Читать книгу Let´s play love: Leon - Hanna Nolden - Страница 4

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2:Zurück auf dem Platz

Mit dem ersten Ton des Weckers war Vany hellwach. Sofort waren alle Gedanken vom Vortag wieder da. Sie gab sich keine Sekunde lang der Illusion hin, etwas könnte sich geändert haben. Tim würde immer noch sauer sein, ihr Vater nach wie vor distanziert und ihre Mutter sich seltsam verhalten. Außerdem würde sie heute auf ihren enttäuschten Trainer und im Stich gelassene Teamkollegen treffen. Das würde kein Zuckerschlecken werden. Sie beschloss, es gar nicht erst vor sich herzuschieben, stand auf und ging unter die Dusche. Im Haus war kein Ton zu hören. Vany fiel ein, dass sie überhaupt nicht im Kopf hatte, gegen wen sie heute spielten. Geschweige denn, ob es ein Heim- oder ein Auswärtsspiel war. Fußball war so weit weg gewesen in der letzten Zeit. Als hätte das alles in einem früheren Leben stattgefunden. Sie würde ihre Mutter fragen oder im Internet recherchieren müssen. Aber noch hatte sie ja etwas Zeit. Um sich einzustimmen, zog sie sich gleich ihr Trikot an. Sie ging in die Küche und stellte fest, dass noch alles schlief. Also gut. Es war Tag 2 nach ihrem Wiedergutmachungsentschluss. Sie würde sich von den Reaktionen ihrer Familie nicht beeindrucken lassen und zunächst ein anständiges Frühstück auf den Tisch bringen. Als Erstes setzte sie eine Kanne Kaffee auf. Das war eines der wenigen Dinge, die sie tatsächlich gut konnte. Vermutlich um Welten besser als die Leute, die in einer gewissen Kölner Polizeistation dafür zuständig waren. Dann angelte sie ihr Kinderkochbuch aus dem Regal über der Heizung und schlug nach, wie man Pfannkuchen machte. Mit den Krücken und dem Knie als Unsicherheitsfaktor war das Ganze doppelt schwierig, doch das Rührgerät weckte ihre Mutter und die ging ihr gleich zur Hand. Vany war insgeheim erleichtert. Sie hatte nie gerne am Herd gestanden und nachdem ihr der Teig zumindest auf den ersten Blick gelungen war, wäre es eine Schande gewesen, die Pfannkuchen anbrennen zu lassen. Ihr Vater gesellte sich wenig später zu ihnen. Bloß Tim ließ sich nicht blicken. Die Pfannkuchen waren himmlisch und schienen die Laune ihrer Eltern zu heben, wenn sie auch trotzdem nicht sonderlich gesprächig waren. Vany nutzte die Gunst der Stunde und erinnerte ihre Mutter: »Hast du auf dem Schirm, dass ich heute zum Spiel wollte?«

Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das noch auf dem Schirm hast. Willst du dort wirklich hin? Es könnte hart werden.«

Wow. Mit so viel Feingefühl hatte Vany nach dem gestrigen Tag nicht gerechnet. Sie zuckte die Achseln.

»Im Moment ist sowieso alles hart und härter als der Beton eines Kölner Bahnsteigs kann es kaum werden.«

Ihre Mutter zuckte unter ihren Worten zusammen, als hätte sie sie geschlagen. Das tat Vany fast leid, doch sie nahm die Worte nicht zurück. Mochte ihre Familie sich im Totschweigen üben, sie würde das nicht mehr tun. Von nun an würde sie sich mitteilen und nichts mehr in sich hineinfressen.

»Also gut«, sagte ihre Mutter langsam. »Dann werde ich dich nachher begleiten.«

»Danke schön.«

Obwohl Vany nach außen hin Stärke demonstrierte, war sie verflixt nervös, als sie sich nach dem Frühstück auf den Weg machten. Tim hatte sich den ganzen Morgen nicht blicken lassen. Und das, wo das ganze Haus so köstlich nach Zimt und Pfannkuchen roch! Vany hatte ihre Mutter noch ein bisschen zu dem Spiel ausgefragt und sich dabei so lässig wie möglich gegeben. Zum Glück war es ein Heimspiel. So musste sie ihrem Team wenigstens nicht auf fremdem Terrain begegnen. Der Gast war der VfL Condor. Kein wirklich ernstzunehmender Gegner. Aber vor dem hatte Vany auch keine Angst. Eher vor weiteren unangenehmen Reaktionen. Als sie auf dem Parkplatz aus dem Auto stieg und von weitem die vertrauten Geräusche eines Fußballplatzes hörte, ging ihr ganz schön die Flatter. Sie waren früh dran und das gegnerische Team war noch nicht da. Die Mädels von Trainer Burkhardt jedoch waren schon dabei, sich aufzuwärmen. Erst jetzt wurde Vany bewusst, wie sehr sie das alles vermisst hatte. Hier fühlte sie sich mehr zuhause als irgendwo sonst. Trotzdem kam sie sich gerade wie eine Ausgestoßene vor. Und das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Sie reckte das Kinn und zwang sich, weiterzugehen. Ihr neues Patentrezept lautete: ehrlich sein. Gefühle zeigen. Bei ihrer Familie hatte das zwar bisher nicht funktioniert, dafür bei Jazz und Leon. Vielleicht klappte es ja auch mit dem Team? Jule entdeckte sie als Erste und rief so laut ihren Namen, dass alle anderen innehielten und sich zu ihr umwandten. Vany zwang sich zu einem zaghaften Lächeln. Trainer Burkhardt kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu und drückte sie herzlich.

