Читать книгу Let´s play love: Leon - Hanna Nolden - Страница 7
Оглавление5: So tun als ob
Jazz war als Erste bei ihr, ließ sich neben sie fallen und fragte: »Hey, alles klar? Wie lief’s bei der Psychotante?«
Vany legte den Schalter um, knipste das Lächeln an und erwiderte: »Ganz okay. Sie sagt, sie hat keine Zeit mehr für mich. Wegen der Prüfungen und der Maiferien und so. Mir soll’s egal sein. Guck ich euch eben beim Sport zu.«
»Was?«, rief Jazz entsetzt. »Du willst dich vor einen Zug werfen und sie meint, sie hat keine Zeit mehr für dich? Wie ist die denn drauf?«
Vany zuckte die Achseln. »Anscheinend sind meine Eltern der Meinung, dass ich keine Hilfe benötige. Sie glauben, ich komme selbst wieder auf Kurs. Und eigentlich glaube ich das auch.«
Jazz verzog den Mund und schien nicht überzeugt zu sein.
»Tu mir einen Gefallen und ruf mich das nächste Mal an, wenn du auf die Idee kommst, dir etwas anzutun, ja?«
Vany nickte. »Ja, das mache ich. Danke, Jazz. Obwohl ich nicht glaube, dass es dazu kommen wird. Ich habe meine Lektion gelernt. Es war hart genug, auf dem Bahnsteig aufzuschlagen. Ich mag mir die Schmerzen bei einem Zusammenstoß mit einem Zug gar nicht ausmalen. Ehrlich, ich mach so was nicht noch mal.«
Jazz sah sie immer noch zweifelnd an, gab aber auf. »Soll ich dir einen Salat holen? Oder meinst du, dass Leon das macht?«
Vany reckte den Hals und sah sich in der Mensa nach Leon um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken.
»Vermutlich eher nicht. Wäre total lieb, wenn du das machen könntest.«
»Alles klar.«
Jazz parkte ihre Sporttasche bei ihr und reihte sich in die Essenschlange ein. Vany holte ihr Handy hervor und überprüfte, ob Leon sich gemeldet hatte, aber da war nichts. Sie presste die Lippen aufeinander. Ihr mochte alles Mögliche in ihrem Leben schnurzegal sein, Leon war es mit Sicherheit nicht. Der Plan hieß »So tun als ob«, allerdings war Leon davon ausgenommen. Ihm wollte sie nichts vorspielen. Von ihm wollte sie wirklich wahrgenommen werden. Als Person. Als Vany. Leon war ihr letzter Rettungsanker, bevor sie Rebekka ganz das Feld überließ. Doch Leon kam nicht. Während der gesamten Mittagspause tauchte er nicht auf. Jazz gegenüber ließ Vany sich nichts anmerken, dennoch durchbrach sein Fehlen den Eispanzer in ihrem Inneren. Die letzten Stunden vergingen wie in Zeitlupe und Vany war heilfroh, als sie nach Hause gehen konnte. Sie ließ sich extra Zeit, um die Begegnung mit Tim hinauszuzögern, auf die sie genauso wenig Lust hatte wie auf »keine Begegnung«, auf seine geschlossene Zimmertür, die nichts als seine absolute Ablehnung symbolisierte. Sie dachte darüber nach, in den Jacobipark zu gehen und sich an den Ententeich zu setzen, in der Hoffnung, dass Leon irgendwann vorbeikam, andererseits wusste sie nicht genau, worüber sie mit ihm reden sollte. Um Leon zurückzugewinnen, reichte »so tun als ob« nicht aus. Ihm gegenüber würde sie auspacken müssen. Und dann war es aus mit Rebekka McLight, denn Leon hatte nicht den geringsten Anlass, sie bei diesem irrwitzigen Plan zu unterstützen. Vielleicht bekam sie ihn dafür. Ganz und gar. Eine Berührung am Handgelenk, ein zartes Streicheln über die Wange, einen ersten Kuss. Vielleicht aber auch nicht. Es war genauso gut möglich, dass er sie nach einer Beichte von Grund auf verabscheute. Und das raubte Vany jeden Mut. Also unternahm sie nichts, ließ sich treiben und ging nach Hause.
