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DAS GUTE LEBEN

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Das gute Leben.

Irgendwie haftet diesen in 1,73 Sekunden gelesenen drei Worten etwas Banales an.

Weit gefehlt.

Sokrates, Platon und Aristoteles haben in dieser Phrase das eigentliche Ziel der Philosophie gesehen. Gemeint haben sie eine gelungene Lebensführung und dass erst dadurch so etwas wie Lebensglück entstehen könne. Glück ist also das Resultat eines Verhaltens. Wobei Glück keine gute Übersetzung des Wortes ist, um das es tatsächlich gehen soll, das in der antiken Philosophie gemeinte Wort war Eudaimonie (auch Eudämonie, altgriechisch eudaimonía). Oft bleibt Eudaimonie bis heute unübersetzt. Am besten beschreiben würde es in etwa ein „seelisches Gesamtwohlbefinden als Resultat einer gelungenen Lebensführung nach den Anforderungen der Ethik“15.

Es ist schon merkwürdig. Nach vielen Jahrhunderten der Stille um „das gute Leben“ erlebt es in der Philosophie eine plötzliche Renaissance. Kaum ein Philosoph, kaum ein Qualitätsmedium, egal ob Print, Radio oder Fernsehen, kommt seit Jahren am guten Leben vorbei; an den Universitäten hat dieses eigentliche Ziel der philosophischen Forschung wieder Einzug gehalten, die Studierenden sind begeistert und spüren gute Lebensnähe des jahrzehntelang verstaubten Fachs. Dabei ist das gute Leben ein zentraler Begriff und das Hauptziel der Sozialethik.

Eine der Expertinnen zu diesem Thema im deutschsprachigen Raum, Univ. Prof. Dr. Dagmar Fenner von der Universität Basel, die sich selbst als Philosophin und Ethikerin bezeichnet, zitiert selbst einen Philosophen: Man habe in den letzten Jahren tatsächlich den „Eindruck gewinnen können, dass die Grundfragen der Ethik auf die Gasse geraten“ seien.

Und tatsächlich hatte sich diese Suche nach einer wissenschaftlich begleiteten Lebensformel in die Ratgeberliteratur, die Welt der Lebensberater, bis hinein in die Wellnesstempel begeben. Von der Werbebranche gar nicht zu reden. Wie viele Produkte hatten in den letzten Jahrzehnten gleichzeitig ein gutes Leben und körperliches Wohlbefinden – natürlich für mindestens fünf Jahre garantiert – versprochen, wenn man sie doch einfach nur kaufen würde. Ratenzahlung willkommen. Nicht inkludiert: die oft Abertausende Euro teuren Esoterikpakete dubioser Heiler und Lichtgestalten.

Aber zurück zur Definition. Man bringe eher zwei Philosophen dazu, die gleiche Zahnbürste zu benutzen, als die gleichen Begriffe zu verwenden, schreibt Dagmar Fenner.

Apropos Zähneputzen. Der deutsche Philosoph Albert Kitzler versteht bezüglich des guten Lebens die Welt schon lange nicht mehr. Für alles Mögliche nehme man sich Zeit, nur für unsere ureigenen seelischen Bedürfnisse nicht. „Im Vergleich schneidet das Zähneputzen besser ab als die Sorge für den eigenen psychischen Haushalt. Wen wundert es? Wer hat uns denn beigebracht, wie wir uns um unser Seelenleben kümmern sollen?“16

Weshalb sind wir bei der Einhaltung bestimmter Abläufe und Rituale nur so unglaublich streng mit uns, warum stets so erpicht darauf, nur ja nicht von den selbst – oder den Eltern – vorgezeichneten Lebenslinien abzuweichen, wissend, dass es sich selten um tatsächlich Bedeutendes oder gar Existenzielles handelt? Wie wichtig ist in vielen Familien nach wie vor die punktgenaue Einhaltung der Essenszeiten oder gar die auf einen bestimmten Wochentag festgelegte Speise. Spaghetti immer samstags. Ja, warum denn eigentlich? Und man denke nur an die an den Wochenenden und vorwiegend in manchen Land- oder stadtnahen Gegenden zu beobachtenden Pkw-Schlangen samt Sonntagsfahrern vor Waschanlagen.

