Читать книгу Sammelband "Tatort Hunsrück" Teil 1 - Hannes Wildecker - Страница 16

Kapitel 10

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Overbeck hatte sich verspätet. Vor dem Leichenschauhaus erwartete er die letzte Freundin Dellmanns, Jeanette Köhler. Er hatte sie ausfindig gemacht und dazu überreden können, die Leiche zu identifizieren. Die Suche nach ihr hatte sich als schwerer erwiesen als erwartet. Letztendlich hatten ihm Nachbarn des Toten den entscheidenden Tipp gegeben.

Nun stand sie da und obwohl Overbeck nur mit ihr telefoniert hatte, wusste er gleich, wen er vor sich hatte. Sein erster Gedanke war: Eine Nutte. Sein Blick glitt über die roten gelockten Haare über dem blassen, schmalen Makeup-lädierten Gesicht mit den wulstigen rotgeschminkten Lippen, über die weit ausgeschnittene Bluse über den vollen Brüsten bis hin zur engen Jeans und den unpassend roten Stöckelschuhen dazu.

Als sie ihn kommen sah, zertrat sie ihre halb gerauchte Zigarette mit der Spitze ihres Schuhs und sah ihm entgegen.

„Liegt er da drin?“ Die emotionslose Frage traf ihn überraschend und ehe er antworten konnte, sprudelten weitere Worte zwischen ihren offensichtlich aufgeblasenen Lippen -Overbeck tippte auf Botox- hervor.

„Wer erstattet mir meine Kosten. Ich musste immerhin den Bus nehmen und eine Strecke von über 20 Kilometern zurücklegen. Ich habe meine Zeit auch nicht gestohlen. Es gibt doch sicher Zeugengeld dafür? Gibt es doch, oder nicht?“

Overbeck hatte sich wieder gefangen. „Eher Letzteres.“

Die Frau verstummte und überlegte. Offensichtlich verstand sie nicht, was Overbeck meinte. Ihr Intellekt ließ eine Erkennung des Sinnes der gesprochenen Worte nicht zu.

„Was, Letzteres?“, fragte sie mit aufgerissenen Augen.

„Oder nicht. Sie sagten es gerade selbst. Es gibt kein Zeugengeld.“

„Und warum nicht?“

„Weil es keine Zeugenaussage ist. Sie sollen nur die Identität des Toten feststellen. Sie kannten Dellmann doch, oder.“

„Ja, ja, ich kannte ihn. Aber nur kurz. Die meiste Zeit hat er im Knast gesessen. Und wenn er dann mal draußen war, musste ich ihn durchschleppen. Sogar heute muss ich selbst für meine Kosten aufkommen. Was ist das nur für ein Staat?“

„Kommen Sie?“ Overbeck hatte keine Lust, noch weiter mit der Frau zu diskutieren. Der Obduzent wartete und insgeheim hoffte Overbeck, dass er noch nicht mit seiner Arbeit begonnen hatte. Es würde die Identifizierung durch die Frau nur erschweren.

„Warten Sie hier“, sagte er zu der Frau, als sie an der Tür zum Sektionsraum angekommen waren.

Als er den Raum betrat, war ein älterer schlanker Herr mit weißem Schnäuzer und ebensolchen Haaren, gerade dabei, eine männliche Leiche auf einem der Seziertische zu untersuchen. Der Obduzent, den Overbeck als solchen ansah, war in einen grünen Kittel gehüllt und ein Mundschutz hing überflüssigerweise unter seinem Kinn.

Mit dem Rücken zu ihm gewandt stand in gebeugter Haltung eine weitere Person, ebenfalls in grünem Kittel. Die graumelierten leicht gewellten Haare fielen ihm bis auf die Schultern. Der Mann sortierte offensichtlich irgendwelche Behältnisse.

Beide schwiegen, während sie arbeiteten.

Hinter Overbeck fiel die schwere Tür ins Schloss.

„Herr Spürmann“, sagte der Weißbehaarte ohne aufzusehen und ein leiser Vorwurf klang in seiner Stimme mit. „Sie sind spät an. Bin ich von Ihnen gar nicht gewohnt.“

Der Mann, der mit dem Rücken zu Overbeck stand, drehte sich um und lächelte triumphierend. Das rechte Auge war geschlossen. Overbeck dachte an Leni und an das, was sie bezüglich dieses Mannes gesagt hatte. Beim Anblick Overbecks gefror sein Lächeln.

„Mein Name ist Overbeck“, sagte Overbeck irritiert.