Entgegen ihrer Erwartungen, hatte Tim sich nicht hinter seiner Zimmertür verschanzt. Er saß im Wohnzimmer und lernte am Esstisch. Offenbar hatte er auf sie gewartet. Er legte den Stift zur Seite, als sie eintrat und erkundigte sich: »Wie war dein Tag?«
Vanys Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Beschissen. Und deiner?«
»Beschissen«, entgegnete Tim. »Setzt du dich zu mir?«
Vany zuckte die Achseln und setzte sich. Es war verrückt. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatten sie hier alle zusammen gesessen und Risiko gespielt. Ein hübsche kleine Bilderbuchfamilie. Und auf einmal lag alles in Trümmern. Tim schien von ihr zu erwarten, dass sie irgendetwas sagte, doch ihr fiel nichts ein. Verlangte er eine Entschuldigung? Eine Erklärung? Irgendeine Form von Versprechen?
Endlich brach er das Schweigen: »Wir haben dich alle sehr lieb, Vany. Das weißt du, oder?«
Vany ließ den Kopf hängen und musterte die Tischplatte. Seit Jahren sprach ihr Vater davon, dass er den Tisch abschleifen und ölen wollte. Er hatte wahnsinnig viele Macken und Glasabdrücke. Vany fühlte sich ein bisschen wie dieser Tisch. Verbraucht, abgenutzt, schmutzig, aber im Grunde noch gut. Zum Wegwerfen zu schade. Tim fuhr fort, als sie nicht antwortete: »Ich würde dir gerne helfen, weiß jedoch nicht wie. Ich fühle mich wie ein Versager, weil ich nicht eher gemerkt habe, dass etwas nicht stimmt. Und irgendwie bin ich ja schuld an dem Ganzen, weil du ohne mich nie angefangen hättest, Let’s Plays zu sehen.«
Überrascht sah Vany zu ihm auf. Wie war das? Tim gab sich die Schuld an ihrem Selbstmordversuch? Sie schüttelte energisch den Kopf.
»Die Let’s Plays sind nicht das Problem. Andere Mädels gucken auch Let’s Plays und machen nicht so einen Unsinn. Ich bin das Problem. Es kam einfach zu viel zusammen. Ich habe den Halt verloren, mein Ziel im Leben und meinen Platz.«
»Und jetzt hast du wieder ein Ziel?«
Deckx dazu bringen, sich in Rebekka McLight zu verlieben?
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich bin genauso durcheinander wie nach meiner Knieverletzung. Oder sogar noch schlimmer. Ich weiß nicht mehr, was wichtig ist und was nicht. Und ich weiß nicht, wie ich meine Tage rumbringen soll. Alles scheint so sinnlos zu sein!«
Plötzlich streckte er die Hand aus und ergriff ihre Rechte.
