Читать книгу Let´s play love: Leon - Hanna Nolden - Страница 5
Оглавление3: Zwei Leben
Als Vany am Sonntagmorgen wach wurde, fühlte sie sich, ohne zu wissen, woran das lag, so glücklich wie schon lange nicht mehr. Vor ein paar Tagen hatte sie sich das Leben nehmen wollen. Sie hatte vor einem Trümmerhaufen gestanden und nicht gewusst, wie sie weitermachen sollte. Anschließend hatte sie in ihr altes Leben zurückfinden wollen und jeder hatte ihr Steine in den Weg gelegt. Aber auf einmal spielte all das gar keine Rolle mehr. Vany würde ihren Weg weiterverfolgen. Aufrichtig und emotional sein und auf diese Weise versuchen, ihre Familie, ihre beste Freundin, Leon und ihre Mannschaftskollegen zurückzugewinnen. Sie nahm sich sogar vor, von nun an zu jedem Spiel ihres Teams zu gehen, denn trotz der Begegnung mit dem widerlichen Dirk Ahlfeld hatte das Zusammentreffen mit den anderen ihr im Nachhinein gutgetan. Parallel dazu, ganz im Geheimen, würde sie sich eine neue Existenz aufbauen. Eine Existenz, von der niemand etwas wusste. Rebekka McLights Weg würde ein ganz anderer sein als Vanys und Vany musste aufpassen, dass diese Leben sich nicht miteinander vermischten. Niemand durfte davon erfahren. Schon gar nicht Tim oder ihre Eltern. Auch Jazz würde sie davon nichts erzählen. Vany war mit Deckx durch und würde reumütig zu ihrem bisherigen Leben zurückkehren. Rebekka hingegen fing gerade erst an!
Vany begann den Morgen damit, ihrer Mutter bei den Vorbereitungen fürs Sonntagsfrühstück zu helfen. Sie konnte zwar nicht so wahnsinnig viel tun, dennoch gefiel es ihr, mit ihrer Mutter zusammen zu sein und etwas zu tun zu haben. Es war seltsam. Bisher hatte sie ihre Eltern als gegeben hingenommen und nicht weiter darüber nachgedacht. Sie konnten sie in den Wahnsinn treiben und vor Kurzem hätte sie gedacht, dass ihr das Verhältnis egal wäre. Sie war kein Kind mehr und hatte nur selten Lust, etwas mit ihren Eltern zu unternehmen. Nachdem sie die beiden jedoch zweimal hintereinander bitter enttäuscht hatte, hatte sie eine Eiseskälte zu spüren bekommen, die ihr klar gemacht hatte, wie wichtig ihr das Verhältnis zu ihren Eltern war. Ihre Mutter hatte sich von allen Familienmitgliedern am schnellsten erholt und schien die gemeinsame Zeit ebenso zu genießen, wie Vany es tat. Ihr Vater war auf sein normales Maß an Interesse und Aufmerksamkeit zurückgekehrt, wohingegen ihre Mutter doppelt so herzlich wie früher war. Ihre Wärme half Vany etwas Kraft zu tanken. Tim allerdings war ein Härtefall. Einst hatte Vany ihr Bruder alles bedeutet. Sie hatte zu ihm aufgesehen, gerne Zeit mit ihm verbracht. Seine Ablehnung schmerzte, aber nicht halb so sehr, wie sie erwartet hatte. Dafür war sie zu sauer auf ihn. Er hatte nicht zu ihr gestanden, hatte sie verpfiffen und jetzt weigerte er sich, ihr zu vergeben, obwohl sie sich alle Mühe gab. Sollte er bleiben, wo der