Читать книгу Sammelband "Tatort Hunsrück" Teil 1 - Hannes Wildecker - Страница 23

Kapitel 17

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„Die Presse wird auch langsam lästig“, bemerkte Leni, als sie die Stadtgrenze von Hermeskeil erreicht hatten und Overbeck das Gas durchtrat. „Ein Reporter namens Satorius. Er wollte Einzelheiten über den Mord an Thompson vor 18 Jahren.“

„Die Presse will Auskünfte über einen Vorfall aus längst vergangener Zeit?“, wunderte sich Overbeck. „Was wollte er wissen und warum?“

„Er wollte von mir die Anschriften der entlassenen Täter, der Zeugen und Menschen, die damals mit der Angelegenheit konfrontiert waren.“

„Und warum das Ganze?“ Overbeck bog hinter dem Stadtteil Höfchen nach links ab in Richtung Schwarzwälder Hochwald.

„Angeblich hat er den Auftrag, mit dem Abstand der 18 Jahre die Story noch einmal aufzuwärmen. Menschengeschichten nennen sie das.“

„Sommerloch nenne ich das“, lachte Overbeck. „Irgendetwas muss ja in den Zeitungen stehen, jetzt, da sowieso nicht allzu viel los ist.“

Lenis Gedanken waren längst wieder bei dem Fall, den sie zu bearbeiten und aufzuklären hatte.

„Ich mache mir die ganze Zeit Gedanken darüber, wer für den Mord an Dellmann in Frage kommen könnte. Auf der Suche nach einem Motiv tue ich mich sehr schwer, denn ich denke, dass nur Überlebende von damals einen solchen Rachegedanken spinnen können.“

„Vielleicht ist es ja auch nur ein Sympathisant, ein Freund der Familie oder so was Ähnliches, was weiß ich. Ein Rachefeldzug nach 18 Jahren, Leni. Da steckt eine Menge Hass dahinter. Das ist nicht nur eine Vergeltungstat.“

„Du meinst wegen der Brutalität der Tatausführung? Das sehe ich auch so. Aber das macht es nicht einfacher. Wenn es tatsächlich ein Racheakt war -und einiges spricht ja dafür- dann wird es weitere Morde geben. Morde, die wir verhindern müssen.“

„Die wir nicht verhindern können.“

Inzwischen hatten sie Forstenau erreicht und Overbeck lenkte den Wagen von der Hunsrückhöhenstraße in den Ort ein.

„Lass uns noch etwas zusammen trinken“, schlug Leni vor. Im Hochwaldstübchen. Dort wohne ich nämlich.“

Auf dem Parkplatz neben der Gaststätte stand Lenis Auto, das sie am Morgen nach der Abfahrt in Trier dort abgestellt hatte. Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung des Fahrzeuges.

„Ich werde hierbleiben und bin morgen früh rechtzeitig auf der Dienststelle.“ Und spitzbübisch fügte sie hinzu: „Ich glaube, ich werde mehr als ein Bier trinken, heute Abend.“

Der Betrieb im Hochwaldstübchen hielt sich in Grenzen. Vieles war nicht mehr so wie früher. Der Stammtisch wies leere Stühle auf. Heiner Spürmann hinterließ eine Lücke, was insbesondere der Kulturbeauftragte Dieter Lauheim zu spüren bekam. Ihm fehlten die Diskussionen auf kommunalpolitischer Ebene und auch die ständigen Fragen im kulturhistorischen Bereich. Wie oft hatte Spürmann ihn zu Rate gezogen. Dann konnte er sich in Referaten über die verschiedensten Themen auslassen und meist hatte Spürmann davon profitiert.

Und Pastor Adalbert Schaeflein? Seine Pensionierung stand kurz bevor und damit auch sein Weggang von Forstenau. Er hatte bereits mehrfach angekündigt, im Falle seiner Emeritierung im Saarland ansässig zu werden. Seine Haushälterin, die nichts Anderes kannte als das Dasein im Pfarrhaus und die Arbeiten für ihren Pfarrer, werde er mitnehmen, als private Haushälterin. Sie sollte eine Bleibe für den Rest ihres oder aber seines Lebens haben.

