Читать книгу Sammelband "Tatort Hunsrück" Teil 1 - Hannes Wildecker - Страница 20
Kapitel 14
Оглавление„Ich habe alles an Akten, was für uns interessant sein könnte, bei der Staatsanwaltschaft kopiert“, sagte Overbeck und legte einen Stapel bedruckten weißen Papiers vor Leni auf dem Schreibtisch ab.
„Die Akte Thompson?“ Lenis Interesse stieg auf Anhieb und sah Overbeck erwartungsvoll an.
„Die Akte Thompson-Heidfeld. Die beiden waren nicht verheiratet.“
„Aha, interessant.“
„Was soll daran interessant sein. Nicht jedes Pärchen heiratet gleich. Wie steht es eigentlich mit dir? Hast du einen Freund. Oder bist du verheiratet. Oder gibt es da einen Lebensgefährten?“
„Finde es heraus, wenn es dich so sehr interessiert. Sollten wir nicht lieber jetzt die Akten durchforsten?“
„Okay, schon gut.“ Overbeck ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen. „Ein Kaffee wäre nicht schlecht.“
„Gute Idee. Machst du mir einen mit.“ Während dieser schlagfertigen Antwort war sie bereits dabei, in den Akten herumzublättern. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Overbeck erhob und sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. Kurz darauf stellte er eine Tasse mit dampfendem Inhalt vor Leni auf dem Schreibtisch ab, und das ohne eine anzügliche Bemerkung, wie Leni erstaunt feststellte.
„Also, da haben wir den Tatortbericht, den Bericht der Spurensicherung und die Ergebnisse der Auswertungen.“ Overbeck zeigte auf einige der beschriebenen Blätter. „Das dort sind die erkennungsdienstlichen Unterlagen der Kriminaltechnik. Fotos der Täter, des Tatortes und … natürlich die des toten amerikanischen Soldaten.“
„Wie sieht es mit Zeugenvernehmungen aus?“ Leni hoffte inständig, dass es noch lebende Zeugen für die Tat vor 18 Jahren gab.
„Als einzige Zeugen sind Karl und Maria Kollinger damals vernommen wurden. Das ist das Ehepaar, zu dessen Haus die kleine Maggie während des Überfalls geflüchtet war.“
„Die zur Sache offensichtlich nichts aussagen konnten. Als die von ihnen verständigte Polizei eintraf, war der Spuk schon lange vorbei. Sie kümmerten sich um die ohnmächtig vor der Haustür liegende Maggie, die ohne das Anschlagen des Hundes vermutlich nicht überlebt hätte.“
„Verständlicherweise ist da viel Zeit verstrichen, in der die Verbrecher ihr Unwesen treiben konnten. Aber das kann man den Leutchen ja nicht verübeln“, sagte Leni leise.
„Außerdem musst du die Entfernung zwischen den beiden Anwesen berücksichtigen. Wer weiß, wie lange die Kleine in ihrer Angst und Verzweiflung für die Strecke gebraucht hat?“
„Wie ist die Tat beschrieben. Wurde das Opfer auch so zugerichtet wie unser Freund Dellmann?“
„Laut Bericht ist der Soldat an nur einem Schlag auf den vorderen Kopfbereich –so steht es hier- verstorben“, antwortete Overbeck. „Du kannst dir auch gerne das Foto ansehen. Aber du wirst kein Gesicht mehr erkennen können.“
Er suchte aus einem der Stapel einige Blätter heraus und legte sie nebeneinander auf dem Schreibtisch ab.
„Es sind Farbkopien, aber gute, wie ich meine. Die Originale liegen aber auch bei uns irgendwo im Archiv. Falls erforderlich können wir darauf zurückgreifen.“
„Schädel-Hirn-Trauma“, las Leni laut vor.