Pfeffer wuchs! Nach dem Frühstück ging Vany in ihr Zimmer und machte die Übungen, die Kerstin, ihre Krankengymnastin, ihr aufgetragen hatte. Sie würde von nun an nichts mehr schleifen lassen. Sie würde für die Schule arbeiten, ihre Freundschaften pflegen und sich um ihr Knie kümmern. Es war unabdingbar, den Halt im Leben wiederzufinden. Den Laptop hatte sie wieder versteckt. Nicht, weil sie fürchtete, dass ihn ihr erneut jemand wegnehmen konnte, sondern um ihn nicht zu sehen. Zusammen mit den schwarzen Klamotten und dem Gothikschmuck lag er am Boden ihres Kleiderschranks, verdeckt vom Saum ihres Wintermantels. Diese Sachen gehörten nicht mehr zu ihrem Leben als Vanessa. Es waren Rebekkas Sachen und sie würde sie nur rausholen, wenn sie sie brauchte. Jede Nacht, wenn alles schlief, wollte sie zumindest einen Blick in Deckx´ Kanal werfen um überblicken zu können, ob er wieder Videos hochlud, worauf sie natürlich hoffte. Unter den alten Videos würde sie als Rebekka nichts schreiben. Wenn neue kamen, würde sie allerdings aktiv werden. Unaufdringlicher als Vany96 es gewesen war. Jeder Kommentar musste perfekt geplant und getimet werden. Diesmal würde Deckx ihr nicht durch die Lappen gehen. Sie überdachte ihre Strategien, während sie ihre Übungen absolvierte. Anschließend war sie ordentlich durchgeschwitzt und fühlte sich ausgezeichnet. Sie ging unter die Dusche und setzte sich im Anschluss an den Schreibtisch, um etwas zu lernen und Ordnung in ihre Schulunterlagen zu bringen. Da sie sich bisher nie etwas aus Schule, Heften und Ordnern gemacht hatte, gab es eine Menge zu tun. Sie besaß einen Collegeblock, den sie für jedes Fach nutzte. So musste sie zu Beginn der Stunden immer eine ganze Weile suchen bis sie das richtige Fach und den aktuellen Stoff fand. Jetzt setzte sie sich daran, Ordner anzulegen und fachspezifisch abzuheften. Manche Seiten schrieb sie sogar in Schönschrift ab. Nicht nur Tim konnte ein Streber sein! Sie gab sich besonders viel Mühe, da sie wusste, dass gute Noten auffielen. Wann immer jemand auffällig wurde, wurde geguckt, ob die Noten sich verschlechtert hatten. Schlechte Noten galten als Indiz dafür, dass es einem Teenager schlecht ging. Vany war eher der Meinung, gute Noten hießen, dass ein Teenager außer Schule sonst kein Leben hatte, aber jetzt ging es ihr um die Außenwirkung. Jeder sollte davon überzeugt sein, dass es ihr gut ging. Erst dann würde man sie in Ruhe lassen. Irgendwann rief ihre Mutter sie zum Mittagessen. Tim saß ihr gegenüber am Tisch und musterte sie verstohlen. Das war immerhin mal ein Fortschritt. Freitag und Samstag hatte er jedenfalls ausschließlich auf seinen Teller geguckt. Nach ein paar Minuten des Schweigens erkundigte er sich: »Was hast du den ganzen Vormittag über gemacht?«
Bingo! Und schon zahlte sich das Doppelleben aus. Vany musste nicht einmal lügen, um ihre Familie zu beeindrucken.
