Читать книгу Sammelband "Tatort Hunsrück" Teil 1 - Hannes Wildecker - Страница 37

Kapitel 31

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Weder Overbeck noch Leni hatten Kriminaloberrat Peter Krauss kommen hören. Zu sehr waren sie in die Diskussion um Gerechtigkeit, Dienst nach Vorschrift und mangelnde Polizeipräsenz vertieft.

„Na, meine Herrschaften? Fleißig bei der Arbeit? Wie kommen Sie voran? Wie ist der Stand der Ermittlungen?“

Kraus schloss die Tür hinter sich und baute sich vor Lenis Schreibtisch auf. Overbeck, der während der Diskussion am Fenster stand, kam herbei und zog seinen Schreibtischstuhl mit dem Fuß zu sich.

„Wir haben ein vermeintliches Motiv“, sagte er trocken.

„Ein vermeintliches Motiv? Dieser Ausdruck ist mir in meiner gesamten Polizeizeit nicht begegnet. Was meinen Sie mit einem vermeintlichen Motiv?“

„Er meint, dass wir, wenn wir einen Tatverdächtigen hätten, ihm ein Motiv zuordnen könnten. Da wir aber keinen Tatverdächtigen haben, ist das Motiv möglicherweise hinfällig. Es sei denn, es gibt einen Tatverdächtigen, irgendwo. Dann existierte auch das Motiv … irgendwie. Oder so?“

Was nun folgte, war Schweigen. Krauss stand mit offenem Mund da und man sah ihm an, dass er versuchte, sich durch den Wirrwarr von Lenis Aussage durchzukämpfen. Schließlich sagte er: „Wenn man ein Motiv hat, hat man auch einen Tatverdächtigen oder zumindest jemanden, der einen Grund hätte, eine Tat zu begehen, also ein Motiv. Ich meine, dann hätte er ja ein Motiv, der Tatverdächtige.“

„Oder so.“ Overbeck verkniff sich ein Lachen. „Es ist kompliziert, aber man kann es durchaus verständlich erklären.“

„Dann tun Sie es doch, wenn ich darum bitten darf“, sagte Krauss unwirsch.

„Vor 18 Jahren geschah am Rande der Stadt Hermeskeil in einem abgelegenen Haus ein Mord. Ein amerikanischer Soldat wurde in seinem Haus von vier Männern überfallen …“

„Ja, ja, ich weiß“, stöhnte Krauss. „Er wurde mit einem Baseballschläger erschlagen. Seine Frau wurde vergewaltigt und seine Tochter floh aus dem Haus. Das haben Sie mir alles bereits erzählt.“

„Es ist ja nur zur Auffrischung wegen des Motivs und eines fehlenden Tatverdächtigen und zum besseren Verständnis. Also“, fuhr Overbeck fort, „die vier Täter wurden gefasst und haben ihre Strafen abgesessen. Vor wenigen Wochen wurden sie in das bürgerliche Leben entlassen.“

„Dann wurden zwei der Männer ermordet“, fuhr Leni mit der Erläuterung fort. „Genau an der Stelle, an der auch der Mord vor achtzehn Jahren geschah.“

„Der Tathergang war der gleiche wie damals“, sagte Overbeck, während Krauss schweigend zuhörte. Das meiste wusste er bereits, doch er hatte das Gefühl, dass die beiden noch einigen Neuigkeiten zu bieten hatten.

„Die beiden Männer wurden zu unterschiedlichen Zeiten auf grausame Art und Weise mit einem Baseballschläger hingerichtet“, fuhr Overbeck fort.

„Ich verstehe“, unterbrach Krauss nun doch seinen Redeschwall. „Damit begründen Sie das Motiv. Irgendjemand rächt sich für den Mord von damals, in dem er nach und nach die Täter hinrichtet. Wer also könnte der oder die Täter sein?“

„Genau da liegt das Problem.“ Overbeck ließ sich auf seinem Stuhl fallen, auf den er sich während seiner Ausführungen abgestützt hatte. „Die Familie bestand aus nur drei Personen. Jerry Thompson, der Soldat, Conny Heidfeld, seine Lebensgefährtin und Maggie Heidfeld, die gemeinsame Tochter.

Die Eltern sind beide tot. Die Tochter ist mit ihren späteren Adoptiveltern nach Amerika ausgewandert. Das war`s. Wer außer ihnen sollte ein Interesse an solch einem Rachefeldzug haben?“ Overbeck schaute fragend zu Krauss auf, der mit einer Po-Backe auf seinem Schreibtisch saß.