Völlig anders geht der Mensch von heute mit seinen ureigenen Bedürfnissen um. Wer nimmt sich Zeit, kurz innezuhalten? Was wäre denn hier und jetzt für mich gut? Sodass ich am Ende des Tages ruhigen Gewissens sagen kann: Das war ein guter Tag. Ist die Sorge um das eigene seelische Wohlbefinden und um jene, die uns wirklich nahestehen, nicht nur ein Bruchteil jener Sorge um andere?

Wie oft stecken wir Energie in die Aufrechterhaltung oder Wiedergewinnung der Gunst des Vorgesetzten, um Arbeitstage friktionsfreier erleben oder manchmal auch nur aushalten zu können?

Wozu das alles?

Spätestens an den Wochenenden schlägt sie dann zu, diese für immer mehr von uns offenbar unbeantwortbare Frage nach der Lebenskunst. Wer nimmt sich Zeit und überlegt einmal für eine Stunde?

Will ich diese jahrelang eingeübten Abläufe in meinem Leben noch?

Mag ich meine mir selbst immer mehr auffallenden Gewohnheiten noch?

Will ich meine Persönlichkeit überhaupt weiterentwickeln?

Den eigenen Körper betreffend, sind die meisten schon viel weiter. Vor allem seit die Welt der Breitensportler dem Vermessungswahn verfallen ist, kennen wir ihn so gut wie noch nie. Ohne Arzt, aber dank smarter Laufuhr und Online-Fitnesstrainer. So ist uns jede Übung für jeden speziellen Muskel bekannt, wir wissen, wie hoch der Puls im anaeroben Bereich ist (also dort, wo man während des Laufens nur noch atemlos sprechen kann), und Sixpack hat schon lange nichts mehr mit sechs Bierflaschen zu tun.

Aber was es zu tun gilt, damit es der Seele wieder besser geht – ohne jetzt an fremde Hilfe oder Tabletten zu denken –, also das, was wirklich Zufriedenheit in uns auslöst, das wissen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften immer weniger Menschen.

Sollen wir uns diese Frage überhaupt stellen? Hätten wir kein Bewusstsein und unendliche Lebenszeit, müssten wir uns diese Mühe wohl nicht antun. Da wir Ersteres sehr wohl und Letzteres leider nicht haben, wäre es wohl nicht unklug, ab und an darüber nachzudenken, was zu tun ist, um am Lebensabend – ganz bei sich – mit einem „Ja, es war ein gutes Leben“ tief durchatmen zu können.

Der (philosophische) Spielraum verengt sich mit der ersten Geburtssekunde.

Jeder Mensch wird in eine Kultur, eine Gemeinschaft, Religion, Tradition hineingeboren. Viele Antworten sind also schon gegeben, bevor selbstständig geatmet wird. Viele bleiben diesen Antworten auch treu und orientieren sich an ihnen. Jahrhundertelang hat das auch funktioniert. Gott, Kirche, Elternhaus, Beruf und Wohnort der Eltern. Das „gute Leben“ lag am Tisch. Ob es wirklich gut war, diese Frage stellte sich nicht oder durfte nicht gestellt werden.

Das Koordinatensystem des Lebens war vorgegeben, klar und unverrückbar. Ein Kosmos mit einem Gott als alleinigem Eigentümer, dessen Geschäftsführer auf Erden der Papst war, und mit weltlichen Leitern wie dem König für die Menschen und dem Mann für die Familie. Hierarchie pur.

Ein gutes Menschenleben war eines, das sich an dieser Ordnung orientierte, Ausbruchsversuche untersagt.

Erst mit der Neuzeit vollzog sich die Wende zum Ich. Was hat sich seit Beginn der Neuzeit geändert? Dazu wollen wir sie hier ganz kurz definieren.