»Ich habe die Übungen für mein Knie gemacht, die ich von Kerstin gelernt habe. Und ich habe was für die Schule getan. Dinge abgeheftet und ein bisschen gelernt. War ja längst mal nötig!«
Die Reaktionen waren verblüffend! Ihre Mutter strahlte sie an, als würde sie gleich vor Stolz platzen. Ihr Vater hob anerkennend eine Augenbraue und tauschte einen schwer zu deutenden Blick mit ihrer Mutter. Da war noch ein Rest Unsicherheit, den Vany noch beseitigen musste. Tim schien zumindest vollends verwirrt. Er hatte die Stirn gerunzelt und sah aus, als würde er unbedingt sauer auf sie sein wollen, es aber nicht hinbekommen. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Wenn du meinst.«
Meine ich, dachte Vany, ohne es auszusprechen. Dass Tim ihr nicht vergeben wollte, machte sie wütend. Eigentlich mochte sie Herausforderungen, aber die hier ging an die Substanz. Sie war es nicht gewohnt, dass so lange Funkstille zwischen ihr und ihrem Bruder herrschte. Doch sie würde es durchstehen. Sie aß ihren Teller leer und verabschiedete sich nach oben, um das Schulchaos zu beseitigen, bevor Jazz auftauchte. Sie freute sich darauf, die Freundin zu sehen, gleichwohl sie nervös war. Zuletzt hatte Jazz sich verständnisvoll gezeigt und bemüht, für sie da zu sein. Andererseits hatte Vany auch das Gegenteil erlebt und wusste nicht, wie Jazz die Geschichte von Deckx aufnehmen würde. Jazz war die meiste Zeit über vernünftig und angepasst. Ihr würde es im Traum nicht einfallen, die Schule schleifen zu lassen oder gar von zuhause abzuhauen. Vany betete, dass sie sie nicht verurteilen würde. Sie war gerade dabei, sämtliche Bleistifte in ihrer Federtasche anzuspitzen, als es an der Tür klingelte. Rasch ließ sie einen letzten Blick durch ihr Zimmer schweifen. Es war aufgeräumt. Sogar das Bett war gemacht. Vany hörte, wie ihre Mutter und Jazz sich unten im Flur unterhielten. Es folgte das Knarren der Treppe. Die Tür ging auf und Vany blieb die freudige Begrüßung im Halse stecken, denn Jazz war nicht allein. Hinter ihr betrat Leon das Zimmer und schlagartig ging in Vany alles drunter und drüber. Sie hatte sich mindestens so aufgeräumt gefühlt wie ihr Zimmer. Als könnte sie nichts erschüttern. Aber Leon änderte alles. Zum einen sah er nicht gut aus. Er wirkte übernächtigt und blass mit tiefen Augenringen, als hätte er seit einigen Nächten nicht geschlafen. Zum anderen explodierte ein gut verschlossen geglaubtes Fass mit wild gewordenen Schmetterlingen in ihrer Brust. Und zum dritten: Warum war er mit Jazz hier? Vany konnte nicht mehr geradeaus denken, nur noch reagieren und leider ließ die Fassungslosigkeit ihren Tonfall nicht gerade freundlich klingen: »Was machst du hier?«
Leon tauschte einen unsicheren Blick mit Jazz. Einen Blick, der Vanys Deutung nach so viel hieß wie »Hab ich’s dir nicht gleich gesagt?«
Jazz indes war niemand, der einen Plan schnell aufgab, bloß weil er im ersten Augenblick nicht zu funktionieren schien. Sie übernahm das Wort.
»Leon und ich saßen am Freitag in der Mensa, als Tim sich zu uns gesetzt hat. Er hat uns erzählt, dass deine Eltern dich in Köln bei der Polizei abholen mussten und was passiert war. Daher haben Leon und ich Nummern ausgetauscht und ich habe gestern beschlossen, dass ich ihn heute mitbringe. Immerhin sind wir Freunde, oder? Fast sowas wie eine Clique.«
Eine Clique? Vany musste sich zusammenreißen, um nicht auszurasten. Jedes einzelne Wort kam ihr wie ein Angriff vor. Sie ist einen Tag nicht da und Jazz setzt sich direkt zu Leon an den Tisch? Ihr blöder Bruder verrät sie gleich zum zweiten Mal und dann tauschen die beiden auch noch Nummern? Bekam Jazz jetzt Mineralwasser-und-Salat-Nachrichten? Leon schien zu sehen, dass Vany kurz vorm Ausflippen war und wandte sich an Jazz: »Könntest du uns kurz allein lassen?«
Jazz nickte zögerlich, verließ das Zimmer und schloss die Tür. Vany hatte das Gefühl, die Luft wäre zu dick zum Atmen. Sie saß noch auf ihrem Schreibtischstuhl und Leon ging vor ihr in die Knie, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Er druckste nicht lange herum, kam gleich zur Sache: »Stimmt es? Hast du versucht, dich umzubringen?«
Vanys Gedanken überschlugen sich und sie konnte kaum einen davon greifen. Er hatte nicht gefragt, was sie in Köln gemacht hatte. Der andere Punkt schien ihm wichtiger zu sein. Was wollte er von ihr hören? Sie zuckte abwehrend die Achseln.
