Читать книгу TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II - Hannes Bajohr - Страница 25
4 Gegenwart der Vergangenheit: Berit Glanz’ »Pixeltänzer« (2019)
ОглавлениеBerit Glanz’ »Pixeltänzer« (2019) ist wie »Realitätsgewitter« eine Reflexion des Verhältnisses von ›digitaler Gesellschaft‹ und individuellen Handlungsmöglichkeiten. Der Roman setzt mit einer heterodiegetischen Erzählinstanz und dem Erzähltempus Präteritum auf eine konventionellere Anlage als »Realitätsgewitter«. Die Protagonistin Elisabeth, genannt Beta, ist »Junior-Quality-Assurance-Tester«23 bei einem Berliner Startup. Über eine App lernt sie einen geheimnisvollen Fremden namens Toboggan kennen. Toboggan bringt ihr die Geschichte des Hamburger Künstlerpaars Lavinia Schulz und Walter Holdt aus den 1920er Jahren näher. Im als digital inszenierten Textnetzwerk des Romans existieren zwei voneinander entfernte Zeiten gleichzeitig. Die beiden Erzählstränge sind von gleicher Aktualität und werden abwechselnd weitergeführt.
Die Offenheit des Romans für das Digitale und seine Inszenierung als Teil eines Textnetzwerkes entsteht nicht nur aus dieser Verknüpfung, sondern auch durch die Rahmung einzelner Textabschnitte. Einigen Kapiteln sind kurze Sequenzen Pseudoprogrammiercodes vorangestellt. Die folgende eröffnet den Roman:
// S-Bahn-Beobachtungs-Statement
if (IsSBahnAccelerating) {
currentSpeed++;
} else {
System.out.println(»Die Frau steht am
Fenster.«);
}24
Durch die Aufnahme von Elementen wie der S-Bahn und der am Fenster stehenden Frau, die im folgenden Kapitel eine Rolle spielen, wird der unmittelbare Zusammenhang des Pseudocodes und des folgenden Kapitels impliziert. Die Kapitel werden auf diese Weise als momenthafter Output des Codes inszeniert. Neben diesen Pseudocodeschnipseln gibt es weitere Kategorien von kurzen Texten, die die Kapitel einleiten: Erklärungen von Testverfahren und von IT-Projektmanagement-Techniken sowie Namen von W-LAN-Netzwerken.
Mit Toboggan kommuniziert Beta über einen fiktiven Blog. Die zum Buch unter toboggan.eu eingerichtete Website, auf die im Roman immer wieder verwiesen wird, nimmt einige Elemente dieses Blogs, etwa bestimmte Bilder, auf. Die Geschichte von Lavinia und Walter aus den 1920er Jahren entwickelt sich nach und nach an verschiedenen Orten im Netz parallel zur Handlung in der Erzählgegenwart. Am Ende hat die Protagonistin zusammen mit einigen befreundeten Kolleg*innen aus dem Startup einen App-Entwicklungswettbewerb gewonnen. Einerseits hat sie damit bessere Ausgangsbedingungen als Lavinia: »Wahrscheinlich hat sich Lavinia nach all den Dingen gesehnt, die wir gestern, ohne es zu wollen, gewonnen haben: Geld und einen angenehmen Platz zu arbeiten.«25 Andererseits wäre die expressionistische Künstlerin radikaler gewesen: »Lavinia hätte wahrscheinlich einfach gekündigt und ein Jahr lang nur altes Brot gegessen, aber vielleicht bin ich nicht so radikal oder eben doch zu ängstlich und zu gewöhnt an meinen Komfort.«26 Schließlich entstehen aus der Beschäftigung mit Lavinias Kunst eine Gruppe um die Protagonistin und die Inspiration für ein subversives App-Projekt, das sich gegen digitale Überwachungstechniken wendet.27 Am Ende von »Pixeltänzer« steht die Definition einer »Definition of Done«,28 die Teil einer bestimmten Art der Organisation von Arbeitsprozessen im IT-Bereich ist. Sie bildet die Schlusspointe des Romans – anstelle eines Endes steht die Definition eines Verfahrens zur Verbesserung der Kriterien für das Ende eines Arbeitsabschnittes. Die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und neuen Formen der Erwerbsarbeit, die in den beiden parallelen Erzählungen des Romans entfaltet wird, wird durch die »Definition of Done« pragmatisch beantwortet: An die Stelle einer Utopie tritt die stetige Verbesserung von Arbeitsprozessen. Auch Betas Handeln ist weniger von einem radikal utopischen Denken als von einem Pragmatismus geleitet. Nichtsdestotrotz hat sie, verglichen mit Marla aus Zanges »Realitätsgewitter«, deutlich mehr Handlungsspielraum. Mit Hilfe des Digitalen öffnet sich für sie ein Raum utopischen Denkens in der Vergangenheit, der in Bezug auf die Gegenwart aktualisiert wird. Dieser digital induzierte utopische Impuls ermöglicht schließlich eine kritische Reaktion auf digitale Überwachung, die sich selbst digitaler Mittel bedient.