Читать книгу TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II - Hannes Bajohr - Страница 23

2 Die Zeit der ›digitalen Gesellschaft‹

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Das Digitale ist zur zentralen Kategorie gesellschaftlicher Selbstbeschreibung geworden. Es wird nicht mehr als Zukunft, sondern als Gegenwart der Gesellschaft bestimmt und ist die zentrale Erklärungsfigur für ihre Verfasstheit. Diese Entwicklung verdeutlichen soziologische Studien wie »Kultur der Digitalität« (2016) von Felix Stalder, »4.0 oder die Lücke, die der Rechner lässt« (2018) von Dirk Baecker oder »Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft« (2019) von Armin Nassehi. Der Status des Digitalen als zentrale Figur der Selbstbeschreibung hat zur Folge, dass diese Studien das Digitale zwar auch im Kontext einer medientechnischen Transformation adressieren, aber deutlich weitreichendere Bedeutungspotenziale für den Begriff entdecken. So schreibt Nassehi in der Einleitung zu »Muster«: »Ich werde behaupten, dass die gesellschaftliche Moderne immer schon digital war, dass die Digitaltechnik also letztlich nur die logische Konsequenz einer in ihrer Grundstruktur digital gebauten Gesellschaft ist.«9 Auch Stalder positioniert das Konzept der Digitalität in diesem Sinn: »Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure.«10 Der Skopus von Baeckers medientheoretisch informierter Beschreibung einer »nächsten Gesellschaft« ist ähnlich ausgreifend. Ob man die Digitalisierung wie Nassehi als Effekt gesellschaftlicher Problemstellungen oder wie Stalder und Baecker gesellschaftliche Strukturen als Effekt medialer Transformationen versteht, ist in diesem Zusammenhang weniger relevant. Auch ob etwas technisch gesehen digital oder analog ist oder ob eine Kopplung der beiden Zustände vorliegt, spielt für die gegenwärtige Rede vom Digitalen erst einmal eine untergeordnete Rolle.11 Gerade Nassehis Rede vom »Immer-Schon« des Digitalen macht in seiner Zuspitzung deutlich, dass die Sprecher*innenposition eine ist, die sich in einer ›digitalen Gesellschaft‹ verortet. Dass die Kategorie des Digitalen in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung auch jenseits des Technischen dominant geworden ist, zeigt an, dass die soziologische Reflexion über Digitalisierung ihre postdigitale Phase erreicht hat.

Digitalisierung ist in dieser Phase nicht mehr das Zukünftige, sondern als vollzogene gegenwärtig. Im Zuge dieser Verschiebung der zeitlichen Konnotationen von Digitalisierung verschiebt sich zugleich die Wahrnehmung von Zeit. In allen drei genannten Studien ist mit der postdigitalen Akzentuierung des Digitalisierungsbegriffs auch der gesellschaftliche Blick auf die Gegenwart gerichtet. Stalder spricht von der »lebensfeindlichen Temporalität« der »permanenten Gegenwart«,12 die die Gemeinschaftsformen von »Kulturen der Digitalität« präge. Bei Nassehi ist die Rede von einer »radikalen Gegenwartsorientierung der Sozialen Medien« und dem »Netz als Archiv aller möglichen Sätze« und damit auch aller möglichen Zukünfte.13 Baecker beschreibt als prägend für die Zeit der von ihm sogenannten »nächsten Gesellschaft« die »unbekannte Zukunft in ihrer Gegenwart als Krise«.14 Statt den Blick nach vorn wenden zu können, ist die »nächste Gesellschaft« mit der Bearbeitung zukünftiger Krisen in der Gegenwart beschäftigt. Stalder, Nassehi und Baecker stehen mit ihrer Diagnose nicht allein, sondern werden von einer Reihe weiterer seit der Popularisierung und Kommerzialisierung des Netzes Mitte der 2000er erschienener zeitdiagnostischer Texte sekundiert, die mit der Digitalisierung ebenfalls eine Gegenwartsfixierung verbinden, die zudem oft mit einer Limitierung der Handlungsmöglichkeiten durch den Wegfall der Zukunft als Möglichkeitsraum gekennzeichnet ist.15 Nachdem im postdigitalen Zustand Zukunft nicht mehr durch die Gegenwart gewordene Digitalisierung besetzt ist, ist Gegenwart zur zentralen Zeitform der ›digitalen Gesellschaft‹ geworden. Die Gesellschaft der Gegenwart ist aus Sicht der Zeitdiagnostik also eine im doppelten Sinn gegenwärtige. Bringt die literarische Reflexion von Digitalisierung im postdigitalen Zustand ähnliche Zeitwahrnehmungen hervor?

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