Florian Glasheber, den Förster des Staatswaldes, hatte man lange Zeit nicht im Hochwaldstübchen gesehen. Ein Verkehrsunfall hatte ihm schwer zugesetzt und das Verheilen der verschiedensten Knochenbrüche, abgesehen von der Heilung der verletzten inneren Organe, brauchte seine Zeit. Wie sehr er auch seinem Berufsstand fehlte, machte sich in der Verwilderung des Hochmoors Weyrichsbroch im Osburger Hochwalds bemerkbar. Die Pflege dieses einmaligen Naturschutzgebietes, dessen 800 Meter langer Knüppeldamm jährlich Tausende von Besuchern anzog, ließ seitdem zu wünschen übrig.

Da waren noch Detlef Hildebrandt, der kommunale Ortsbürgermeister, Siegfried Brandel, der Feuerwehrchef und der bereits erwähnte Dieter Lauheim, die weiter den Stammtisch aufrechterhielten.

Siggi Vollmann, der Wirt, hatte in jeder freien Minute bei seinen Stammtischkollegen gesessen bis zu jenem Tag, als sich seine geliebte Tochter Sandy in Frankfurt aus Verzweiflung den goldenen Schuss gesetzt hatte. Von jenem Tag an ging es auch gesundheitlich bergab und Lissy, seiner Frau, blieb die meiste Arbeit in der Gaststätte. Wenn es Siggi besserging, unterstützte er seine Frau, so gut er es konnte.

Wir werden die Kneipe irgendwann dichtmachen, hatte Lissy mehrmals angekündigt, doch irgendwie brachte sie es nicht übers Herz und so wirtschafteten die beiden mit mäßigem Erfolg, sprich Einnahmen, weiter.

Als Leni und Overbeck das Lokal betraten, verstummte das Gespräch der wenigen Gäste. Leni kannte man in diesem Hause, denn sie wohnte seit geraumer Zeit im Obergeschoss, über der Kneipe in der Wohnung, in der die Tochter der Vollmanns zu ihren glücklichen Zeiten gewohnt hatte. Zudem sah man sie des Öfteren in der Gaststätte bei Lissy, der sie, wann immer es ihr möglich war, zur Hand ging und kellnerte.

„Wen haben wir denn da?“, tönte es aus dem Bereich des Stammtisches. „Frau Schiffmann und … Spürmann hätte ich fast gesagt. Aber der hat uns ja verlassen.“

Dieter Lauheim zwängte seinen inzwischen noch voluminöser erscheinenden Bauch zwischen seinem Stuhl und dem schweren Tisch hindurch und kam auf die beiden zu. Er gab Leni die Hand und schaute auf Overbeck, der ihn um einen Kopf überragte.

„Der Neue?“, fragte er unverhohlen.

„Ja, der Neue“, antwortete Leni. „Und er hat sogar einen Namen.“

„Ich heiße Overbeck“, kam ihr der Kollege zuvor und fügte schnell, um einer weiteren Diskussion über seinen Namen zu entgehen, hinzu: „Netter kleiner Laden hier. Richtig gemütlich.“

„Das freut mich außerordentlich.“ Es war Lissy, die hinter der Theke hervorkam und sich die Hände in ihrer Schürze abwischte. „Sie sind der neue Kollege von Leni. Der Ersatz für Heiner Spürmann. Ach was, Ersatz.“, Lissy schüttelte den Kopf und reichte Overbeck die Hand. „Ersatz für einen Menschen gibt es nicht. Freut mich, Sie kennenzulernen. Wollen Sie sich zu den Herren dort an den Stammtisch setzen?“

Lauheim hatte sich zwischenzeitlich wieder auf seinem Platz niedergelassen und nun erkannte Leni auch Hildebrandt, den Ortsbürgermeister. Sie sah Overbeck fragend an. „Wollen wir?“

Overbeck zuckte die Schultern und erschien irgendwie unbeholfen.

„Komm!“, sagte Leni und zog ihn am Ärmel mit sich. „Darf ich vorstellen: Unser Ortschef, Detlef Hildebrandt. Die meisten Toten mit denen wir es hier in der Gegend zu tun haben, transportiert er anschließend ab. Ihm gehört nämlich ein Beerdigungsinstitut, musst du wissen.“

„Die anderen?“ Leni sah Hildebrandt fragend an.