Wir sind im 15. Jahrhundert nach Christus, der Buchdruck ist erfunden, Amerika entdeckt. Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts (1517) entwickelt sich mit Martin Luther die Reformation und die Spaltung des westlichen Kirchentums in verschiedene Glaubensrichtungen. 1543 rückt mit Nikolaus Kopernikus die Sonne statt der Erde in den Mittelpunkt des Weltbildes.

Um es salopper auszudrücken: Nichts ist mehr so, wie es war. Damals vor 500 Jahren.

Auch der Weg zu Gott, zur „göttlichen Ordnung“, ist ohne die Umleitung über das Ich nicht auffindbar. Es ist also schwieriger geworden, da plötzlich mehrere „Umleitungen“ möglich sind. Über den Verstand, das Bauchgefühl oder das Herz.

Aber diese Hinwendung zum Ich bleibt für unsere Suche nach dem guten Leben im neuen Koordinatensystem des Ichs nicht ohne Folgen. Denn die Gebrauchsanweisung fehlt. Jeder Mensch gelangt also zu einem anderen „guten“ und erträumten Lebensziel. Und weil durch den fortschreitenden Individualismus auch die Philosophie die Frage nach dem guten Leben nicht mehr verwissenschaftlichen kann, verschwindet diese Frage für lange Zeit aus den philosophischen Lehrstühlen der Universitäten.

Seit einiger Zeit scheint das allerdings nicht mehr zu gelten. Denn plötzlich war sie da. So rund um die Jahrtausendwende. Die unerwartete Renaissance der Frage nach dem guten Leben.

Aber warum? Was sind die Gründe dafür, dass Philosophen wieder reden und schreiben und Menschen wieder zuhören und lesen wollen.

Die Philosophin Dagmar Fenner sieht außer- und innerphilosophische Ursachen. Generell sei es das „allgemein gewachsene Bedürfnis nach Handlungsorientierung“ und zudem auch die neue Verständlichkeit der einfacher formulierenden Philosophen.

Andere Philosophen sehen die Krise der Moral im weiteren Sinne als Ursache für die Wiederbeschäftigung mit der Frage nach dem guten Leben. Eine Krise, die aus meiner Sicht durch die zweite große Weltwirtschaftskrise ab 2008 zumindest mitausgelöst worden ist. Wenn zu viele Menschen gleichzeitig vom „So kann es nicht mehr weitergehen“ sprechen, vergrößert sich das Potenzial zum grundsätzlichen Umbruch. Die einen sehen ihn mit Vernunft, die anderen treibt die Lust auf Unvernunft. So war es immer, und so wird es wohl immer sein.

Zunächst zur Vernunft: Diesem Konzept zufolge soll der Mensch vor allem sein Hirn einsetzen, genauer seinen Verstand – und er soll dabei immer versuchen, sich zu kontrollieren. Klingt nicht wirklich neu (Descartes!), dennoch ist ein Unterschied zur Zeit der göttlichen Ordnung klar erkennbar. Denn entscheidend ist nicht, jemandem zu dienen, sondern das Regelwerk für ein gutes, rationales Leben in sich selbst zu finden, und so viele Wünsche und Ziele wie möglich in seinem Leben umzusetzen, aber immer unter der Prämisse, dass der Weg dorthin dem Verstand gehorcht. Spontaneität oder fehlende Impulskontrolle sind unerwünscht, ausschlaggebend ist der eiserne Wille. Es geht also nicht um die spontan an- und einfallenden Wünsche, sondern um Ziele und Erfüllungen stets mit dem Blick auf das ganze Leben. Dazu bedarf es einer genauen Einschätzung von Zeitdimensionen und – vor allem – des permanenten Eingeständnisses von Endlichkeit. Das bedeutet natürlich auch immer wieder Verzicht. Verzicht auf den kleinen, spontanen Wunsch zugunsten der Erreichung eines der großen Lebensziele. Wobei diese Ziele nicht unabhängig nebeneinander, sondern in einer „vernünftigen“ Verbindung zueinander stehen sollten. Denn es müssen auch Prioritäten gesetzt werden. Dazu ist eine gute Planung notwendig. Der Philosoph Martin Seel spricht von Konstellationen von Wünschen.17 Die Wünsche sollten keinen illusionären Charakter aufweisen („Ich bin zwar schon im letzten Lebensdrittel, werde aber noch bei olympischen Spielen mitmachen.“) und sinnvoll miteinander vereinbar sein.