Der Mann in Weiß hob den Kopf, hielt in seiner Arbeit inne und sah über eine schmale Lesebrille, die er auf der Nasenspitze trug.

„Overbeck? Wo ist Spürmann?“

„Ich bin sein Nachfolger“, antwortete Overbeck, der immer noch in der Nähe der Tür stand, mit krauser Stirn. „Ich ermittle im Fall Dellmann.“

„Was ist mit Spürmann?“ Der Obduzent streifte seine Handschuhe ab und kam auf Overbeck zu.

„Entschuldigen Sie, es ist nur so, dass ich nichts von einem Nachfolger weiß. Ich wusste ja nicht, dass Spürmann nicht mehr bei der Mordkommission ist. Mein Name ist übrigens Schneider, Theodor Schneider. Ich bin der Professor, der die Toten aufschneidet. Und der da“ -er deutete zu der anderen männlichen Person mit dem hängenden Augenlid- „das ist mein fleißiger Helfer Wladimir Kornsack.“

Kornsack nickte kurz herüber und Schneider reichte Overbeck die Hand, die dieser zögerlich nahm und den Händedruck erwiderte.

„Keine Sorge, meine Hände sind sauber“, sagte Schneider. Sie …“

Overbeck unterbrach ihn. „Draußen steht die Ex-Verlobte des Toten, oder seine Ex-Freundin oder was weiß ich. Sie muss die Leiche identifizieren.“

„Dann bringen Sie die Dame doch herein. Es ist ja noch früh genug“, grinste Schneider und entledigte sich seiner Gummihandschuhe, die er achtlos in einen mit einer Plastiktüte ausgeschlagenen Behälter warf. „Aber machen Sie schnell. Mir läuft die Zeit bereits davon.“

„Ist das Jörg Dellmann?“ Overbeck betrachtete erwartungsvoll das Gesicht der Frau, deren Namen Jeanette Köhler war. Jetzt, im grellen Schein der Neonröhren, schien ihr Gesicht förmlich zu zerbröseln, so intensiv zeigten sich die Falten ihres Lebens, die sie mit einer rötlichen Substanz zugespachtelt hatte.

Sie klappte ihr kleines rotes Handtäschchen auf und entnahm ihm ein weißes Taschentuch, das sie sich vor Mund und Nase hielt. Overbeck wusste nicht, ob es wegen eventuell austretender Tränen war oder wegen des Geruchs, der sich langsam zu intensivieren begann.

„Und?“, hakte Overbeck nach.

„Ja, er ist es. Kann ich jetzt gehen?“

„Sagen Sie mir den Namen des Mannes.“

„Den kennen Sie doch.“ Die Frau sah ihn an, als habe er nach der Lösung von zwei plus zwei gefragt.

„Ob ich ihn kenne, spielt keine Rolle“, sagte Overbeck ungehalten. „Und Sie?“

„Ja, es ist Dellmann, Jörg Dellmann. Der Ohrring dort am linken Ohr. Er hat ihn von mir als Geschenk erhalten. Das Gesicht … das Gesicht ist ja hin. Wie ist das geschehen?“

Overbeck sah die Frau schweigend an und in diesem Schweigen las sie eine Portion Ungeduld.

„Ja, ich kann sagen, dass es Dellmann ist. War es das?“

„Gut, dann wären wir fertig. Sie müssen noch ein Formular unterschreiben.“

„Sie ermitteln also im Fall des gesichtslosen Mannes?“, sagte Schneider, als die Frau gegangen war. „Sie schien nicht in großer Trauer?“ Er bewegte den Kopf in die Richtung, in welche die Frau gegangen war.

Overbeck nickte. „Sie wird ihn nicht vermissen.“

Schneider wechselte das Thema. „Es ist gut, dass Sie hier sind. Ich glaube, ich brauche Ihre Hilfe.“

„Wie soll ich Ihnen helfen können?“, fragte Overbeck verwundert.

„Na, mit Ihren Ermittlungen zum Beispiel. Sagen Sie, welchen Eindruck hatten Sie am Tatort? Ich meine, wie stellte sich Ihnen der Tathergang dar? Beschreiben Sie mir die Auffinde-Situation. Oder haben Sie Fotos dabei? Das wäre gut.“

„Ja, natürlich.“ Overbeck öffnete umständlich seine Aktentasche uns nahm einen Hefter mit diversen Papieren heraus.