„Klingt besser als Schädelbruch mit Hirnquetschungen durch Eintritt von Knochenteilen in die Hirnmasse. Sieh mal auf das nächste Blatt.“
Leni erschrak, als sie die Verletzung in Nahaufnahme sah. „Das war ein kräftiger Schlag. Brutal und mit voller Kraft.“
„Dann weißt du jetzt, mit welch einer Energie das Gesicht von Dellmann zertrümmert wurde.“ Overbeck klaubte ein paar der weißen Seiten aus dem Stapel. „Hier sind die Täter. Fotos, Vernehmungen und die Ergebnisse der Durchsuchungen ihrer Wohnungen.“
Leni sah Overbeck erstaunt an „Vernehmungen? Es hieß doch, dass sie selbst vor Gericht keinerlei Aussagen machten. Also haben sie doch auch vor der Polizei geschwiegen.“
„Das stimmt ja auch. Sie haben lediglich erklärt, dass sie zur Sache keine Angaben machen werden.“
„Die Täter!“, forderte Leni ungeduldig.
„Ja, ja.“ Overbeck legte fein säuberlich die kopierten Seiten mit den Fotos, den darin enthaltenen persönlichen Daten und den aufgelisteten Vorstrafen nebeneinander auf dem Schreibtisch ab. „Bitte, da hast du alle deine Täter. Und nun?“
„Die Daten sind mir mehr oder weniger bekannt. Kollege Gehweiler hatte die Unterlagen dabei. Offensichtlich stimmen die Anschriften nicht mehr mit denen dort überein.“ Leni zeigte auf die ausgelegten DIN a 4-Blätter.
„Du hast doch nicht im Ernst vor, den schweren Jungs nachzulaufen und sie vor einem bösen Onkel zu warnen. Glaube mir, wenn sie von dem Tod Dellmanns erfahren und vor allem, unter welchen Umständen er ums Leben kam, dann werden sie auf sich selbst aufpassen.“
„Aber wir können doch nicht einfach zusehen …“
„So, Leni, nun hör mir mal zu. Wenn eine aufgebrachte Ehefrau bei uns auf der Dienststelle erscheint, weil ihr Mann in der letzten Nacht und vielleicht auch der davor nicht nach Hause gekommen ist, dann begeben wir uns auch nicht gleich auf die Suche. Ich brauche dir nicht zu erklären, dass dann verschiedene Umstände vorliegen müssen, damit wir tätig werden.“
„Ich weiß, Verdacht auf eine Straftat, Hilflosigkeit oder die begründete Vermutung, dass er sich umbringen will. Aber das hier ist doch etwas Anderes.“
„Es ist nichts Anderes. Wie viele Menschen auf der Welt sind gefährdet, weil sie irgendjemand etwas Schlimmes angetan haben. Denk` an die einschlägigen Motorrad-Gangs und an einzelne ausgestiegene Mitglieder, die der Polizei entsprechende Tipps zur Klärung von Straftaten gaben. Die Hinweisgeber leben immer noch.“
„Es hat aber auch schon Opfer gegeben.“
„Was die Polizei nicht hatte verhindern können. Mich würde es nicht wundern, wenn die Presse die Zusammenhänge schneller erkennt, als uns lieb ist. Glaub` mir, die Reporter werden alles daransetzen, mit den Tätern von damals Kontakt aufzunehmen.“
„Das heißt, wir werden einfach zusehen …“
„Das heißt, dass wir unserer Arbeit nachgehen. Unsere Aufgabe ist es, den Mörder des Mörders zu ermitteln.“
„Nur der Richtigkeit halber: Wir wollen den Mörder eines Menschen ermitteln, nicht den Mörder eines Mörders. Der, um den es geht, hat seine Strafe abgesessen. Nach unserem Recht ist er danach ein Bürger wie jeder andere auch.“
„Ist ja gut, du Moralistin. Willst du eigentlich nicht wissen, was die Obduktion von Dellmann ergeben hat?“
„Ich kann`s mir vorstellen. Die Todesursache ist ebenso offensichtlich wie selten.“
Overbeck grinste. Er ließ er sich Zeit mit seiner Antwort. Mit schräg angelehntem Kopf betrachtete er die erwartungsvolle Kollegin und zum ersten Mal stellte er fest, wie hübsch und attraktiv sie doch war. Heute hatte Leni ihre brünetten Haare zu einem Knoten zusammengebunden, was ihr einen Hauch an Strenge verlieh. Unter dem ungeschminkten Gesicht hoben sich die Wangenknochen leicht hervor und Overbecks Blick verweilte kurz auf ihren vollen Lippen. Die locker getragene hellblaue Bluse und die enge Jeans taten ein Übriges dazu, ihre Weiblichkeit hervorzuheben.