»Weiß nicht.«
Er sah sie an mit einem so ernsten Gesichtsausdruck, wie sie ihn noch nie bei ihm gesehen hatte.
»Was heißt, du weißt es nicht? Du musst doch wissen, ob du dich umbringen wolltest? Dein Bruder behauptet, du hast dich vor einen Zug werfen wollen.«
»Ich ...«, stammelte Vany, hoffnungslos überfordert. Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen und sie sie nicht zurückhalten konnte. »Ich war am Bahnhof. Ich war durcheinander. Ich ... kann mich nicht genau erinnern.«
»Du kannst dich nicht erinnern? Warum nicht? Hast du Drogen genommen oder so? Was war denn bloß los? Was hast du in Köln gemacht?«
Vany war verzweifelt. Sie wollte nicht, dass Leon so mit ihr sprach. Es kam ihr wie eine Anklage vor und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verteidigen sollte.
»Ich habe keine Drogen genommen. Du weißt, dass ich keine Drogen nehme!«
»Weiß ich das?«, provozierte er sie. »Das ist doch die Frage, oder? Was weiß ich eigentlich wirklich über dich? Ich wollte dich näher kennenlernen, du wiederum gibst mir nur Rätsel auf. Ich verstehe dich einfach nicht. Du siehst mich im Park mit einer Kollegin, rennst weg und im nächsten Moment erfahre ich, dass du dich vor einen Zug werfen wolltest. Hunderte Kilometer von hier entfernt. Und jetzt sitzt du hier und behauptest, du wüsstest nicht, ob du dich umbringen wolltest?«
Vany rieb sich die Arme. Noch nicht einmal in der Polizeiwache hatte sie sich so unwohl gefühlt. Sie konnte Leon nicht in die Augen sehen. Eine Träne tropfte von oben auf ihr Knie und färbte den Stoff der Jeans dunkelblau.
»Du hast gesagt, dass du mich gern hast«, wimmerte sie. Ihrer Stimme fehlte jede Kraft. Sie fühlte sich so verloren. Leon stöhnte auf.
»Himmel, Vany! Natürlich habe ich dich gern. Sonst wäre ich wohl kaum hier. Das macht es so verdammt schwer. Wann immer ich versuche, dir nahe zu kommen, rennst du weg. Ich habe das Gefühl, du willst meine Nähe gar nicht. Und das wäre noch nicht einmal das Schlimmste. Als ich dich zum ersten Mal wahrgenommen habe, im Vorraum zum Büro der Psychotante, da habe ich gedacht, das bedeutet was. Du hast so verloren gewirkt, dass ich dich beschützen wollte. Gleichzeitig schwach und stark. Ich wollte dich unbedingt besser kennenlernen, du dagegen gibst mir nichts. Keinen einzigen Hinweis darauf, was du magst, was du erwartest. Als wäre dein ganzes Leben mit diesem einen Ding, das dir etwas bedeutet hat, verpufft. Und wenn du das Leben so wenig achtest, dass du es einfach wegwerfen willst ... dann ...«
»Dann was?«, hauchte sie, als er nicht weiter sprach, und sah verunsichert zu ihm auf. Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe Menschen verloren, die ich sehr liebte. Ich habe mich in meinem Leben oft allein gefühlt, trotzdem wollte ich es nie wegwerfen. Ich sehe mir jeden Tag mit an, wie mein Vater sich langsam zu Tode säuft, du jedoch wolltest alles mit einem Schlag beenden. Und ich weiß nicht ... ich weiß einfach nicht, ob ich ... mit jemandem zusammen sein kann, der das Leben so wenig schätzt.«
Vany konnte es nicht verhindern. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Sie wünschte so sehr, dass er sie in den Arm nehmen würde, aber das tat er nicht. Sie wusste, dass ihm die Worte schwergefallen waren. Sie hatte sein Zögern gespürt. Doch jetzt war alles raus. Er war ehrlich gewesen. Er war immer ehrlich zu ihr gewesen. Das hatte er ihr voraus. Schließlich spürte sie seine Hand an ihrer nassen Wange. Sie lehnte sich dagegen und schloss die Augen. Er nahm seine Worte nicht zurück.