»Vany! Wie schön, dass du da bist! Ich habe fast nicht damit gerechnet, dich noch mal auf dem Platz zu sehen.«

Ehrlich sein. Gefühle zeigen.

Sie erhob die Stimme, damit sie sich nicht wiederholen musste. Woher sie die Kraft dazu nahm, wusste sie nicht. Womöglich reichte es, hier zu sein und den alten Teamgeist zu spüren, der ihr früher so viel bedeutet hatte.

»Hallo Leute! Sorry, dass ich euch hängen gelassen hab. Mir ging es ziemlich beschissen und ich hätte es einfach nicht ertragen, herzukommen.«

Verdammt. Jetzt traten ihr die Tränen in die Augen! Sie senkte den Blick, aber plötzlich waren sie alle da. Die Mädels und der Trainer. Sie schlossen einen Kreis um sie, drückten sie, beteuerten ihr, wie sehr sie an sie glaubten und sie vermissten. Jetzt liefen Vany wirklich die Tränen. Sie wusste nicht, wann sie sich zum letzten Mal so glücklich gefühlt hatte. Und dann gab es einen Cut. So plötzlich und unerwartet, als hätte jemand einen Eimer Eiswasser über ihr ausgegossen. Eine Stimme, abfällig, vertraut, verhasst.

»Ist ja rührend!«

Fuck! Wie kam der hier her? Die Mädchen lösten den Kreis auf und gaben den Blick frei auf ihn. Den Schwabbelschrank. Verdattert drehte Vany sich zum Trainer um und stammelte: »Was … was will der hier?«

Trainer Burkhardt zuckte die Achseln. Es schien ihm schwerzufallen, mit der Sprache rauszurücken: »Sein Vater hat neue Trikots und Bälle gesponsert. Dafür habe ich Dirk als Assistenten aufgenommen. Wenn er sich gut macht und ein paar Kilo abspeckt, schafft er es vielleicht irgendwann mal ins Team.«

Vany schnappte nach Luft. Dirk Ahlfeld? Trainerassistent? Dirk lachte.

»Wenn du wieder fit bist, dann scheuch ich dich über den Platz, Schnegge!«

Vany presste die Lippen aufeinander. Ehrlich sein und Gefühle zeigen? Nun, bei dem, was gerade in ihrem Kopf vorging, war das keine gute Idee! Aber diesmal gelang ihr, was ihr damals in der Turnhalle nicht gelungen war. Sie schluckte die Wut herunter und wiederholte: »Neue Bälle und Trikots, ja? Ist ja toll.«

Sie wandte sich wieder den Mädels zu, denen dieses Zusammentreffen ebenso unangenehm zu sein schien, wie dem Trainer. Vany mochte sich gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, vom Schwabbelschrank über den Platz gescheucht zu werden. War bestimmt der Knaller!

»Also, Mädels! Ihr habt neue Trikots und neue Bälle, dann zeigt mir mal nachher, ob ihr auch ein paar neue Tricks gelernt habt! Ich will heute einen Sieg sehen, verstanden?«

»Verstanden!«, rief das Team und Trainer Burkhardt grinste bis zu den Ohren. Vany zwang sich zu lächeln und ging so beherrscht wie möglich zurück zur Tribüne, wo ihre Mutter wartete und ziemlich stolz aussah. Hätte der Schock nicht so tief gesessen, wäre Vany auch stolz auf sich gewesen. Das hier war ihr Verein. Ihr Zuhause. Ihre Zukunft. Alles, worauf sie hinarbeitete. Und plötzlich saß hier Dirk Ahlfeld, wie eine fette Spinne in ihrem Netz, und wartete auf Beute. Und auf einmal war Vany sich nicht mehr so sicher, ob sie noch Fußball spielen wollte.

