Читать книгу TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II - Hannes Bajohr - Страница 24
3 Aktualisierung als Verfahren: Julia Zanges »Realitätsgewitter« (2016)
ОглавлениеJulia Zanges »Realitätsgewitter« führt die Produktivität der Aktualisierungsmodi digitaler Medien für das Erzählen vor und legt das Augenmerk insbesondere auf das Digitale als von außen intervenierender Impuls. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das Erzähltempus Präsens, die Kürze der Sätze und einen parataktischen Stil. Der Roman, der von der Berliner Teilzeitkulturjournalistin Marla, ihrem Smartphone und ihrer Suche nach gelingenden Sozialbeziehungen handelt, ist ein erzählerisches Experiment mit von digitalen Medien induzierter Gegenwartsfixierung. Die Protagonistin ist einem »Realitätsgewitter« von Ereignissen ausgesetzt, Benachrichtigungen auf ihrem Smartphone treiben die Erzählung voran. Zukunft als Möglichkeitsraum gerät so gar nicht erst in den Blick.
»Realitätsgewitter« beginnt mit einem Facebook-Post – das erste Motto lautet: »The misappropriation of attention as care is a major existential problem of our time. / Deanna Havas, Facebook, 17 minutes ago, NY City«16. Das Statement der zum Erscheinungszeitpunkt als aufstrebende Netz-Künstlerin geltenden Havas signalisiert die ambivalente Haltung des Textes gegenüber digitalen sozialen Medien.17 Einerseits kann man den Verweis auf die Zweckentfremdung von Aufmerksamkeit als Anteilnahme als eine Folge digitaler Medien lesen, andererseits nutzt der Post Facebook als Reflexionsmedium. In einem zweiten Motto wird auf die digitale Verfasstheit des Manuskriptes für den Text verwiesen: »Die Datei ›Realitätsgewitter.doc‹ ist geschützt, da Sie sie in der letzten Zeit nicht geändert haben. Schutz aufheben? Abbrechen?«18 Damit wird der Text jenseits der Frage, ob er als gedrucktes Buch oder als E-Book gelesen wird, als digital markiert. Zudem verweist die Möglichkeit der Änderung wie die Zeitangabe im ersten Motto auf den Modus der Aktualisierung, der das Aktuelle permanent der Gefahr aussetzt, durch die nächste Version ersetzt zu werden.
Diese Spannung funktioniert als erzählerisches Prinzip des Romans: Die »EILMELDUNG: 80 Tote in Nizza bei Attentat mit LKW«19 beschäftigt die Protagonistin Marla gerade einen Satz lang, der über einen Vergleich des »Blau Nizzas mit den Bildern von Yves Klein«20 zu dem Video einer Yogalehrerin auf Facebook führt, in dem diese Argumente anführt, warum man am Meer leben sollte. Nach verschiedenen Versuchen der Protagonistin, ihre Einsamkeit über Facebook, Instagram und Tinder zu überwinden, steht am Ende des Romans »Gefühl 3«, ein neuer Zustand: »Wir haben eine Entscheidungsfreiheit, jede Sekunde. Das habe ich verstanden. Aber das Seltsamste, was jetzt passiert, ist, dass auf einmal Gefühl 3 auftaucht. Auf Höhe des Herzens gibt es jetzt eine Verbindung, ein Einverständnis.«21 Diese Entwicklung ist also weniger durch eine graduell entstehende Einsicht als durch ihre Plötzlichkeit gekennzeichnet, die durch die immer neuen Verweise auf den gegenwärtigen Moment deutlich markiert ist. Insgesamt kommt das Wort ›jetzt‹ auf 250 Seiten 152 Mal vor. Der Unterschied zum Beginn des Romans besteht in der Einsicht, dass auch der Modus permanenter Aktualisierung zumindest in begrenztem Maß Offenheit zulässt. Die Protagonistin kommentiert »Gefühl 3« mit den Worten: »Oh Gott, Marla, jetzt klingst du echt wie ein kitschiger Facebook-Eintrag.«22 Wie die sehr technisch klingende Unterscheidung der Gefühle durch Ordnungszahlen weist der Vergleich von »Gefühl 3« und einem Facebook-Post darauf hin, dass der Roman jenseits von simpler Medienkritik, die Vereinsamung durch soziale Medien beklagt, zu verorten ist, indem digitale Medien gerade als Reflexionsmöglichkeit eingeführt werden. Als plötzliche Intervention von außen können sie nicht nur Aufmerksamkeit ablenken, sondern auch Überlegungen anstoßen und die Gegenwart für Entscheidungsmöglichkeiten öffnen.