»Das ist es nicht! Wir alle sind mal planlos. Ich meine, ich mache Abitur, aber hast du dir mal einen Studienführer angesehen? Ich habe keine Ahnung, was ich studieren soll. Ich weiß gerade nicht einmal, ob ich überhaupt studieren will oder lieber eine Ausbildung machen soll. Der Sinn liegt darin, weiterzumachen. Jeden Tag zu nutzen und das zu tun, was einen weiterbringt und glücklich macht.«
»Ich versuch’s ja«, sagte sie und ließ den Kopf wieder hängen. »Es ist nur ganz schön schwer.«
Er drückte ihre Hand. »Ich weiß, dass es schwer ist. Du siehst es vielleicht nicht, aber es geht jedem so. Alle Menschen kämpfen. Jeden Tag. Nur sieht man es ihnen nicht immer an. Alles klar?«
Sie seufzte, dann nickte sie. »Alles klar.«
»Dann machst du weiter?«
»Bin doch schon dabei«, murmelte sie. »Was für die Schule tun. Abitur machen wie mein großer Bruder.«
Er grinste schief und ließ ihre Hand los. »Hoffen wir, dass der große Bruder Abitur macht. Ich habe da so meine Zweifel.«
»So ein Quatsch«, widersprach sie. »So viel wie du lernst, muss ja irgendwas hängen geblieben sein.«
»Dein Wort in Gottes Ohr. Ich mache besser weiter, denn im Moment bin ich mir da nicht so sicher.«
»Dann lass ich dich lernen. Bis heute Abend.«
Sie stand auf und verließ das Wohnzimmer. Das Gespräch hatte sich fast wie früher angefühlt. Vielleicht kam ja doch alles wieder ins Lot. Wenn sie nur aufrichtig sein könnte. Ihr Plan – Deckx dazu bringen, sich in Rebekka McLight zu verlieben. Und dann? Ihn bloßstellen? Ihm das Herz brechen? Rache nehmen? Genaugenommen wusste Vany selbst nicht, warum sie es tat. Sie spürte nur, dass sie es tun musste. Dass sie nach alldem immer noch nicht fertig war mit Deckx.
Sie ging in ihr Zimmer und überprüfte reflexartig, ob ihr Laptop noch an Ort und Stelle war. Das Plastikgehäuse zu spüren, gab ihr ein beruhigendes Gefühl. Sie vermisste die Leichtigkeit des Let’s Play-Sehen. Nach der Schule den Laptop hochfahren und Deckx´ Stimme lauschen. Dem nächsten Part von Fantastic Lights entgegenfiebern. Sie hatte es übertrieben, das wusste sie, trotzdem war es eine super Zeit gewesen. Am Anfang hatte es ihr geholfen, die Knieverletzung zu akzeptieren und weiterzumachen, bloß war es irgendwann ihr einziger Lebensinhalt geworden. Und jetzt, wo sie die Let’s Plays aufgegeben hatte, hinterließen sie eine ebenso große Leere in ihrem Leben, wie Fußball es getan hatte. Und sie hatte keine Ahnung, womit sie diese Leere füllen sollte. Schweren Herzens setzte sie sich an ihren Schreibtisch und fing an, etwas für die Schule zu tun, in der Hoffnung, dass es irgendwann zur Routine wurde oder sogar anfing, Spaß zu machen. Andauernd kontrollierte sie ihr Handy und hoffte auf eine Nachricht von Leon.
Lass mir Zeit, hatte er gesagt. Allerdings hatte er ihr nicht erklärt, wie viel Zeit das sein sollte. Oder wie sie sich in der Zeit zu verhalten hatte. Sie sollte sich ebenfalls Zeit nehmen und sich melden, wenn sie bereit war, seine Fragen zu beantworten. Was sie in Köln gemacht und warum sie sich hatte umbringen wollen. Die Fragen waren auch so schon schwierig zu beantworten, aber sie so zu beantworten, dass sie Leon nicht gänzlich vertrieb, war ein Ding der Unmöglichkeit.
Als sie hörte, wie ihre Mutter nach Hause kam, räumte sie ihren Schulrucksack ein und ging hinunter. Ihre Mutter war müde von der Arbeit. Oder, weil sie nachts nicht genug schlief. Vany plagten Gewissensbisse. Sie war schuld daran, dass sie nicht ausreichend Schlaf bekam. Sie konnte sich vorstellen, wie sie sich hin und her warf und kein Auge zu tat aus Sorge um ihre einzige Tochter. Daher gab sie sich Mühe, die beste Tochter der Welt zu sein. Sie leistete ihrer Mutter Gesellschaft, während sie sich einen Kaffee kochte, und erzählte von ihrem Gespräch mit Frau Volckmann-Doose. Nach der ersten Überwindung war es sogar ganz wohltuend, sich mit ihrer Mutter gemeinsam gegen die Schulpsychologin zu stellen.
