr durcheinander. Das sehe ich. Ich will dir nicht verheimlichen, dass ich mir, genau wie deine Eltern, Sorgen um dich mache. Ich glaube, dass du in großer seelischer Not steckst, und ich fürchte, dass meine Mittel, dir hier zu helfen, begrenzt sind. Deine Eltern wollen es nicht sehen, aber ich halte eine längere und intensivere Therapie für angebracht.«
Lang und intensiv? Was sollte das heißen? Tägliche Sitzungen? Oder sogar eine Klinik wie die, in der Annikas Schwester ihre Magersucht behandeln ließ?
»Wir stehen kurz vor den Abiturprüfungen und während dieser Zeit warten andere Aufgaben auf mich. Und auch in den Maiferien werde ich nicht für dich da sein können. Ich habe deinen Eltern die Adressen von ein paar Kliniken zukommen lassen, die in Frage kämen, sie waren jedoch der Meinung, dass sie dir erst einmal die Chance geben wollen, selbst wieder auf Kurs zu kommen.«
Der Tonfall in Frau Volckmann-Dooses Stimme machte deutlich, dass sie nicht davon ausging, dass Vany es allein schaffen würde. Vany war wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte sich so fest vorgenommen, heute mit der Schulpsychologin ehrlich zu sein und alles aus diesem Gespräch mitzunehmen, was nur irgend ging. Doch das Gespräch hinterließ nur ein Gefühl bei ihr: Die Psychologin gab sie auf. Genau so, wie Leon sie aufgegeben hatte. Oder ihr Bruder. Vany spürte, wie ihr Innerstes gefror. Eine dicke Schicht aus Eis legte sich wie ein Panzer um ihr Herz, jagte Eiswasser durch ihre Adern und kühlte alles runter. Selbst ihre Gedanken wurden langsamer und klarer. Der Plan, offen und ehrlich zu sein, war fehlgeschlagen. Es wurde Zeit für Plan B. Und Plan B hieß »So tun als ob«.
»Verstehe«, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme die Festigkeit von Eis zu geben. »Nun, dann werde ich mal mein Bestes geben, selbst wieder auf Kurs zu kommen. Ich bin schon voll dabei. Ich nutze den Laptop eigentlich gar nicht mehr. Ich habe ihn in meinen Kleiderschrank gelegt, wo ich ihn nicht ständig sehen muss. Ich habe mich mit meiner besten Freundin vertragen. Und ich habe am Samstag mein Team besucht. Ich habe sogar den blöden Dirk Ahlfeld dort getroffen und wissen Sie was: es war mir egal. Es passt mir zwar nicht, dass er dort rumhängt und einen auf Trainerassistent macht, aber es war mir egal. Ich lasse mich von ihm nicht daran hindern, mein Team anzufeuern und aus der Fassung bringt er mich auch nicht mehr. Der ist doch nur ein Lutscher und irgendwann wird er es leid sein, meinem Team zuzusehen. Jedes meiner Mädchen ist zwanzigmal besser als er es je sein wird.«
Frau Volckmann-Doose hatte kein einziges Wort von Vanys flammender Rede mitgeschrieben und das irritierte Vany noch viel mehr als ihre ewige Kritzelei. Sie ließ sich nichts anmerken, saß aufrecht und hielt dem Blick der Schulpsychologin stand. Wenn sie nur irgendetwas sagen würde! Das tat sie allerdings nicht, also fragte Vany: »Kann ich dann jetzt gehen?«
Frau Volckmann-Doose zuckte die Achseln. »Du hast mir deinen Standpunkt klargemacht und du kennst meinen. Ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann. Dafür reicht meine Ausbildung nicht aus. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass du professionelle Hilfe benötigst und wenn du gerade so einsichtig bist, überzeugst du deine Eltern vielleicht davon.«
Wie bitte? Was? Vany sollte zu ihren Eltern gehen und sie darum bitten, in die Klapsmühle gesteckt zu werden? Vany erhob sich langsam und bekräftigte mit Eisesstimme: »Wissen Sie, meine Eltern kennen mich ganz gut. Wenn sie der Meinung sind, dass ich das allein schaffe, dann schaffe ich das auch allein.«
Damit wandte sie sich um und verließ das Büro. Es war schwer zu beschreiben, was sie fühlte. Bis zu diesem Termin hatte sie an ihrem Leben als Vany festgehalten. Sie hatte in Betracht gezogen, den Rebekka-Plan fallen zu lassen und sich tatsächlich auf das wahre Leben zu konzentrieren. Aber laut Aussage ihrer Psychologin war die wirkliche Vany besser in einer Irrenanstalt aufgehoben. Vany versuchte, nicht zu viel darüber nachzudenken. Sie bewegte sich wie ferngesteuert und hatte das seltsame Gefühl, gar nicht richtig real zu sein. Als wäre Rebekka die reale Person und Vany eine Erfindung. Es war noch Unterricht und während der laufenden Stunde kam Vany nicht in die Turnhalle. Dafür hätte sie einen Schlüssel gebraucht oder gegen eine Scheibe klopfen müssen, was vermutlich eh keiner bemerkt hätte. Zu spät zum Sport zu kommen, hieß, dass man draußen warten musste. Also ging sie in die Mensa, in der lediglich ein paar Oberstufler saßen, die sich leise unterhielten. Vany setzte sich an Leons bevorzugten Tisch und wartete. So hatte sie sich noch nie gefühlt. Es war ein bisschen, als würde die Zeit stillstehen. Sie fühlte sich vollkommen losgelöst von sich selbst. Es war ein beunruhigendes Gefühl, als hätte sie ihren Körper verlassen und wüsste jetzt nicht, wie sie zurückkehren sollte. Sie starrte vor sich hin und war kaum in der Lage auch nur einen Finger zu bewegen. Sie hoffte so sehr, dass jemand kommen und sie schütteln würde und dann wäre alles wie vorher, aber es kam niemand. Und als es endlich zur Pause klingelte, war es Vany, als hätte sie jeglichen Kontakt zu sich selbst für immer verloren. Von nun an galt nur noch ein Plan: »So tun als ob.« Sie würde allen etwas vorspielen. Sogar sich selbst. Und wenn sie darin richtig gut wurde, würde sie sich vielleicht irgendwann einmal selbst glauben.