„Was ist mit der Tochter, dieser Maggie?“, wollte Krauss wissen.

„Sie lebt mit ihren Adoptiveltern in Amerika. Glauben Sie, dass sie Urlaub in Deutschland macht, um die Mörder ihres Vaters umzubringen?“

Overbeck sah Krauss fragend an. Der antwortete nicht, sondern hielt grübelnd seinem Blick stand. Schließlich schien er einen Gedanken gefasst zu haben.

„Wir müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen. Versuchen Sie, über Interpol den Aufenthalt der Adoptiveltern zu ermitteln. Bringen Sie in Erfahrung, ob ihre … Adoptivtochter noch bei ihnen lebt oder wo sie sich aufhält. Sie wissen schon. Versuchen Sie alles über diese Familie herauszufinden. Vielleicht wird Ihrem Motiv schon bald ein Tatverdächtiger zugeordnet werden.“

„Es gibt da noch ein weiteres Problem“, wandte sich Leni an Krauss, der im Begriff war, das Büro zu verlassen.

„Ein weiteres Problem? Glauben Sie nicht, dass wir Probleme genug haben. Was ist Ihr Problem?“

„Unser Problem? Es geht um den jungen Mann, den wir als Tatverdächtigen festgenommen hatten.“

„Den Sie wieder auf freien Fuß gesetzt haben. Glauben Sie, dass Sie einen Fehler begangen haben?“ Der Gesichtsausdruck Krauss` erhielt etwas von einem lauernden Anflug.

„Nein, das haben wir nicht. Aber dieser Mann ist der Sohn einer der beiden Ermordeten. Wir denken, dass er sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Mörder macht.“

„Na und? Ist doch gut so. Behalten Sie ihn im Auge. Vielleicht führt er Sie zu dem Gesuchten.“

Die Tür fiel hinter Krauss zu.

„Wie weltfremd kann man denn noch sein?“, schimpfte Leni. „Glaubt er wirklich, wir hätten die Zeit, uns Tag und Nacht an den Fersen von Köhler zu heften? Als wenn wir nicht schon genug belastet wären.“

„Ich werde mit ihm reden“, brummte Overbeck, wobei er das Gummiband löste, das seinen Zopf zusammenhielt. Leni schaute ihm dabei interessiert zu und ein Lächeln legte sich über ihr Gesicht.

„Ich werde ihm vorschlagen, dass er jemanden auf Köhler ansetzt, zumindest solange, bis man seine Absichten erkennt“, fuhr Overbeck fort. „Dann soll er entscheiden wie es weitergeht.“

Derweil hatte er seine Haare wieder gerafft, das Gummiband erneut übergestreift und den Zopf in den Nacken geworfen. Sein blondes Haar wurde von der Sonne durch das Fenster angestrahlt und irgendwie erinnerte er Leni an einen jungen virtuosen Geiger der Gegenwart: David Garret.

Es ging schneller, als sie es für möglich gehalten hätten.

Vier Stunden nachdem Leni die Anfrage über Interpol gestartet hatte, lag ihnen die Antwort bereits vor. Sie ging per Telefax im zentralen Info-Raum ein und ein junger Kollege vom Wachdienst brachte sie sofort hoch.

Overbeck hatte sich aufgerafft und Krauss in seinem Büro ausgesucht. Er wollte ihm klarmachen, dass Leni und er keinerlei Zeit für irgendeine Observation aufbringen konnten. Er wollte Krauss die Verantwortung zurückgeben. Der sollte sich etwas einfallen lassen. Schließlich hatte er die Leitung der Kriminalpolizeiinspektion. Auch wenn Krauss weiterhin als Inhaber dieser Position darauf bestehen sollte, dass er und Leni … er würde es darauf ankommen lassen.

Leni nahm das Fax in Empfang und dankte dem jungen Kollegen mit einem Blick, der ihm die Röte ins Gesicht schießen ließ. Er stolperte aus dem Raum und als sei die Türöffnung für ihn zu klein, prallte er mit der Schulter dagegen. Das bewirkte nur umso mehr, dass die Farbe in seinem ohnehin blassen Gesicht noch mehr anstieg und er sich mit einem unverständlichen Gestammel, das sich wie eine Entschuldigung anhörte, verschwand.