»Ja«, bestätigte ihre Mutter. »Sie hat uns Adressen von Kliniken gegeben, die auf Computer- und Internetsucht spezialisiert sind. Papa und ich sind jedoch der Meinung, dass es dafür zu früh ist. Ich bin überzeugt davon, dass das einzig mit deiner Knieverletzung zusammenhängt, die dich aus der Bahn geworfen hat. So eine Sucht entwickelt sich doch nicht über Nacht. Wenn etwas so schnell entsteht, kann es sich ebenso schnell zurück entwickeln. Ich glaube, dass wir das als Familie schaffen können. Ohne eine Klinik.«
Fast hätte man meinen können, ihre Mutter sprach über Krebs. Vany war sich selbst nicht sicher, ob sie nicht in einer Klinik besser aufgehoben war. Immerhin hatte sie tatsächlich versucht, sich das Leben zu nehmen, auch wenn ihr das im Nachhinein solche Angst einjagte, dass sie überzeugt davon war, es niemals wieder versuchen zu wollen. Trotzdem – so groß ihre Erleichterung war, dass ihre Eltern zu ihr hielten und sie nicht in die Psychiatrie abschoben, ein fader Beigeschmack blieb. Sie half ihrer Mutter beim Vorbereiten des Abendessens, versuchte, während des Essens, sich ein bisschen am Familiengespräch zu beteiligen, und ging dann früh ins Bett. Allerdings stellte sie sich einen Wecker auf drei Uhr. Schließlich hatte sie noch ein Date mit Rebekka, die ein Date mit Deckx hatte. Beim Eindösen träumte sie vor sich hin und stellte sich vor, tatsächlich Rebekka zu sein. Diese hübsche Blondine in den Gothicklamotten. Die ihre Zeit auf dem Friedhof verbrachte und Fotos von verwitterten Grabsteinen schoss. Nach und nach kamen immer mehr Mosaiksteinchen zusammen. Sie bekam langsam ein Gefühl für Rebekka und ihre Biographie.
Als um drei Uhr morgens der Wecker ging, war Vany fast ausgeschlafen. Sie vergewisserte sich durch ausgiebiges Lauschen, dass alle ins Bett gegangen waren, holte das Kleiderbündel mit dem Laptop aus dem Schrank und zog sich um, während der Laptop hochfuhr. Es hätte ihr vielleicht lächerlich vorkommen müssen, sich dafür als Rebekka zu verkleiden, aber so war es nicht. Ganz im Gegenteil. Es fühlte sich richtig an. Sie loggte sich mit Rebekkas Profil ein, überprüfte Deckx´ Kanal und wurde enttäuscht. Erneut hatte Deckx keine Videos hochgeladen. Unter seinem letzten Video waren viele neue Kommentare aufgetaucht, so dass Rebekkas Beitrag weiter nach unten gerutscht war. Dass Vany96 keinen Kommentar geschrieben hatte, war niemandem aufgefallen oder es hatte sich zumindest niemand dazu geäußert. Dieser Sturm war wohl abgeklungen. Unzufrieden fuhr Vany den Laptop wieder herunter, zog sich um und verstaute alles im Schrank. Sie kroch unter die Decke und stellte ihren Wecker neu. Kurz betrachtete sie Leons Profilbild bei WhatsApp, dann schob sie das Handy unters Kopfkissen. Sie wollte nicht an Leon denken. Das wühlte zu viele Fragen auf, die sie nicht beantworten konnte. Sie drehte sich auf die Seite und versuchte, einzuschlafen. Diesmal stellte sie sich vor, wie sie auf dem Platz stand und Fußball spielte. Sie war Teil der Nationalmannschaft. Die Ränge waren voll und alle jubelten ihr zu. Mit einem wehmütigen Gefühl schlief Vany wieder ein.