„Die Akte Dellmann, was wir bis jetzt haben. Und die Fotos vom Tatort.“

Overbeck breitete die Fotos auf einem klobigen hölzernen Tisch aus, auf dem sich ein Telefon und ein Telefonbuch befanden. Schneider war ihm gefolgt und sah sich die Bilder an, ohne sie anzufassen.

„Was meinen Sie?“, fragte er Overbeck.

„Der Tathergang?“ Overbeck zuckte die Schultern. Wir gehen davon aus, dass man dem Mann aufgelauert hat und ihn dann mit einem Baseballschläger vermutlich aus dem Stand erschlagen hat.“

„Sie meinen, in der Art, wie man im Sport auf einen Baseball eindrischt?“

„Das ist die Theorie. Pflichten Sie mir bei?“

Schneider schüttelte bedächtig den Kopf.

„Kommen Sie mit.“ Overbeck folgte ihm und sie blieben vor der Leiche auf dem Sektionstisch stehen. Der Mann lag auf dem Rücken und war unbekleidet. Der Hinterkopf lag auf einem kantigen Stück Holz. Es war ein kräftiger Körper, der breite Brustkasten ragte über dem eingefallenen Bauch nach oben.

Overbecks Blick blieb auf dem Gesicht des Toten haften oder auf dem, was einmal ein Gesicht gewesen war. Es sah nicht mehr so schlimm aus wie zur Zeit der Auffindung. Schneider -nein nicht Schneider, der gab sich nicht mit solchen Arbeiten ab, dachte Overbeck- Kornsack wird es getan haben, nämlich die Wäsche der Leiche, wobei er auch nicht das Gesicht ausgelassen hatte. Was bisher noch wie ein Klumpen Fleisch, Fett, Haut und Augen bestanden hatte, wies nun Konturen auf. Overbeck sah Teile der zertrümmerten und eingedrückten Nase, die sich unter der gewaltsam nach oben verschobenen Oberlippe befand. Die Augen waren noch da, doch sie lagen an anderen Stellen als an denen, die von der Natur angedacht waren. Wangenknochen und Zähne, die sich noch an ihren angestammten Plätzen befanden, leuchteten in Fragmenten durch das zerschlagene Fleisch und irgendwie glaubte Overbeck das Gaumenzäpfchen irgendwo im Hintergrund zu erkennen.

Overbeck versuchte genauer hinzusehen. Wenn man ihn jetzt um seine Meinung zur Tatausführung befragt hätte, er würde eine Antwort schuldig bleiben. Er verwarf seine Theorie, die er sich, wie er nun glaubte, angesichts der Örtlichkeiten und der Tatumstände entworfen hatte. Er wartete darauf, was Schneider ihm zu sagen hatte. Deshalb sagte er nur: „Die Umstände … ich hätte geschworen …“

„Kann ich gut verstehen“, unterbracht ihn Schneider. „Ich will Ihnen etwas sagen. Ich bin der Ansicht, dass der Mann auf dem Boden lag, als man auf ihn einschlug.“

„Auf einen wehrlosen Mann.“

„Auf einen offensichtlich verteidigungsunfähigen Mann“, sagte Schneider und ging um den Seziertisch herum auf die gegenüberliegende Seite.

„Wenn der Mann verteidigungsfähig gewesen wäre, als er auf dem Boden lag, was glauben Sie, welche Verletzungen würden wir vorfinden?“

Overbeck überlegte kurz. Dann wusste er, was Schneider meinte. Er nickte und sah zu Schneider, der väterlich lächelnd seinen Blick erwiderte.

„Kommt darauf an, ob der Links- oder Rechtshänder war. Sein Arm wäre zerschmettert, wegen der Abwehrbewegung.“

„So ist es, Herr Overbeck. Diese erste Verletzung würden wir feststellen. Natürlich auch die anderen, die wir hier vor uns sehen. Aber jeder Angegriffene versucht, sich irgendwie zu schützen. Wenn man also im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, will man instinktiv einen Angriff abwehren.“

„Was dieser Dellmann nicht getan hat.“

„Das ist so nicht richtig. Ich vermute, dass er reagiert hat. Doch sein Mörder hat ihn hereingelegt.“

„Hereingelegt? Wie meinen Sie das?“

„Also, Herr Overbeck“, begann Schneider gedehnt. „Ich möchte ihnen meine Theorie erzählen, so wie der Tod sie mir auftischt.“ Schneider sah zu der Leiche Dellmanns hinüber, dann wieder auf Overbeck. „Ich vermute, dass der Mann“, er schaute wieder zu Dellmann hinüber, „dass dieser Mann dort auf dem Boden lag, aus welchen Gründen auch immer. Ich habe bereits eine Vermutung. Der Täter hat mit dem Baseballschläger ausgeholt und Dellmann hat sein Gesicht zu schützen versucht. Doch der Schlag wurde nicht gegen sein Gesicht geführt.“

„Sondern gegen seinen rechten Unterschenkel“, sagte Overbeck leise.