Beim Hedonismus wählen Menschen den umgekehrten Weg: Das Wort hēdonē´ kommt aus dem Altgriechischen und kann kaum besser übersetzt werden als mit Lust und Genuss. Dieses Streben nach Lusterfahrung, so oft und so intensiv wie nur irgendwie möglich, soll hier nicht näher erläutert werden. Jede und jeder weiß, was gemeint ist. Faktum ist, dass die sogenannte hedonistische Theorie eine der philosophischen Grundvarianten für ein gutes Leben ist. Auch diese Lebensform ist aus der Antike bekannt. Nicht selten wird Gott selbst zum Verursacher erkoren, sei er es schließlich gewesen, der diese Lustbedürfnisse dem Menschen mitgegeben habe, was könne also verwerflich daran sein, das Angeborene auch auszuleben. Ein gutes Leben ist demnach umso besser, je größer die Anzahl lustvoller Erfahrungen innerhalb eines Gesamtlebens ist.

G = L / A G (Gutes Leben) = umso höher, je größer L (Lusterfahrung) oder je kleiner A (Aufwand, um zur Lusterfahrung zu gelangen)

Da schimmert als Lebensformel „Die Mischung macht’s!“ durch. Auf den ersten Blick mag das stimmen, auf den zweiten nicht unbedingt. So, wie nicht jeder Mensch ein aus bestimmten Eigenschaften zusammengeschüttetes Misch- oder Durchschnittswesen ist, so sind es auch die Theorien zum guten Leben in ihrer philosophischen Ausprägung nicht. Was dabei herauskommt, wenn Wissenschaften, die aufgrund fehlender Gesetzmäßigkeiten (nicht etwa wie in der Physik: Der Teller fällt vom Tisch auf den Boden, wenn ich ihn zu weit über den Tischrand schiebe = Gravitation!), streng genommen, keine Wissenschaften sind, zeigt die Ökonomie. Noch immer wird an den Volkswirtschaftslehrstühlen der Universitäten der „Homo oeconomicus“ gelehrt, ein Kunstmensch, der immer rational handelt. Wissend, dass die Verhaltensökonomie viele der – mit der Aufrechterhaltung der Theorie des absolut immer ökonomisch sinnvoll agierenden Menschen entstandenen – mikroökonomischen Regeln längst widerlegt hat.

Neben jenen Menschen, die unter einem guten Leben ein eher hedonistisches oder ein rationales verstehen, gibt es auch jene, die ein an Gütern im allerweitesten Sinn orientiertes Leben als „gut“ ansehen.

Ganz neu ist die aktuelle individuelle Suche nach dem Guten im 21. Jahrhundert natürlich dennoch nicht. Trotz all der früheren klaren Orientierungen vom Himmel herab dachte auch schon Sokrates, dass immer ein wenig Spielraum bleibe, wenn er die Menschen dazu aufforderte, in jedem Gespräch das eigene Denken zu überprüfen. „Ein Leben ohne Selbstprüfung ist nicht lebenswert.“18 In anderen Übersetzungen heißt es sogar, dass man sich ein Leben ohne Selbstcheck „gar nicht verdient“ habe.

Natürlich kann das auch übertrieben werden. Zeitgenossen, die tagtäglich – und es gibt sie – über die Für und Wider ihres momentan geltenden Lebensentwurfes sinnieren, sollen wenn möglich nicht zum Vorbild gereichen. Sehr oft – muss man bedauerlicherweise feststellen – gleiten diese bemitleidenswerten (kein Zynismus!) Einzelkämpfer ins Neurotische ab und landen mehr oder weniger lang im Zwang.

Selbstverständlich ist nichts mehr

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