Der Dienstag begann mit Mathe und der Rückgabe der Klassenarbeit, in der Vany es zumindest auf eine Vier geschafft hatte. Vany war zu dem Schluss gekommen, dass Leon ihr aus dem Weg ging und zufällige Begegnungen vermutlich vermeiden würde. Obwohl sie ihn gern gesehen hätte, beruhigte diese Erkenntnis sie auch. »So tun als ob« forderte ihre volle Aufmerksamkeit. Eine Begegnung mit Leon würde sie überfordern. Frau Müller, ihre Klassenlehrerin kündigte an, dass es nicht nur für die Großen aufs Abitur zuging, sondern auch für die Zehntklässler eine Menge Klassenarbeiten in nächster Zeit folgen würden, und Vany verabredete sich mit Jazz zu regelmäßigen Lerntreffs. Jazz, die stets eine fleißige Schülerin gewesen war, schien das zu gefallen und der besorgte Ausdruck, mit dem sie Vany seit Sonntag immer mal wieder bedachte, wich allmählich aus ihrem Blick. Stück für Stück gewann Vany ihre Sicherheit zurück. Sie füllte ihre Tage damit, immer beschäftigt zu sein. Sie absolvierte die Übungen für ihr Knie, traf sich täglich mit Jazz zum Lernen – mal bei ihr und mal bei sich – und motivierte auch Tim dazu, alles zu geben. Sie telefonierte ab und zu mit Teamkolleginnen und hatte das Gefühl, dass sich da echte Freundschaften aufbauen konnten. Bisher hatte sie Jazz als ihre einzige Freundin betrachtet, aber die Mädchen und sie hatten immerhin eine wichtige Gemeinsamkeit: die Mannschaft. Es war großartig, mit jemandem über Fußball fachsimpeln zu können, was mit Jazz nie funktioniert hatte. Manchmal fragte sich Vany, warum sie sich nicht schon vorher häufiger mit ihren Kolleginnen getroffen hatte, aber die hatten früher nur auf dem Platz eine Bedeutung für sie gehabt. Vielleicht einfach, weil die meisten auf andere Schulen gingen und ihre ganz eigenen Probleme hatten. Jetzt gab Vany ihnen auf jeden Fall eine Chance und war froh, dass sie da waren. Außerdem gewöhnte sie sich an, den Nachmittagskaffee für ihre Mutter fertig zu haben, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, und war überhaupt eine tadellose Bilderbuchtochter. Sie stopfte so viel wie möglich in die wachen Stunden, so dass sie kaum zum Nachdenken kam. Und so glaubte sie sich tagsüber beinahe selbst, dass alles wieder in bester Ordnung war. Leon wurde so ungewollt doch noch Teil des »So tun als ob«-Plans. Ab und an bemerkte Vany nämlich, dass er sich in ihrer Nähe aufhielt und sie beobachtete, und da sie tagsüber in der Schule einen ausgeglichenen Eindruck machte, musste er zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass es ihr besser ging. Da sie sich jedoch nicht bei ihm gemeldet hatte, musste das für ihn heißen, dass sie noch nicht bereit war, seine Fragen zu beantworten. Und so war es leider. Vany wusste, dass sie Leon nicht würde anlügen können. Sie wollte es auch gar nicht. Sie wollte, dass Leon sie als Vany akzeptierte. Ihm etwas vorzuspielen, stand nicht zur Debatte. Aber sie hatte bisher keinen Weg gefunden, ihm alles zu beichten und ihn damit nicht vor den Kopf zu stoßen. Das würde einfach nicht funktionieren. Und die Wahrheit war, dass sich neben all den positiven Abläufen in ihrem Leben auch eine negative Routine entwickelte. Jede Nacht um drei Uhr ging ihr Wecker und die Verwandlung zu Rebekka begann. Jede Nacht prüfte Rebekka einmal Deckx´ Kanal, surfte im Internet nach Gothicklamotten und Schmuck und melancholischen Fotos. Vany fand, dass Rebekka ihr gar nicht so unähnlich war. Optisch betrachtet. Sie müsste sich bloß die Haare blondieren und endlich Schminken lernen. Aber dafür hatte sie im Moment noch keine Zeit und es würde zu sehr auffallen. Sie musste den richtigen Zeitpunkt für den nächsten Schritt der Verwandlung abwarten. Von Deckx indes gab es in der ganzen Woche kein Lebenszeichen, aber Rebekka hatte Zeit. Sie war ganz im Gegensatz zu Vany die Geduld in Person. Und vielleicht musste man das auch sein, wenn man nur eine Stunde am Tag existierte.