„Ich sehe, Sie beginnen zu verstehen“, lächelte Schneider. „Also weiter: Der Schlag kam also unverhofft und reflexartig fasste sich das Opfer an sein verletztes Bein.“

„Den Reflex nutzte der Täter aus“, nickte Overbeck.

„Den Reflex, den er provoziert hatte. Ich würde mich nicht wundern, wenn die Proben dort“, er zeigte auf die mit Blut und Gewebeteilen gefüllten kleinen Behältnisse auf dem hölzernen Tisch, „wenn diese Proben ergeben, dass man Dellmann betäubt hatte.“

„Sie meinen vor seinem gewaltsamen Tod?“

„Genau. Irgendwie muss der Täter sein Opfer doch an den Tatort geschafft haben. Sie sagten, das Anwesen, wo es geschah, liegt weit außerhalb der Ortschaft. Wie sonst, als ihn zu betäuben, will der Täter das schaffen, zumal Sie nicht ausschließen, dass es sich dabei um eine Frau handeln könnte.“

„Wann wird das Ergebnis vorliegen?“, fragte Overbeck gespannt und zückte sein Handy. „Entschuldigung“, sagte er zu Schneider und kurz darauf hatte er Leni an der Strippe.

„Du musst unbedingt die Wohnorte der anderen drei Personen … du weißt schon, die Tätergruppe von damals … ausfindig machen. Sammele alle Erkenntnisse über sie. Wir werden mit ihnen reden müssen, so schnell wie möglich.“

„Das ist bereits geschehen, Overbeck“, tönte es aus der Leitung. „Kollege Gehweiler hat mich mit allem versorgt. Ich bin derzeit bei der Dienststelle in Hermeskeil. Ich werde mit Gehweiler mal sehen, was die drei so treiben. Bin gespannt auf ihre Gesichter, wenn sie vom Mord an ihrem Komplizen erfahren.“

„Ich vermute ein Betäubungsmittel“, sagte Schneider, als Overbeck fertig war. „KO-Tropfen oder so was.“

Overbeck überlegte und nickte. „Unter diesen Umständen wäre es für den Täter ein Leichtes gewesen, das wehrlose Opfer zum Tatort zu bringen und dort ungestört sein Vorhaben zu vollenden.“

Das Gespräch wurde abrupt durch das Kreischen einer Knochensäge unterbrochen. Kornsack stand gebeugt hinter der Leiche und führte die Säge mit der kleinen Schnittscheibe durch den oberen Bereich des Kopfes. Das Gesicht des Toten war nicht mehr zu erkennen, denn Kornsack hatte die gelöste Kopfhaut darübergelegt und unter dem Kinn verankert.

Overbeck folgte Schneider zu Kornsack, der nun das Gehirn aus dem Schädel gelöst hatte und übergab die Masse, die er kurz mit der Dusche abgebraust hatte, in die Hände des Professors.

„Eine Probe dieses Gehirns und eine Blutprobe dazu würden sicherlich reichen, um ein Medikament oder ein Gift nachzuweisen“, sagte er, während er mit einem scharfen Messer das Gehirn in circa zwei Zentimeter dicke Scheiben schnitt. „Aber Sicherheit geben wird uns eine Haarprobe. Über die Haare kann jedes Gift nachgewiesen werden. Und ein Betäubungsmittel ist ein Gift, angewandt in einer kleineren Dosis.“

Plötzlich verzog er das Gesicht. Ein penetranter Geruch verbreitete sich von einem Moment auf den anderen im Obduktionsraum. Overbeck sah zu Kornsack hinüber und erkannte die Ursache. Der Gehilfe des Professors hatte die Leiche vom Hals abwärts bis über den Unterbauch hinaus mit einem Skalpell aufgeschnitten und griff erneut zu seiner Knochensäge. Damit schnitt er ein trapezförmiges Teil aus dem Brustkasten, der ihm den Zugriff auf die oberen Organe erlaubte.

