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Die Zukunft der Gegenwart (Berlin, Miami) Über die Literatur der ›digitalen Gesellschaft‹ 1 1 Die Literatur der ›digitalen Gesellschaft‹

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Würde man eine technisch präzise Beschreibung der Gegenwartsliteratur versuchen, würde man wie Nancy Katherine Hayles wahrscheinlich zu folgendem Ergebnis kommen: »So essential is digitality to contemporary processes of composition, storage, and production that print should properly be considered a particular form of output for digital files rather than a medium separate from digital instantiation.«2 Dies gilt im Grunde seit den 1980er Jahren.3 Diese Digitalität kann durch künstlerische Artefakte mit ihren materiellen und immateriellen Aspekten entweder adressiert werden oder nicht. Wenn sie adressiert wird, sind jedoch nie nur technische Fragen angesprochen, sondern immer auch der Stand des Digitalisierungsdiskurses. Rainald Goetz konnte bei seinem Blog-Projekt »Abfall für alle« (1998/99) noch auf die Aufladung digitaler Medien mit Neuigkeit und Gegenwärtigkeit setzen, was den Blog zum idealen Publikationsort für seine »Geschichte der Gegenwart« machte. Seit Mitte der 2000er Jahre ist in Bezug auf digitale Technologien dagegen eine Konsolidierungsphase zu beobachten, die mit der Etablierung und Popularisierung von Web 2.0 und Sozialen Medien (Wordpress ab 2003, Facebook ab 2004, Twitter ab 2006) und mobilem Internet (iPhone ab 2007) einsetzt. Mit Florian Cramer kann man diesen Zustand als postdigital bezeichnen: »›Post-digital‹ (…) refers to a state in which the disruption brought about by digital information technology has already occurred«.4 Aus diesem Blickwinkel handelt es sich bei »Abfall für alle« um ›digitale Literatur‹ – was könnte im Unterschied dazu postdigitale Literatur sein?

In bisherigen Überlegungen zu postdigitaler Literatur stehen vor allem Artefakte im Zentrum, die strategisch auf das Medium des gedruckten Buches setzen. Zu nennen wären die Phänomene, die unter dem Stichwort Bookishness zusammengefasst wurden.5 Die Gestaltung des Buches wird, etwa bei Judith Schalansky, als Teil der Produktion des literarischen Werks verstanden. Gerade die Akzentuierung der Materialität des Buches lässt sich als Reaktion auf digitale Formate verstehen. Alexander Starre spricht von »Buchwerken«, deren Voraussetzung die »Existenz eines komplett eigenständigen und in sich geschlossenen digitalen Kommunikationskreislaufs« sei, der »das gedruckte Buch vom Standardmedium in den Status eines Wahlmediums«6 transponiert habe.

Eine weitere Form bilden literarische Texte, die häufig dem Bereich der ›Digitalen Literatur‹, ›Elektronischen Literatur‹ oder auch ›Generativen Literatur‹ zugerechnet werden, die aber auf ganz unterschiedliche digitale Produktionsverfahren setzen. Auch in diesem Bereich sind postdigitale Phänomene zu beobachten, etwa der Rückgriff auf das gedruckte Buch als Publikationsmedium.7 Sowohl diese Gruppe als auch die ›Buchwerke‹ adressieren das Digitale unmittelbar durch die Erzeugung von Rückkopplungseffekten zwischen der sogenannten materiellen und der semantischen Ebene von Texten. Beide lassen sich als Auseinandersetzung mit dem »in sich geschlossenen digitalen Kommunikationskreislauf« als einem Teilaspekt einer ›digitalen Gesellschaft‹ verstehen.

Für konventionelle Romanliteratur, die immer noch weit verbreitet ist, hat sich hingegen eine gewisse Flexibilität in Bezug auf das Publikationsmedium als Standard herausgebildet. Sie sind als gedrucktes Buch und als E-Book – auf Smartphones, Tablets, Readern – und damit in unterschiedlichen Formaten verfügbar, ohne dass sie diese Verfügbarkeit unbedingt explizit herausstellen und Rückkopplungseffekte zwischen sogenannter materieller und semantischer Ebene im Fokus stehen. Seit Mitte der 2000er Jahre findet sich jedoch in dieser Gruppe eine immer größere Menge von Texten, die auf differenzierte Weise auf den Digitalisierungsdiskurs reagiert und diese in textuellen Verfahren, Strukturen sowie auf thematischer Ebene adressiert. Wie im Fall der anderen beiden Gruppen wurden diese Reflexionen auf Digitalisierung mit dem Begriff des Postdigitalen beschrieben.8 Relativ unbestimmt blieb dabei im Gegensatz zur postdigitalen generativen Literatur oder zu Bookishness-Phänomenen jedoch, was über eine zeitliche Einordnung in die Konsolidierungsphase digitaler Medien hinaus der Begriff des Postdigitalen für sie bedeuten könnte. Der folgende Vorschlag setzt zunächst bei anderen Formen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung an, um dann in vier kurzen Lektüren auf literarische Texte zurückzukommen.

TEXT + KRITIK Sonderband  - Digitale Literatur II

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