»Lass mir Zeit. Und nimm dir selbst auch welche. Und wenn du bereit bist, meine Fragen zu beantworten, reden wir.«
Und er war fort. Vany hörte die Tür, hörte, wie Jazz seinen Namen nannte, hörte die Treppe. Dann war Jazz bei ihr und zog sie in ihre Arme.
»Oh, Süße, was ist passiert?«
Vany presste ihr Gesicht an Jazz´ Schulter, krallte sich an ihr fest und weinte haltlos. Nicht einmal Deckx´ Ablehnung hatte so wehgetan wie das hier. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie wollte vielleicht nicht mehr sterben, dieses Leben wollte sie allerdings auch nicht mehr. Sie hätte alles darum gegeben, wirklich mit Rebekka McLight tauschen zu können.
»Was hat er getan? Ich … ich hätte ihn nicht mitgebracht, wenn ich gewusst hätte, dass er dich zum Weinen bringt.«
Jazz´ Verzweiflung erreichte Vany, so sehr sie auch mit ihrer eigenen beschäftigt war. Sie löste sich von Jazz, vergrub das Gesicht in ihrem T-Shirt und versuchte, es einigermaßen trocken zu bekommen. Sie konnte weder über Leon noch über sich selbst reden. Sie hatte sich fest vorgenommen, Jazz alles zu beichten. Wie sie sich in die Idee verrannt hatte, Deckx könnte sich in sie verlieben. Wie sie mehr und mehr süchtig geworden war von seinen Let’s Plays. So süchtig, dass sie auch jetzt, nach allem, was sie in Köln erlebt hatte, nicht von ihm lassen konnte, ihn brauchte, um einschlafen zu können, um einmal wenigstens mit Denken aufzuhören.
»Kennst du das, wenn man versucht, alles richtig zu machen? Alles wieder in Ordnung zu bringen und es bröckelt an allen Ecken und Enden, weil zu viel kaputt ist, um es zu reparieren.«
Jazz verzog das Gesicht.
»Ach Vany, sag so was nicht! Es kommt alles wieder in Ordnung. Bestimmt! Du musst nur … Geduld haben.«
Vany nickte zögernd. Aber sie fühlte sich so leer, dass sie nicht einmal sagen konnte, ob Jazz´ Worte Sinn ergaben oder nicht. Sie wäre lieber für sich gewesen, wusste jedoch nicht, wie sie Jazz dazu bringen sollte, zu gehen, wo sie gerade erst gekommen war. Zum Glück verschaffte Jazz selbst ihr eine Atempause, indem sie anbot: »Soll ich uns was zu trinken raufholen?«
»Ja. Ja, das wäre gut.«
Jazz sprang auf, als könnte sie es nicht erwarten, aus dem Zimmer zu kommen. Vany versuchte, sich irgendwie zu sammeln. Sie wollte nicht über Leon nachdenken, über das, was auch immer er von ihr erwartete. Sie hievte sich hoch und schlurfte zu ihrem Kleiderschrank. Sie setzte sich auf den Boden und öffnete die Schiebetür. Sofort fanden ihre Hände das Kleiderbündel, in dem der Laptop versteckt war. Sie schob zwei Finger durch die Stoffschichten und berührte das Plastik. Sie schloss die Augen und versuchte, ihn zu spüren, seine Energie, seine Ruhe wahrzunehmen.
Heute Nacht, dachte sie. Heute Nacht werde ich dieses Leben zumindest kurz hinter mir lassen und jemand anders sein. Dann vergesse ich den Schmerz.
