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5 Ruinen des Utopischen: Juan S. Guses »Miami Punk« (2019)

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Im Zentrum von Juan S. Guses Roman »Miami Punk« steht Miami als drowning city unter umgekehrten Vorzeichen: Das Meer zieht sich zurück und hinterlässt eine wüstenähnliche Landschaft, noch die mehrere hundert Kilometer vor der Küste von Miami liegenden Bahamas-Inseln ragen als Gebirge aus einer Wüste. »Miami Punk« inszeniert eine dystopische und dabei kontrafaktische Vorwegnahme der Zukunft, die sich allerdings nur – und das ganz buchstäblich – auf ein Element bezieht. Verhandelt werden im Roman Zukunftserwartungen als Folge gegenwärtigen Handelns unter der Voraussetzung, dass diese Zukunftserwartungen nicht in Form individueller Entscheidungen und Lebensläufe ausgehandelt werden können, sondern immer schon in kollektive, mithin gesellschaftliche Prozesse eingebettet und verstrickt sind. Diese Zusammenhänge werden nicht nur in der Anlage des Romans, sondern auch in einer ganzen Reihe von Motiven diskutiert, die insbesondere den Komplex Dystopie-Utopie-Vergemeinschaftung betreffen. Dieser Komplex wird von Beginn an mit dem Digitalen assoziiert, wenn auf den Vorsatzseiten eine Karte der beschriebenen Welt aus ASCII-Zeichen gezeigt wird.

Der Rückzug des Meeres ist Ausgangspunkt des Erzählexperiments, das die Reaktionen verschiedenster Menschen auf diese Veränderung beobachtet. Staatlicherseits wird diese Aufgabe innerhalb des Romans von der »Behörde 55« übernommen, in der eine der Protagonist*innen, Daria Finkelhor, einen Teilzeitjob hat.29 Diese Behörde nimmt insbesondere die Vorgänge im »Rowdy Yates Komplex«, einem in die Jahre gekommenen, einst futuristischen Sozialbau, unter die Lupe, in dem sich verschiedene Gruppen organisieren, um auf den Rückzug des Meeres zu reagieren. Eine von ihnen sind die titelgebenden Miami Punks, die irgendwann die tiefer liegenden Teile des Gebäudes übernehmen und für die Behörde mehr und mehr zum zentralen Beobachtungsobjekt werden.

Die Motivkette Dystopie-Utopie-Vergemeinschaftung beginnt mit der Partie »Age of Empires II«, die die Protagonistin Robin zu Beginn des Romans spielt. Auch die nach dem Rückzug des Meeres entstehenden Kolonien arbeiten daran, in der Wüste zivilisatorische Errungenschaften von Grund auf neu aufzubauen. Sie setzt sich fort mit dem passagenweise auftretenden Ich-Erzähler, der an dem ›Counter Strike‹-Turnier teilnimmt und eine Habilitation über den poetischen Staat anfertigt.30 Sie findet sich auch im sogenannten »Kongress« im Rowdy Yates Komplex, wo ein Vortrag über die »Entwertung aller utopischen Versprechungen der Automatisierung menschlicher Tätigkeiten«31 gehalten wird, der unter anderem von einem »Bloch« diskutiert wird, der wiederum behauptet, »im Jahr 1885 geboren worden, aus Nazi-Deutschland nach Miami geflohen sowie der vielgeschätzte Autor des dreibändigen Buches ›Das Prinzip Hoffnung‹ zu sein«32. In diese Reihe gehört schließlich auch der »Rowdy Yates Komplex« selbst als sozialutopischer Entwurf.

Als Experimentalanordnung innerhalb des Romanexperiments erscheinen dann neben ›Age of Empires II‹ auch andere Computerspiele und Computerspielprojekte, die die Frage der Vergemeinschaftung auf allen Ebenen stellen: ›Age of Empires II‹ auf einer Makroebene und ›Counter Strike‹ durch die Fokussierung auf Teamdynamiken und die im Turnier auftretenden Glitches auf der Ebene kleinerer Gruppen. Über die Glitches heißt es: »So gab es z. B. zwei mehr o. weniger direkte Bezüge zu Miami (…) u. immer schien es entweder um eine Familie, eine Gruppe von Freunden o. um das Leben der Angestellten in den Büros von cs_office zu gehen.«33 Seinen Höhepunkt erreicht diese Verknüpfung von Computerspiel und Gesellschaftsreflexion schließlich in Robins nach Pierre Bourdieus Klassiker benanntem Spielprojekt »Das Elend der Welt«, über das es in einem Antragsschreiben heißt: »Anstatt, dass der Spielende in der Illusion lebt, auf sich ewig verzweigenden Pfaden zu wandeln, obwohl er in Wirklichkeit nur den vorgefertigten (…) Erzählbrotkrumen folgt, soll sich in ›Das Elend der Welt‹ eine Geschichte entfalten, die sich nicht aus der Deutungshoheit der Studios speist, sondern aus den Biografien der Spielenden selbst.«34 Die daraus folgende multiperspektivische Anlage des Spiels, die anstelle einer homogenen Erzählung viele heterogene individuelle Erzählungen spielbar macht, deutet auf die multiperspektivische Anlage des Romans – von der Nebenfigur Juan über die Passagen mit Ich-Erzähler bis zum »Katalog letzter Gedanken der fliegenden Dinge ohne Bedeutung«35 – mit seinen wechselnden Erzählformen, durch die Menschen und Dinge als gleichwertige Elemente innerhalb eines sozialen Systems dargestellt werden. In diesem Kontext positioniert der Roman verschiedene utopische Projekte, die weniger utopische Zukunft als Reste einer Vergangenheit sind, in der utopisches Denken noch möglich war. Dies gilt für den »poetischen Staat« genauso wie für den »Rowdy Yates Komplex« und die dort gehaltenen Vorträge. Auch die Weltentwürfe der Computerspiele lassen sich als ein Rest utopischen Denkens verstehen. Das literarische Programm des Romans orientiert sich dagegen eher an Bourdieus »Das Elend der Welt«: individuelle Stimmen in nicht-privilegierten Positionen zum Sprechen zu bringen.

TEXT + KRITIK Sonderband  - Digitale Literatur II

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