„Sie entschuldigen.“

Schneider wandte sich von Overbeck ab und ging zu Kornsack hinüber. Nun, nachdem die Vorarbeiten erledigt waren, begann die Arbeit des Professors. Er beugte sich über die Leiche, als sei der penetrante Geruch überhaupt nicht vorhanden. Er führte noch einige erforderliche Schnitte durch. Dann packte er mit beiden Händen unter die Windungen des gesamten Darmkomplexes und mit einer kräftigen Bewegung beider Hände, die er wie Schaufeln benutze, wuchtete er das gesamte Gedärm neben den Toten auf den Seziertisch. Dann löste nach und nach die Organe, wie Herz Leber, Lunge Milz und Nieren, aus dem Körper, um kleine Teile davon abzuschneiden und sie Kornsack zu übergeben. Der wiederum beschriftete irgendwelche Behältnisse und verstaute die Teile darin.

„Sie stört der Geruch?“ Schneider drehte sich zu Overbeck herum. „Ist doch noch erträglich. Die Verwesung hat begonnen, die Zersetzung der Eiweißmoleküle ist nun mal mit Geruch oder auch Gestank verbunden.

Overbeck brannte eine Frage auf den Lippen.

„Was ist, wenn es KO-Tropfen waren? Ich habe irgendwo gelesen, dass ein Nachweis nicht geführt werden kann.“

„Schmarren.“ Schneider wischte die Frage mit einer energischen Handbewegung weg. „Im Blut sind die Stoffe zwar maximal acht Stunden nachweisbar, im Urin 20 Stunden“ referierte er. „Aber die Substanzen können auch noch nach langer Zeit über die Haare nachgewiesen werden. Das Schlimme an den Tropfen ist eigentlich, dass es sich um eine farblose Flüssigkeit handelt, die fast allen Getränken untergemischt werden kann, ohne dass das Opfer dies bemerkt.“

„Also sind sie auch geschmacksneutral.“

Schneider überhörte die Frage. „Verantwortlich dafür ist die Substanz Gammahydroxybuttersäure, kurz GHB genannt. Sie wirkt einschläfernd und muskelentspannend und ihre Wirkung setzt schon nach wenigen Minuten ein. Bei einer geringen Dosis wirken sie berauschend und enthemmend. Bei einer höheren Dosis hingegen wirken die Substanzen einschläfernd, machen erst willenlos und dann bewusstlos!

„Die Verabreichung der Tropfen wird ja nicht am Tatort erfolgt sein“, murmelte Overbeck vor sich hin. Laut fragte er: „Wie lange hält die Wirkung an?“

„Grobe Schätzung? Etwa eine Stunde würde ich sagen. Hängt auch mit der Person des Opfers zusammen. Dieser Mann dort“ -er zeigte auf Dellmann-, „hat eine kräftige Konstitution. Bei ihm wird die Wirkung maximal eine Stunde angehalten haben. Eher weniger.“

„Gehen wir einmal davon aus, dass eine Frau als Täterin infrage kommt, rein hypothetisch, wäre sie in der Lage, ihr willenloses Opfer innerhalb einer gewissen Zeit zu dem späteren Tatort zu bringen? Ich meine, wäre das Opfer in der Lage, sich dagegen zu wehren?“

„Herr Overbeck, Sie wissen doch selbst aus Ihrer dienstlichen Erfahrung, wie es den Frauen ergeht, denen man nachgewiesenermaßen in Diskotheken diese Tropfen verabreicht hat. Bei einer gewissen Dosis wurden sie willenlos, das bedeutet nicht, dass sie bewusstlos wurden. Genauso wird es hier gewesen sein. Die Dosis war offensichtlich ausschlaggebend.“

„Wenn sich der Verdacht auf KO-Tropfen bestätigt“, fügte Overbeck nachdenklich hinzu. Er sah ungeduldig auf seine Uhr. „Sie werden Verständnis haben, dass ich meine Kollegin unterstützen muss“, sagte er schließlich. „Wenn Sie auf mich verzichten können …“

„Ja, gehen Sie nur“, antwortete Schneider und wieder hatte er den väterlichen Blick im Gesicht. „Die Todesursache scheint klar. Tod durch Zerschmettern des frontalen Schädels durch mehr als einen Hieb mit einem offensichtlich abgerundeten Gegenstand. Sie erhalten meinen Bericht.“

Wieder an der frischen Luft atmete Overbeck tief durch und sog den Sauerstoff in seine Lungen. Es war 16 Uhr und immer noch sehr warm. Er wollte Leni anrufen.

„Verdammter Mist. Kein Empfang.“

Er überlegt kurz. Dann machte er sich auf den Weg zum Polizeipräsidium.

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