Leni faltete, noch belustigt von dem Vorfall, das Fax vor sich auf dem Schreibtisch auseinander und begann den Inhalt zu lesen. Ihr Gesicht erhielt einen erst interessierten, dann verwunderten und schließlich ungläubigen Ausdruck. Nachdenklich sah sie in die Richtung des Fensters und beobachtete, wie die Sonne langsam hinter einer Wolke hervorkam und mit ihren Strahlen die Stadt erhellte.

Dieses Fax brachte um einiges an Klarheit in die Angelegenheit. Es hatte den Anschein, als sollten nun die Gesetzmäßigkeiten der Kriminalistik den Ermittlern beweisen, dass sie wie siamesische Zwillinge zusammengehörten: Motiv und Tatverdacht.

„Es war Krauss` Idee“, sagte Leni später, als sie eine Zeitlang über dem Fax gesessen und den Inhalt in sich aufgesogen hatten. „Eine gute Idee, das muss man ihm lassen. Warum sind wir nicht selbst darauf gekommen?“

Die Frage blieb kurz im Raum stehen. Overbeck war zu seiner Trainingspuppe hinübergegangen und versetzte ihr ein paar leichte Schläge mit dem Handrücken. „Haisho Uchi“, flüsterte er vor sich hin und schlug mit dem Handrücken mehrmals leicht gegen den Brustbereich. Dann formte er dieselbe Hand zur Faust, ohne ihre Stellung zu verändern, setzte blitzschnell den linken Fuß zur Seite an und traf die gleiche Stelle an der Puppe mit den Knöcheln. Es ächzte aus der Puppe heraus und man hatte den Eindruck, als wolle ein lebender Mensch seinen Mageninhalt vor Overbeck ausleeren. „Uraken Uchi!“

„Hast du einen Grund, dich abzureagieren?“ fragte Leni, die sich langsam daran gewöhnte, dass Overbeck zu den verschiedensten Zeiten, meist dann, wenn er überlegte, der Puppe ein paar Schläge oder Tritte verpasste. Auch wunderte Leni sich nicht mehr darüber, dass er ab und zu seine Techniken beim Namen nannte.

„Es war nicht Kraus` Idee. Erinnere dich. Wir beide haben am Tatort darüber gesprochen, dass wir Interpol einschalten wollten. Wir haben es einfach vergessen. Vergessen, verstehst du? Weil wir zu viel am Hals haben. Und Krauss wollte uns noch eine Observation aufdrängen. Aber nicht mit mir.“

„Hast du ihm das gesagt?“

„Er wird seinen Auftrag nicht wiederholen.“

„Zehn Jahre ist das nun her“, sagte Leni plötzlich.

„Was ist zehn Jahre her?“

„Vor zehn Jahren flogen zwei Flugzeuge in den Twin-Tower in New York.“

„Ich weiß.“

„Dabei kam das Ehepaar Karl und Maria Kollinger ums Leben. Die Tochter, ich meine die Adoptivtochter, überlebte. Weil sie sich nicht in den Türmen befand.“

„Und arbeitet als freie Journalistin in New York. Was ist daran so Besonderes?“

„Ich finde es schon seltsam, dass man sie in ihrer Wohnung nicht angetroffen hat, wie uns die Kollegen aus Big Apple mitteilten.“

„Sie arbeitet frei. Vielleicht ist sie hinter einer Story her, irgendwo im Land. Dass sie keinen festen Arbeitgeber hat, macht für uns die Sache natürlich komplizierter. Ich weiß nicht. Wenn sie diejenige ist, die sich rächen will, was ich wiederum verstehen könnte, hält sie sich in Deutschland auf. Und wo dort? Natürlich hier in unserem Umfeld, das bringt doch die Logik so mit sich. Wenn wir also den Verdacht hegen, dass sich diese Maggie Heidfeld, -so hieß sie doch, bevor sie zu Maggie Kollinger wurde-, irgendwo hier aufhält, muss das doch herauszubekommen sein.“

„Ich schlage vor, wir geben eine Fahndung heraus“, sagte Leni. Haben wir das Geburtsdatum?“

„Haben wir. Aber die Fahndung muss ohne eine Personenbeschreibung raus. Die Kollegen haben uns kein Foto übersandt.“

„Ich werde Kontakt mit ihnen aufnehmen. Sie sollen uns alles übermitteln, was sie über Maggie Heidfeld wissen, einschließlich eines aktuellen Fotos.“

„In Ihrem Ausweis wird Maggie Kollinger stehen“, verbesserte Leni.

„Ja“, nickte Overbeck. „Das wird es wohl.“

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