Vany ließ sich nichts anmerken, doch sie fühlte sich wie gelähmt vor Entsetzen, als sie mit ihrer Mutter nach Hause fuhr. Sie hatte das ganze Spiel hindurch am Rand gestanden und ihr Team angefeuert. In der Halbzeit waren noch ein paar Mädchen zu ihr gekommen und hatten ihr gute Besserung gewünscht. Beide Tore fielen in der zweiten Halbzeit und ihr Team gewann verdient 2:0. Ihre Mutter wirkte nach dem Spiel richtig fröhlich und Vany bemühte sich, ihr nicht zu zeigen, wie heftig es in ihr brodelte. Mit etwas Glück war Ahlfeld nicht mehr da, wenn sie gesund wurde. Bestimmt verlor er irgendwann die Lust daran, auf sie und seine Rache zu warten. Oder er wurde wirklich ins Jungenteam befördert. Doch daran glaubte Vany nicht. Er hatte sich nicht ins Team eingekauft, um Fußball zu spielen, sondern um sich an ihr zu rächen. Sollte er jedoch einen langen Atem beweisen, stand für Vany fest, dass sie nicht ins Team zurückkehren würde. So hatte sie bloß zwei Alternativen: die Fußballschuhe an den Nagel zu hängen oder sich ein neues Team zu suchen.

Ihre Mutter ging in die Küche, um zu kochen, und Vany ging hinauf in ihr Zimmer und tat etwas, das früher einmal Routine gewesen war: Sie rief Jazz an. Die Freundin war beim zweiten Klingeln dran und freute sich hörbar über den Anruf. Wobei das schon übertrieben war und Vany sich fragte, ob sie nur so freundlich war, weil sie versucht hatte, sich umzubringen.

»Wie war das Spiel?«, erkundigte sich Jazz nach der überschwänglichen Begrüßung.

»Das Spiel selbst war ganz okay. Ich hatte Schlimmeres befürchtet, aber tatsächlich hat Cahide sich gut in meine Position eingearbeitet und macht sich super als Spielführerin.«

Vany war selbst überrascht, wie objektiv sie das sagen konnte. Sie verspürte keine Eifersucht auf die Mitspielerin und freute sich stattdessen, dass ihr Team jemanden gefunden hatte, der sie ersetzen konnte. Ihr wurde klar, dass sie sich längst zu ihrem Team hätte gesellen müssen. Sie war so dumm gewesen, sich von den anderen Spielerinnen abzukapseln! Dennoch überwog der negative Teil des Vormittags.

»Etwas anderes macht mir viel mehr Sorgen. Du ahnst nicht, wen ich beim Spiel getroffen habe. Wer sich ins Team eingekauft hat und jetzt Trainerassistent ist!«

»Wer denn?«

Jazz´ Tonfall hatte sich geändert. Sie klang jetzt leicht abwesend. Vany wusste, dass sie sich nicht das geringste aus Fußball machte und immer abschaltete, wenn Vany davon erzählte. Aber als sie die Bombe platzen ließ, hatte sie Jazz´ volle Aufmerksamkeit.

»Dirk Ahlfeld!«

»Was?«, rief Jazz mit all der Empörung, die Vany am Vormittag nicht hatte rauslassen dürfen. »Na, der hat vielleicht Nerven.«

Vany wollte gerade mit einstimmen und sich so richtig über den widerlichen Schwabbelschrank auslassen, als Jazz einen Satz sagte, der ihr sofort den Wind aus den Segeln nahm: »Hast du ihn wieder verprügelt?«

Obwohl Jazz das vielleicht nicht böse gemeint hatte, fühlte es sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Erneut versuchte Vany, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie begriff, dass der Bruch zwischen ihr und Jazz sich nicht durch süße Worte allein reparieren ließ. Es würde Zeit brauchen.

»Nein, habe ich nicht«, antwortete Vany, bemüht, ihre Stimme so emotionslos wie möglich klingen zu lassen. So, als hätten Jazz´ Worte sie nicht getroffen. »Und werde ich auch nicht. Ich weiß nicht, was ich mache. Wahrscheinlich wird mein Knie eh nicht mehr heil. Dann hat es sich mit Fußball auch erledigt. Und wenn ich doch wieder fit werde, suche ich mir ein anderes Team.«

Noch während Vany das sagte, wurde ihr allerdings klar, dass sie das nicht wollte. Sie wollte nicht das Team wechseln. Sie wollte bei Trainer Burkhardt, bei Jule und Cahide und den anderen Mädchen bleiben. Und sie würde sich von einem verfluchten Dirk Ahlfeld nicht aus dem Team drängen lassen.