Augenblicklich ging es ihr besser. Sie stellte sich vor, Rebekka McLight zu sein. Die würde bestimmt nicht heulend zusammenbrechen, wenn ein Junge ihr eine Abfuhr erteilte. Nein, Rebekka McLight nahm sich die Jungs, die ihr gefielen. Vany stellte sich vor, eine echte Superheldin zu sein. Tagsüber die unscheinbare Vanessa Nowak und nachts die schillernde Rebekka McLight, die stets das Richtige tat und immer erreichte, was sie wollte. Aber das Wichtigste an so einem Superhelden war, die doppelte Identität aufrecht zu erhalten. Niemand durfte von diesem zweiten Leben wissen und damit sie es ungehindert aufbauen konnte, musste sie sich als Vany am Riemen reißen. Vany richtete sich auf und straffte die Schultern. Sie war ja schon auf dem richtigen Weg gewesen. Ihre Mutter hatte sie inzwischen auf ihre Seite gezogen und die anderen würden folgen. Sie musste sich bloß wieder einfügen, wieder unauffällig werden. Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Sie sah trotzdem furchtbar aus, was wohl verständlich war. Dann überlegte sie sich, welche Brocken sie Jazz hinwerfen konnte, damit sie zufrieden war und keine weiteren Fragen stellte. Eigentlich hatte sie ihr alles von Deckx erzählen wollen. Jetzt hatte sie ihren Plan geändert. Deckx musste ihr Geheimnis bleiben, so gut es ging. Vielleicht hatte ihr Tim auch davon erzählt, trotzdem musste sie so tun, als wäre Deckx ihr von einer Sekunde auf die andere egal geworden. Sie hörte, wie Jazz in ihrem Zimmer Getränke abstellte, trocknete sich ab und ging zu ihr.
»Was ist denn jetzt wirklich vorgefallen zwischen dir und Leon?«, fragte Jazz unumwunden. Vany griff nach einer der beiden Mineralwasserflaschen, die Jazz mitgebracht hatte, schraubte sie auf und nahm einen großen Schluck, bevor sie antwortete: »Ich glaube, Leon nimmt mir sehr übel, dass ich mich vor den Zug werfen wollte.«
Jazz zog eine Augenbraue hoch. »Ja, logisch. Das nehme ich dir auch übel! Und deine Eltern und dein Bruder vermutlich auch. Und ich bin trotzdem nett zu dir und bringe dich nicht zum Weinen. Ich weiß ja nicht. Ich glaube, er hat da irgendwas falsch verstanden. Schließlich wollen wir, dass es dir wieder gut geht, nicht, dass du es gleich wieder versuchst.«
Vany lächelte traurig. Sie hatte Leon genau verstanden, aber Jazz wusste nicht, dass Leon seinen Bruder und seine Mutter bei einem Autounfall verloren hatte. Das wusste nur sie. Jazz indes fing gerade erst an, sich über Leon aufzuregen: »Ich meine, ich hätt’s mir irgendwie auch denken können. Er hat zwar behauptet, dass er dich mag, aber er war ja dabei, als Tim mich angesprochen hat. Und Tim hat erzählt, dass du zu diesem Let’s Player wolltest, den du so toll findest. Und dass du dich seinetwegen vor den Zug schmeißen wolltest. Also, womöglich ist er nur eifersüchtig. Was ich auch irgendwie verstehen kann, denn ich meine … dass Leon auf dich steht, war ja offensichtlich und ich dachte, du magst ihn auch. Warum also fährst du durch das halbe Land, um dich mit einem anderen zu treffen? Bloß, weil du Leon mit dieser Hundesitterin gesehen hast? Also, ich mein …«
»Stopp!«, rief Vany und presste die Hände gegen die Schläfen. »Jazz, bitte! Du bringst mein Gehirn zum Platzen! Ich hab doch gesagt, ich hatte einen Kurzschluss. Ja, vielleicht spielt da auch mit rein, dass ich Leon mit dieser Trulla gesehen habe. Es war eine fixe Idee. Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat. Ich wollte einfach weg, habe erfahren, dass ich woanders auch nicht willkommen bin und da … gab es halt nur noch diesen Weg. Aber das war ein Ausrutscher. Das passiert mir nicht wieder. Versprochen!«
Jazz sah Vany abschätzend an. »Ich weiß nicht, Vany. Ich habe das Gefühl, du verschweigst mir etwas. Man kommt doch nicht von einem Tag auf den anderen auf die Idee, sich umzubringen! Und wenn man die Idee erst einmal hatte, ist sie doch nicht plötzlich weg.«
Vany schloss die Augen. »Das ist sie. Ehrlich. Als ich begriffen habe, wie knapp ich davon gekommen bin, habe ich eine scheiß Angst bekommen. So eine Dummheit mache ich nicht noch einmal.«
»Und dieser Let’s Player? Was ist mit dem?«
»Mit dem bin ich durch.«
Allmählich ging Vany Jazz´ Fragerei auf die Nerven.