„Stellst du dir an mir irgendeine Todesursache vor?“ Lenis Stimme brachte Overbeck wieder auf den Boden der dienstlichen Tatsachen.
„Ja, die Todesursache ist wohl offensichtlich“, begann Overbeck zerstreut. „Hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, warum Dellmann gerade hinter dem besagten Haus umgebracht wurde?“
„Du wirst es mir gleich mitteilen“, forderte Leni. „Oder soll das hier ein Ratespiel werden?“
„Dellmann wurde betäubt.“
„Betäubt? Und dann zum Tatort geschafft?“
„Das müssen wir noch herausfinden. Vielleicht ist er sogar freiwillig mitgegangen.“
„Freiwillig? Zu seiner Hinrichtung? Wie stellst du dir das vor?“
„Die Obduktion hat ergeben, dass Dellmann vor der Tat offensichtlich KO-Tropfen verabreicht wurden. Du kennst ihre Wirkung. Der Betroffene ist unter dem Einfluss dieser Substanzen praktisch willenlos und leicht manipulierbar. Die Wirkung setzt ungefähr 10 bis 20 Minuten nach der Einnahme ein. Dem Täter blieb also genug Zeit, mit seinem Opfer Kontakt aufzunehmen, um es dann an einen anderen Ort zu bringen.“
„Wo er für ihn dann eine leichte Beute war. Verstehe.“
„Genau. Das meine ich mit freiwillig. Na ja, zumindest war er nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren.“
Leni sammelte die leeren Tassen ein und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen und wenige Minuten später brodelte das Gerät vor sich hin.
„Wer hat ein Interesse daran, Dellmann so hinzurichten?“, fragte Leni, als sie mit der Bemerkung das ist frischer, eben das war Brühe zwei Tassen mit Kaffee füllte. „Seine geschiedene Ehefrau hatte kaum eine Regung gezeigt, als Gehweiler und ich sie vom Tod ihres Ex in Kenntnis gesetzt haben.“
„Meinst du, sie hat etwas damit zu tun?“
„Gegenfrage: Sollten wir es außer Acht lassen? Aber wenn sie hinter der Tat steckt, was für ein Motiv hat sie dann? Erbt sie? Bekommt sie eine stattliche Lebensversicherung? Ich glaube nicht. Die beiden sind geschieden. Welchen Vorteil sollte sie also aus dem Tod Dellmanns ziehen? Denke an die Umstände der Tat und die Örtlichkeit. Damit hat die Frau nichts zu tun.“
„Wir können sie uns später ja noch einmal vorknöpfen. Da ist doch auch noch die Zeichnung mit dem Adler. Wir haben einen Tatort, der identisch ist mit einem Tatort vergangener Zeit, an dem das Opfer Dellmann damals als Täter beteiligt war.“
„Aber wer kann ein Interesse am Tod Dellmanns haben? Die Familie Thompson gibt es nicht mehr, der Soldat und seine Ehefrau …“
„Lebensgefährtin“, unterbrach Leni Overbeck.
