Читать книгу TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II - Hannes Bajohr - Страница 27
6 Rückzug ins Private: Joshua Groß’ »Flexen in Miami« (2020)
ОглавлениеIm Gegensatz zu »Miami Punk« fokussiert Joshua Groß’ »Flexen in Miami« (2020) nicht eine Gesellschaft als Gesamtzusammenhang, sondern ein einzelnes Subjekt, den Stipendiaten Joshua. Noch deutlicher als bei Guse spielt bei Groß die Ästhetik und Musik des Post internet-Genres Cloud Rap eine Rolle.36 Erkennbar wird dies unter anderem an all den lilafarbenen Dingen im Roman: ein Poloshirt, ein Tesla, die Nacht, die Drogen, Laserstrahlen, Treppen und vor allem und immer wieder der Himmel und die Wolken.37 Der Protagonist Joshua ist sich seiner Verstrickung in die gesellschaftlichen Zusammenhänge bewusst: »Ich war (…) ein bleicher Nachkömmling westlicher Ausbeutermentalität; und einer Ignoranz, die mich täglich trug und infiltrierte, die ich erduldete, die ich notgedrungen mein ganzes Leben lang verkörpern würde, mit all ihren Konsequenzen, mit all meiner Scham, mit all ihrer internalisierten Zerstörungswut und Übergriffigkeit. Ich würde mich davon nie vollständig befreien können.«38 Dass der Protagonist Joshua heißt, markiert zugleich auch das Bewusstsein des Autors dafür, dass er aus einer spezifischen Position spricht. Der durch eine Drohne versorgte und überwachte Protagonist ist auf der Suche nach widerständigen Praktiken gegen den digitalen militärisch-ökonomischen Komplex. Schon die ersten Sätze kündigen das an: »Ich ahnte überall Glitches, das geht zurück auf meine Mutter. Ein Misstrauen gegenüber dem Wirklichen, eine parawissenschaftliche Wachheit bezüglich der Instabilität. Ich wurde von Immersionen gemartert und meine eigene Existenz war eine entsetzliche Mühsal. Deshalb rauchte ich so viel Marihuana.«39 Darin drückt sich einerseits die Hoffnung aus, durch Bewusstseinserweiterung einen Blick auf die Bruchstellen der Realität zu erhaschen und so die diese beherrschenden Kräfte bestimmen zu können. Andererseits wird Joshuas Leben als eine Außenseiterexistenz markiert, die von den Nebenwirkungen jener Bewusstseinserweiterungen beeinträchtigt ist.
Neben seinem Drogenkonsum kann auch das Computerspiel ›Cloud Control‹ in diesen Zusammenhang gestellt werden. Wie die Drogen führt auch ›Cloud Control‹ zu einer Verzerrung realer Verhältnisse: angefangen mit seinem Avatar – »1,93 Meter groß, rosa Locken, in den Augen Polarlichter, Thug Life-Tattoo auf dem Bauch«,40 eine Kompassqualle als Begleiterin – bis zur Funktionsweise des Spiels, das sich aus dem digitalen sozialen Netzwerk seiner Spieler*innen generiert. Gegen Ende, der Rapper Jellyfish P spielt mit Joshuas Account, teilt ihm dieser mit: »Die Qualle sagt: Immunisiere dich und beende den Austausch mit den Apparaturen der Macht. Sie sagt: Entwickle andere Formen der Abweichung. Sie sagt: Du bist mehr als die Widerstände in dir.«41 P reagiert darauf, indem er seine Doppelgänger, die im Spiel immer häufiger auftauchen, brutal massakriert. Joshua hingegen kommt zur Einsicht, »dass es mir eigentlich die ganze Zeit egal gewesen war, wer die Drohnen geschickt hatte, um mich zu überwachen; ich hatte nur wissen wollen, ob es tatsächlich möglich war, dass ich all das – diese abseitige, wundersame Existenz – aushielt und weiterführte.«42 Sein Ziel ist schlussendlich also nicht Kritik und Überwindung der herrschenden Verhältnisse, sondern ein erträgliches Leben. Im Epilog deutet sich an, wie dieses Leben aussehen könnte: eine familienähnliche Gemeinschaft mit Jellyfish P, dessen Entourage sowie einem Kühlschrank, der Joshua über den Roman hinweg ein fürsorglicher Begleiter ist, und seinem im Lauf des Romans gezeugten Kind. Anstelle eines Aufbegehrens gegen digitale Überwachung, wie sie Beta in »Pixeltänzer« zumindest ankündigt, steht im Fall von Joshua der Rückzug ins Private der Kommune mit Kühlschrank.