»Und dann? Konzentrierst du dich jetzt auf Leon?«
»Nein!«, widersprach Vany vehement. »Ich werde mich auf mich konzentrieren. Darauf, gesund zu werden. Darauf, wieder ein Teil meines Fußballteams zu werden. Darauf, vielleicht nicht sitzen zu bleiben. Und eigentlich auch darauf, wieder mehr Zeit mit meiner besten Freundin zu verbringen. Sofern sie aufhört, mich mit Fragen zu löchern!«
Jazz sah sie nur an und Vany erkannte, dass sie sie noch nicht überzeugt hatte. Also legte sie nach: »Jazz, bitte. Es ist schlimm genug, dass meine eigene Familie mich behandelt, als wäre ich eine tickende Zeitbombe. Mama hat sich halbwegs wieder eingekriegt, Papa spricht nicht drüber und Tim redet kein Wort mehr mit mir. Das muss ich wieder auf die Reihe kriegen, sonst bin ich nachher schuld daran, dass er sein Abi versemmelt. Es wäre also toll, wenn wenigstens zwischen uns alles wieder so werden könnte, wie es mal war.«
Jazz sah sie weiterhin an und Vany befürchtete, dass sie noch eine Schippe würde drauflegen müssen, aber dann nickte Jazz.
»Also gut. Ich habe dir versprochen, für dich da zu sein und das bin ich auch. Allerdings finde ich den Gedanken, dass du abgehauen und bis nach Köln gefahren bist, immer noch total krass. Geschweige denn, dass du dich vor einen Zug werfen wolltest! Das werde ich nicht so schnell abhaken können und ich hoffe, dass du es mir eines Tages erklärst. Wahrheitsgemäß und ausführlich, damit ich es verstehe.«
»Mache ich, sobald ich es selbst verstanden habe, okay?«
Jazz lächelte. »Ich glaube, damit kann ich leben. Und was hast du jetzt vor?«
Vany zuckte die Achseln. »Ich werde morgen mit Frau Volckmann-Doose darüber sprechen. Genau dafür ist sie schließlich da und ich denke, ich werde ihr eine Chance geben.«
»Wow«, machte Jazz anerkennend. »Das finde ich richtig klasse!« Sie umarmte die Freundin spontan. »Du machst das schon, Vany.«
Vany erwiderte das Lächeln, zaghaft, unsicher. Ja, vielleicht. Vielleicht war der Plan wirklich gut, aber leider fühlte er sich vollkommen falsch an. Alles, was Vany wollte, war fliehen. Leons Ansprüchen entfliehen, Tims Schweigen, der Schule und Therapiesitzungen. Ihrem kaputten Knie und der ebenso kaputten Karriere. Fliehen und jemand anders sein. Und nur dieser Gedanke gab ihr in dem Moment Halt. Die Vorfreude auf das andere Leben, das auf sie wartete, sobald die Nacht anbrach und alles schlief. Sie konnte es kaum erwarten!