„Wie auch immer. Der Soldat und seine … Lebensgefährtin sind tot.“
„Was ist mit der Tochter?“, sinnierte Leni. Sie ist damals als Zwölfjährige von den Nachbarn aufgenommen worden. Als sie achtzehn und damit volljährig wurde, ist sie mit ihnen nach Amerika ausgewandert.“
„Das heißt: Sie kann für die Tat nicht in Frage kommen.“
„Es sei denn, sie befindet sich wieder in Deutschland und vielleicht sogar in Hermeskeil.“
„Na ja, Leni, das ist eine gewagte These. Aber eine, die es zu überprüfen wert ist. Wir werden Interpol bemühen müssen. Aber ich glaube das Ergebnis bereits jetzt zu kennen.“
„Wir müssen herausfinden, was es mit dem Adler auf sich hat.“ Leni trank einen Schluck des Kaffees und setzte die Tasse mit einer ruckartigen Bewegung ab. „Verdammt, ist der heiß!“
Overbeck grinste. Es machte Leni in seinen Augen sympathisch, wenn sie fluchte. Ihr Blick jedoch ließ ihn sich wieder zu den eigentlichen Aufgaben zuwenden.
„Also gut, Leni. Fassen wir einmal zusammen. Ein Mann wurde ermordet. Dabei handelt es sich um einen Mann, der selbst als Mörder oder Mordgehilfe in Erscheinung getreten war.“
„Und deswegen verurteilt wurde.“
„Natürlich. Er wurde an dem Haus erschlagen aufgefunden, in dem dieser von ihm begangene oder unterstützte Mord vor 18 Jahren geschehen war.“
„Er wurde auf brutale Art und Weise sozusagen hingerichtet, was auf einen Racheakt oder eine Tat voller Hass schließen lässt.“ Leni trank vorsichtig einen Schluck.
„Und nicht zuletzt die Zeichnung des Adlers, vielleicht ein Hinweis für uns, für die Polizei. Was hat es nur mit diesem Adler auf sich?“
„Was sagt Peters? Irgendwelche Spuren, von denen wir nichts wissen?“
Overbeck telefonierte kurz und wenige Minuten später stand Peters in der Tür.
„Keine Fingerspuren auf dem Baseballschläger“, berichtete Peters. Das Gleiche gilt für den Zettel mit der Zeichnung.“
„Dem Adler?“
„Ja, Leni, dem Adler. Was soll das eigentlich mit dieser Zeichnung? Habt ihr da schon einen Hinweis?“
Er sah zu Leni, dann zu Overbeck. „Also nichts, dacht` ich mir` s doch.“
„Was dachtest du?“ Overbeck schien verärgert. „Habt ihr irgendwelche Reifenspuren gefunden dort oben? Zu Fuß wird weder der Täter noch das Opfer dorthin gekommen sein.“
„Keine verwertbaren Reifenspuren“, gab Peters kleinlaut zu.
„Dacht` ich mir` s doch.“ Overbeck sah Peters von der Seite an. Seine Bemerkung tat ihm plötzlich leid. Vor ihm stand ein Kollege, der sein Vater hätte sein können. Er sah unter sich. „Nichts für ungut, Heinz, aber mit unseren Ermittlungen … es ist zum Kotzen. Wir treten auf der Stelle.“
„Was hat Dellmann denn so getrieben in den letzten Jahren, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis? “
„Hartz vier“, antwortete Leni. „Jedenfalls die meiste Zeit. Vielleicht hatte er Probleme, eine Arbeitsstelle zu bekommen, was ja verständlich wäre.“
„Es wird ein weiterer Mord geschehen.“
Overbeck und Leni sahen Peters erstaunt an.
„Was meinst du mit einem weiteren Mord?“
„Ihr wisst es genauso gut wie ich. Der Vorfall vor 18 Jahren. Einer der Täter war Dellmann. Der Baseballschläger. Die Zeichnung: der Adler. Das alles ist kein Zufall. Das ist der Beginn eines Horrortrips, ihr werdet sehen.“