»Mama hat, glaube ich, zum Essen gerufen«, brach sie das Gespräch mit Jazz ab. »Bleibt es bei morgen?«

»Ja, klar. Ich komm vorbei. Du wolltest mir ja noch die Langfassung erzählen.«

»Mache ich. Bis morgen.«

Vany war deprimiert. Leon hatte sich auch nicht wieder bei ihr gemeldet und von sich aus Kontakt zu ihm aufzunehmen, traute sie sich nicht. Als sie runter zum Essen ging, war zumindest ihre Mutter immer noch entspannt. Ihr Vater hatte sich auch gefangen und erzählte etwas von einem Justizskandal, der gerade die Presse beschäftigte. Tim jedoch schaufelte stumm sein Essen in sich hinein und wich Vanys Blick aus. Nach dem Essen ging sie wieder hinauf, ließ ein weiteres Mal die Tür offen stehen und zockte Fußballgott 2016. Aber Tim blieb in seinem Zimmer. Das gemeinsame Abendessen fiel ein weiteres Mal aus. Und so saß Vany allein in ihrem Zimmer, fühlte sich vollkommen verloren und von allen abgekapselt. Sie hatte keine Ahnung, was sie gegen dieses furchtbare Gefühl unternehmen sollte. Mit einer gewissen Wehmut dachte sie daran, wie sie noch vor kurzem jeden Abend mit Let’s Plays verbracht hatte. Wie herrlich sie da hatte abschalten können. Sie vermisste das. Sie vermisste Deckx und das Bild, das sie von ihm gehabt hatte, bevor sie ihm im Electropoint zum ersten Mal in echt begegnet war. Unruhig tigerte sie in ihrem Zimmer hin und her, die Krücken so leise wie möglich aufsetzend, um niemanden zu stören. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie zog den Schreibtischstuhl zurück, räumte die Bücher zur Seite und holte den Laptop aus dem Fach. Sie nahm ihn mit zum Bett und stöpselte ihre Handykopfhörer an, damit niemand mitbekam, was sie tat. Dann fuhr sie den Laptop hoch. Es dauerte ihr fast zu lang, bis sie endlich den Browser öffnen konnte. Die Startseite von YouTube verriet ihr, dass Deckx tatsächlich kein weiteres Video hochgeladen hatte. Vany verzog den Mund. Irgendwie tat es ihr leid, dass sie Deckx so einen Schrecken eingejagt hatte. Ihretwegen plante er, das Let’s Playen aufzugeben und das durfte nicht passieren. Sie überlegte hin und her und allmählich reifte in ihr ein Plan. Sie war das Ganze falsch angegangen. Vany96 hatte versagt. Jetzt war sie klüger. Sie würde einfach noch einmal von vorne anfangen. Sie löschte ihren Account und legte sich schnell einen neuen an. Ohne lange zu überlegen, gab sie sich einen Namen, den sie mit Deckx verband. Rebekka. Wie das kleine Mädchen aus Fantastic Lights. Sie zog die Namen zusammen und so trug der Account den Namen Rebekka McLight. Im Internet suchte sie nach einem hübschen Foto für ihr neues Profil und fand schließlich ein Bild von einem blonden Mädchen in einem schwarzen Spitzenkleid. Im Hintergrund konnte man verschwommen einen Friedhof sehen. Sie war geschminkt und frisiert wie die Leute aus Deckx´ Lieblingsbands und hielt eine schwarze Rose in den Händen. Perfekt. Anschließend ging Vany auf Deckx´ Profil und schrieb unter das letzte Video, seine Ankündigung, pausieren zu wollen, folgenden Text: »Wie schade, dass du aufhören willst. Habe deinen Kanal eben erst entdeckt. Ich hoffe, du änderst deine Meinung.«

Unverbindlich. Nicht zu aufdringlich. Kaum zu unterscheiden von den Kommentaren, die bereits da waren. Und dieses hübsche Ding würde Deckx bestimmt nicht abweisen! Vany hatte keine Ahnung, warum sich das so verdammt gut anfühlte, doch das tat es. Sie war wieder im Spiel! Sie war vielleicht kurz ausgewechselt worden, aber jetzt stand sie wieder auf dem Platz und alles würde in Ordnung kommen. Sie loggte sich aus, löschte den Browserverlauf und machte sich bettfertig. Auf einmal schien der letzte Donnerstag weit zurückzuliegen. Fast so weit, als hätte es ihn nie gegeben. Sie schaltete das Licht aus und zeigte der Dunkelheit ein strahlendes Grinsen. Von nun an würde alles, aber auch wirklich alles besser werden.

Let´s play love: Leon

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