Am Freitag ließ Vany das Lernen mit Jazz wegen der Krankengymnastik ausfallen. Da ihre Mutter inzwischen wieder normal arbeitete, fuhr Vany mit dem Bus und während der Fahrt steckte sie die Nase in ihr Geschichtsbuch, um nicht nachdenken zu müssen. Trotzdem drifteten ihre Gedanken ständig ab. Busfahren lud ja geradezu zum Träumen ein und Vany dachte über Rebekka nach, über Outfits und Haare und Make-up. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht so lange und bei der Krankengymnastik kam sie gleich dran. Diesmal war Kerstin wirklich zufrieden mit ihr und schlug vor, die Krücken öfter mal zur Seite zu legen, um die Muskulatur zu kräftigen. Vany war unsicher, was das anbetraf, da sie ihrem Knie nicht traute. Es fühlte sich immer noch ganz schön instabil an, dennoch versprach sie, es im geschützten Rahmen, zum Beispiel zuhause, auszuprobieren. Nach der Krankengymnastik hatte Vany keine Lust, schon nach Hause zu fahren, und schlenderte etwas durch die Innenstadt. Jazz stand total auf Shopping und Vany hatte sie ein paar Mal begleitet, sich jedoch bisher nie viel aus Klamotten gemacht. Jetzt hielt sie die Augen offen nach schwarzer Kleidung, die zu Rebekka passen würde. So extravagante Sachen wie im Internet fand sie allerdings nicht. Zum Schluss betrat Vany den Drogeriemarkt und sah sich etwas überfordert um. Auch hier konnte Jazz sich stundenlang aufhalten, Nagellackfarben vergleichen und Parfums ausprobieren. Vany hätte sie gerne, an ihrer Seite gehabt, aber das passte mit »So tun als ob« nicht zusammen, denn heute schaute Vany nicht für sich, sondern für Rebekka. Sie nahm sich einen Wagen, legte die Krücken hinein und stützte sich auf den Griff. Langsam schob sie sich durch die Gänge, vorbei am Schaumbad und der Zahnpflege bis zu den Haarfarben. Die Auswahl erschlug Vany geradezu. Sie bezeichnete ihr Haar gerne als mausbraun, aber wenn sie hier ihre Haarfarbe auf einer Packung entdeckte, hieß sie »Karamell« oder »Haselnuss« oder »Warme Schokolade«. Vany schüttelte den Kopf. »Mausbraun« würde sich vermutlich nicht so gut verkaufen. Sie hielt die Augen offen nach etwas, das Rebekkas Haarfarbe nahe kam, und entschied sich für einen Sechs-Stufen-Aufheller, der ein Vanille-Blond versprach. Sie wusste zwar nicht, wann der Zeitpunkt zum Haarefärben kam, aber wenn er da war, wollte sie vorbereitet sein. Weiter ging es zur Kosmetikabteilung. Da sie sich bisher nie geschminkt hatte, war sie hier restlos überfragt. Es gab so viele Produkte und Vany sagten die Namen alle nichts. Sie hatte keine Ahnung, was der Unterschied zwischen BB Cream, Concealer oder Make-up war, wofür man Puder und ein mattierendes Finish brauchte. Schließlich entdeckte sie auf einem Verpackungskarton eine Frau mit dunkel geschminkten Augen. Fasziniert nahm sie die Packung in die Hand. Es handelte sich um eine Lidschattenpalette mit verschiedenen Grau- und Schwarztönen. Das Model war nicht ganz so extrem geschminkt wie die Männer und Frauen in den Musikvideos, es ging jedoch in die richtige Richtung. Vany reckte den Hals und winkte eine Verkäuferin heran, die irgendwie ganz cool aussah. Sie war wohl Anfang 20, hatte leuchtend rotes Haar und jede Menge Piercings.