„Die Zeiten ändern sich, auch die Menschen“, sagte Hildebrandt theatralisch. „Die einen gehen fort, die anderen erkranken und der Rest muss sehen, wie es weitergeht.“

„Aber es kommen immer wieder neue nach.“ Leni machte Lissy Platz, die unaufgefordert zwei Bier vor sie stellte. Overbeck hob abwehrend den Arm, doch Leni winkte ab. „Einer geht. Ist doch nur ein kleines Glas. Er muss noch zurück nach Trier“, wandte sie sich Lissy zu. „Ich bleibe gleich hier.“

„Dann mal prost“, sagte Lissy. „Auf die neuen Zeiten. An die alten wollen wir nicht mehr denken.“

Leni verstand. „Wie geht es Siggi?“

Lissy atmete tief durch. „Er scheint immer mehr in sich eingekehrt. Die Arbeit bleibt fast immer an mir alleine hängen“, sagte sie und es klang traurig. Zu Overbeck gewandt hob sich ihre Stimme wieder. „Aber ich habe ja Leni. Sie ist mir eine große Hilfe, wenn Not am Mann ist.“

„Du kellnerst?“

„Hm. Hättest du mir nicht zugetraut, oder?“ Leni sah Overbeck triumphierend an. Aber im Ernst. Ich helfe Lissy ab und zu. In dieser Zeit sitze ich nicht alleine in meiner Wohnung herum.“

„Ihr habt einen neuen Fall in Hermeskeil. Hab’s in der Zeitung gelesen. Schlimme Sache.“ Lauheim sah die beiden erwartungsvoll an, doch er vernahm keine Antwort.

„Verstehe, Sie können nicht darüber reden. Schwebendes Verfahren, oder wie nennt man so etwas? Müssen wir jetzt auch Angst haben, weil so ein brutaler Mörder in der Gegend umherläuft?“

„Wenn Sie nicht in eine Vorgeschichte involviert sind, die den Mörder betrifft, dann brauchen Sie keine Angst zu haben. Wenn aber …“ Overbeck machte eine künstliche Pause.

„Vorgeschichte? Was meinen Sie? Sind das Vorgeschichten besonderer Art? Was habe ich damit zu tun?“

„Ich habe nicht gesagt, dass Sie was damit zu tun haben. Der Gedanke wurde soeben von Ihnen selbst in den Raum gestellt.“

„Ich habe den Eindruck, Sie wollen mich veralbern. Na ja. Fast wäre ich auf Sie hereingefallen. Sie erinnern mich an Spürmann, der warf auch oft mit undurchsichtigen Bemerkungen um sich.“

„Ihr werdet euch doch nicht streiten“, lachte Leni. „Wir wollen heute Abend nur etwas entspannen. Lasst uns den Dienst vergessen. Reden wir von was Anderem.“

„Wovon?“, fragte Lauheim schnippisch. „Es wird ja doch alles falsch aufgefasst. Reden wir vom Hochwald-Ruwer-Radweg, werden Vorwürfe über wegeführende Schikanen laut, reden wir über leerstehende Häuser im Ort, verfolgt uns die Angst, dass eine Sekte dort einzieht.

„Wir können aber auch über den historischen Bahnhof reden“, warf Leni ein.“

„Warum gerade über den?“ Lauheim zog die Stirn in Falten und sah Leni mit zusammengekniffenen Augen an.

„Sie versprachen doch die Präsentation von ein oder zwei Waggons, die auf den Schienen vor dem Bahnhof platziert werden sollen. Wann ist es denn so weit?“

„Da kann ich Ihnen Hoffnung machen“, antwortete Lauheim und seine Stimme hatte etwas Freudiges. „In zwei bis drei Wochen stehen sie auf den Schienenteilen. Und ich habe auch schon Besonderes damit vor. Ich werde darin eine kulturelle Informations-Station einrichten. Das wird ein voller Erfolg und wieder einmal ein Fortschritt für die Gemeinde, nicht wahr, Detlef?“

„Was ist los?“ Hildebrandt schien sich in keiner Weise an dem inhaltsleeren Gespräch beteiligen zu wollen und tat zumindest so, als habe er nicht zugehört.

„Die Gemeinde, du als Ortsbürgermeister, ihr werdet ein Fest veranstalten am Bahnhof.“

„Aus welchem Grund?“

„Na, wenn die Waggons aufgestellt werden. So etwas geschieht nicht alle Tage.“

„Falls es überhaupt geschieht.“ Hildebrandt trank sein Bier aus und gab Lissy ein Zeichen, worauf sie ihm ein neues zapfte.

