Читать книгу Geschichten aus der Maxvorstadt - Hanns Sedlmayr - Страница 10

Lyrik

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Es gibt ein paar Obdachlose im Viertel. Sie fallen nicht auf. Einer fällt auf, weil er ein schönes, männliches und kluges Gesicht hat.

Im Winter trägt er einen weiten, grauen Mantel. Seine Haare sind verfilzt und bedecken auch die Ohren. Er braucht keine Mütze. Im Winter wirkt er wie aus einem späten Western. Ein einsamer Held in der Wildnis.

Im Sommer verschwindet der Filz und der weite Mantel. Er fällt nur auf, weil er auch im Sommer ein Wägelchen mit seinen Habseligkeiten hinter sich herzieht.

Ich begegnete ihm einmal, an einem waren Sommertag. Er saß am Gehsteig auf einer Decke und lehnte sich an die Mauer eines Geschäftes. Das Geschäft hatte eine Jalousie ausgefahren. Er saß im Schatten. Sein Wägelchen stand neben ihm in der Sonne. Als ich an ihm vorbei ging schaute er mich an. Es war kein bettelnder Blick, aber ein Blick eines Mannes, der Hilfe sucht. Ich blieb stehen, nestelte etwas verlegen 2 Euro aus meinem Geldbeutel und streckte sie ihm hin. Er nahm das Geld und bat mich mit einer Handbewegung neben ihm Platz zu nehmen, dann deutete er auf ein zerlesenes Buch, das er in der Hand hielt. Ich nahm die Einladung an und setzte mich neben ihn. Der Boden war warm. Es war noch früh am Morgen. Ein heißer Sommertag zog herauf, es war aber noch angenehm kühl. Er zeigte mir den Umschlag des Buches.

Es war ein Band mit Lyrik. Dann öffnet er den Band und zeigt auf ein Gedicht von Gottfried Benn, dann legt er den Band zur Seite und zitierte das Gedicht auswendig:

„Schöne Jugend

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte

sah so angeknabbert aus.

Als man die Brust aufbrach

war die Speiseröhre so löcherig.

Schließlich, in einer Laube unter dem Zwerchfell

fand man ein Nest von jungen Ratten.

Ein kleines Schwesterchen lag tot.

Die anderen lebten von Leber und Niere,

tranken das kalte Blut und hatten

hier eine schöne Jugend verlebt.

Und schön und schnell kam auch ihr Tod:

Man warf sie allesamt ins Wasser.

Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschen“!

Er spricht deutlich, wie ein Schauspieler.

Ich bat ihn das Gedicht noch einmal zu sprechen.

Ich blieb noch eine Weile neben ihm sitzen.

Er verabschiedete mich mit einem Lächeln.

Geschichten aus der Maxvorstadt

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