»Entschuldigung«, sprach Vany sie an. »Können Sie mir vielleicht sagen, was ich alles brauche, um so auszusehen?«
Sie deutete auf das Gesicht auf der Verpackung. Die Verkäuferin ließ den Blick von Vany zur Packung und wieder zurück schweifen, und Vany befürchtete, dass sie ihr prophezeien würde, dass sie das niemals schaffen würde. Tatsächlich zog sie etwas skeptisch die Augenbraue hoch und fragte: »Schminkneuling?«
Vany nickte und spürte, dass sie ein bisschen rot wurde, aber die Verkäuferin lächelte.
»Pass auf, das hier nennt man Smokey Eyes und die perfekt hinzubekommen, braucht verdammt viel Übung. Wenn du es wirklich lernen willst, guck mal bei YouTube nach Schminktutorials. Da gibt es ein paar richtig Gute.«
YouTube. Vany war, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen, ließ sich allerdings nichts anmerken. Trotzdem kam es ihr wie ein Wink des Schicksals vor, ohne zu verstehen, was das Schicksal ihr mitteilen wollte. Sie behielt den Kurs bei: »Danke für den Tipp. Das mache ich glatt. Zum Üben brauche ich trotzdem Material.«
»Stimmt«, bestätigte die Verkäuferin. »Wie viel willst du denn ausgeben? Die Palette da ist nicht ganz billig. Wir haben auch günstigere.«
Vany zuckte die Achseln. Nach ihrem Ausflug nach Köln war sie schon knapp bei Kasse.
»Ah«, machte die Verkäuferin. »Wir fangen einfach mal an. Diese Make-up-Produkte sind speziell auf junge Leute abgestimmt und mit einem Mousse-Make-up solltest du auf Anhieb gut zurecht kommen. Dann brauchst du noch ein bisschen Puder und wenn du magst auch etwas Rouge. Lidschatten ist klar, Eyeliner … der braucht etwas Übung, aber es lohnt sich! Mascara und eventuell einen matten Lippenstift.«
Vany sah zu, wie die Verkäuferin ihr Dinge hinhielt, nickte sie ab und ließ sie in den Wagen wandern. Dazu kamen ein paar Schwämme und Pinsel und Abschminkschaum. Vany wählte noch einen schwarzen Nagellack und Nagellackentferner aus. Schließlich war ihr Wagen ganz schön voll geworden. Sie spürte in sich eine tiefe Zufriedenheit und fing an zu begreifen, was Jazz an Shopping so toll fand. Sie bedankte sich bei der netten Verkäuferin und schob ihren Einkauf zur Kasse. Dort schluckte sie erst einmal über den Preis. Über 65 Euro musste sie für alles hinblättern, aber da sie gesehen hatte, dass es durchaus Produkte gab, die einzeln so viel kosteten, war sie zufrieden. Sie packte ihre Einkäufe ein und verließ gut gelaunt den Laden. Sie konnte es kaum erwarten, nach Schminktutorials zu gucken und die Sachen auszuprobieren, aber das musste noch ein bisschen warten. Vielleicht fand sie am Wochenende dazu etwas Zeit, denn die hellen Farbtöne ihrer Lidschattenpalette ließen sich bestimmt auch für »So tun als ob« verwenden, ganz ohne Misstrauen zu erregen. Immerhin war es eher ungewöhnlich, dass eine Sechzehnjährige sich nicht für Make-up interessierte.