„Ich habe Hunger“, sagte Leni und wandte sich zu Lissy. „Hähnchen-Flügel? Hast du welche?“

Lissy grinste. „Ich nicht. Aber in der Küche liegen noch ein paar.“

Leni sah Overbeck an. „Für dich auch eine Portion? Musst du unbedingt probieren.“

„Wenn du es sagst.“

„Also zwei Mal, Lissy. Und noch zwei Bier.“

„Für mich ein alkoholfreies“, rief Overbeck in Richtung Theke und zu Leni gewandt, frotzelte er: „Oder möchtest du, dass ich heute bei dir übernachte?“

Leni verkniff sich eine Antwort und auch Overbeck erhielt keine Gelegenheit mehr, sein Angebot zu vertiefen. Pastor Schaeflein betrat das Hochwald-Stübchen.

„Sie wollen Ihre letzten Tage bei uns wohl noch auskosten“, rief Lauheim, als Schaeflein auf den Stammtisch zusteuerte.

„Vergessen Sie das mit den letzten Tagen“, antwortete Schaeflein, der sich seines schwarzen Jacketts entledigte und es über die Stuhllehne hängte. Seinen Krempenhut, ohne den man den Gottesmann kaum zu Gesicht bekam, legte er vor sich auf den Tisch.

„Vergessen?“ Lauheim verstand nicht.

„Aus den wenigen Tagen, die ich glaubte, hier noch verbringen zu müssen, ist inzwischen ein halbes Jahr geworden. Das Bistum hat kein Potential, um einen neuen Pfarrer nach hier zu beordern. Sie können froh sein, dass Forstenau so groß ist. Kleine Orte müssen heute ohne eigenen Pastor auskommen.“

„Das bedeutet …“

„Dass wir uns gegenseitig noch eine Weile ertragen müssen. Aber Sie werden es überleben.“

„Aber Herr Pfarrer! Was sollen diese Worte?“ Lissy war an den Tisch getreten, in jeder Hand einen Teller mit dampfenden Hähnchen-Flügeln haltend. „Sie wissen doch, dass jeder hier im Ort Sie mochte.“

„Sehen Sie, Sie sagen es selbst: mochte. Ich bin in Ihren Augen schon Vergangenheit.“

„Sie wissen selbst, dass das nicht stimmt“, wehrte sich Lissy und es klang ehrlich entrüstet. „Wir alle hier mögen Sie. Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?“

„Ein Gläschen Wein, bitte. Na, die Herrschaften von der Kripo? Sie müssen der Nachfolger von Heiner Spürmann sein. Herzlich willkommen an diesem Stammtisch. Sie werden doch Stammtisch-Mitglied, jetzt, da Spürmann das Weite gesucht hat?“ Schaeflein kicherte und sogar dabei wippte sein dicker Bauch auf und ab.

Bevor Overbeck antworten konnte und darüber war er eigentlich froh, setzte Schaeflein seine Tirade fort.

„Sie kommen sicher gerade aus unserer schönen Nachbarstadt Hermeskeil. Das sind ja schlimme Dinge, die da passieren. Was ist das nur für eine Welt? Sodom und Gomorrha.“ Der Pastor schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck aus seinem Weinglas. „Können wir hier in Forstenau sicher sein? Was ist, wenn dieser Mörder hier bei uns zuschlägt?“

„Warum sollte er weitere Morde begehen?“, fragte Leni, die sich über die Bemerkung des Pastors wunderte. Was wusste er und woher?

„Man hört so einiges“, sagte Schaeflein. Als er Lenis Blick sah, winkte er ab. „Keine Angst, ich werde keine Gerüchte verbreiten. Ich werde beten für uns alle, dass es bei dieser einen Tat bleibt.“

In die nun folgende Stille glaubte man die Gedanken Lauheims ticken zu hören. Da meldete sich Overbecks Handy. Er hörte kurz zu, was sein Gegenüber zu sagen hatte, sah Leni an und erhob sich.

„Wir müssen uns leider verabschieden. Der Dienst ruft. Kommst du, Leni?“

„Habe ich mit meiner Bemerkung etwa den Teufel herbeigerufen?“, rief Schaeflein den beiden nach. Dann schloss sich die Gaststättentür hinter ihnen.

„Was ist los?“, fragte Leni. Hat man den Täter gefasst?“

„Nein, Leni, nein. Genau das Gegenteil ist der Fall. Unser Rächer hat wieder zugeschlagen.“

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