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Über die Arbeit und den Sinn eines Buches über den Sinn
ОглавлениеBegonnen hatte alles im hohen Alter von 33 Jahren. Jemand hatte das Buch „Sofies Welt“ unter den Weihnachtsbaum gelegt. Obwohl eigentlich als Buch für Kinder und Jugendliche gedacht, konnte einen dieses Kultbuch auch als Erwachsenen ins Staunen versetzen. Mehr als 40 Millionen Exemplare in fast 60 Sprachen sollen verkauft worden sein, der Anteil der erwachsenen Leser soll den der jüngeren bei Weitem übersteigen. Denn was ist im Leben schöner, intensiver und auf die momentane Stimmung wirkmächtiger als das – nur fälschlicherweise ausschließlich der Kindheit zugeschriebene – Staunen.
Wir haben es nur verlernt, weil wir uns zu oft ablenken lassen. Der Blick auf einen Baum mit Hunderten leuchtenden Herzchen am Wiener Christkindlmarkt ist eben bei gleichzeitigem Blick nach unten – auf das Smartphone – schwierig.
Das Staunen sollte aber wieder in unseren Alltag zurückkehren. Und nicht die Ansichten unseres gehetzten Arbeitslebens auf die Kinder übertragen werden, wie folgende Anekdote zeigt.
Es war im Frühjahr vor einiger Zeit. Mein älterer Sohn war eben neun Jahre alt geworden, und die Vorentscheidung, welches Gymnasium er auswählen solle, beschäftigte die ganze Familie. Er bat unter anderem die 14-jährige Schwester eines Klassenfreundes um Rat, die ihm eine bekannte Privatschule in Wien empfahl. Ich wollte es genauer wissen und fragte das junge Mädchen und ihren Vater, ob denn der Ruf stimme, der dieser Schule vorausseile. Streng, reiche Eltern und eher schnöselig. Das Mädchen antwortete sofort: „Überhaupt nicht, es ist wirklich eine Schule fürs Leben.“ – „Warum?“, fragte ich nochmals nach, und die Antwort erstaunt mich bis heute: „Dort kann man die tollsten Netzwerke für sein Berufsleben aufbauen.“
Dieser Satz lässt mich seitdem nicht mehr los. Was geht einer 14-Jährigen, die am Ende der späteren Kindheit an das Netzwerken denkt, wohl durch den Kopf? Wobei sie da nicht Freundschaftskreise zum Austausch von Musiktiteln oder Videofilmen im Hinterkopf hat. Nein, es geht ihr darum, berufliche Netzwerke für die Zeit nach dem Studium zu flechten, also für eine Zeit rund zehn Jahre später, wenn sie dann vielleicht 24 Jahre alt ist und wohl längst einen akademischen Titel vorweisen kann.
Was passiert da gerade in der westlichen Wohlstandsgesellschaft? Wie werden Kinder in diesem 21. Jahrhundert erzogen? Was ist und wofür steht Bildung? Ist Bildung tatsächlich nur noch Ausbildung? Und dient Bildung mittlerweile nur mehr als reines Werkzeug zum beruflichen Erfolg?
Abseits dieser philosophischen Nachdenklichkeit noch eine ganz andere Frage: Was werden all jene Menschen in nicht mehr ferner Zukunft machen, wenn die Arbeit geht? Weg von uns. Schritt für Schritt. In Richtung Roboter, in Richtung Künstliche Intelligenz. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts warnen Psychologen, Philosophen und Soziologen vor dieser Entwicklung. Was macht der Mensch, wenn ihm die Arbeit davonläuft? Wirklich ernst genommen wurden die Warner nicht. Jede neue technische Entwicklung habe schließlich immer noch neue, wenn auch komplexere, Aufgabengebiete geschaffen, denn ausschließlich Arbeitsplätze vernichtet. Das ewige Gejammer sei kontraproduktiv, und die meisten Skeptiker seien ohnehin zu faul, um sich durch effiziente Fortbildung an die neue Arbeitswelt anzupassen.
Zynismus pur. Und zudem immer unrichtiger. Denn ab dem dritten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wird je nach Studie jeder fünfte bis zumindest jeder dritte oder bis 2050 sogar jeder zweite Arbeitsplatz, wie wir ihn bis dato kennen, verloren gehen. Ob bis 2040 oder 2050, das will niemand genau prognostizieren, aber meine Kinder und die heute vierzehnjährige Netzwerkerin werden mittendrin stecken. Im Beruf – oder in einer anderen Welt.
Und um diese Welt soll es in diesem Buch gehen. Ich verstehe es als Fortsetzung meiner ersten drei Bücher: „Wie Wirtschaft die Welt bewegt“, „Der vergessene Mensch in der Wirtschaft“ und „Wir werden nie genug haben“. Als eine Art Fortsetzung deshalb, weil mich als Absolvent eines Volkswirtschaftsstudiums eine Frage schon immer beschäftigt hat: Warum wirtschaften und wachsen wir in immer schnellerem Tempo, wenn Wohlstandsgesellschaften schon relativ viele Güter haben? „Sättigungstendenzen – Ursache dauerhafter Nachfrageschwäche?“ betitelte ich meine Diplomarbeit. Heute würde ich die Frage viel breiter anlegen. Was macht der Kapitalismus, wenn immer weniger mitmachen? Sei es aus Mangel an Einkommen (trifft noch immer auf rund 95 Prozent der Haushalte zu), aus Mangel an Lust auf den Konsum oder aus Mangel an Zeit.
Der durchschnittliche Deutsche kann heute rund 10.000 Dinge sein Eigen nennen. Von der Stecknadel bis zum Auto. Rund acht von zehn neuen Produkten schaffen es nicht mehr auf den Markt und wenn, dann nur ganz kurz. Dann sind sie wieder weg. Die Entwicklungskosten bleiben im Unternehmen, meist werden Mitarbeiter gekündigt oder – im schlimmsten Fall – muss die Firma zusperren. Im letzten Jahrhundert traf es etwa den Monoski. Kaum war er da, war er von den Breitensportpisten auch schon wieder verschwunden.
Oder ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Der ruhelose Zappelphilipp auf zentral gelagerten Kugeln, besser bekannt als „Fidget Spinner“. Erfunden wurde er eigentlich von der US-Amerikanerin Catherine Hettinger im Jahr 1993 – allerdings verzichtete sie wegen Erfolglosigkeit beim Anbieten an Spielzeug-Verkaufsketten zwölf Jahre später auf die Erneuerung des bestehenden Patents. Zehn Jahre lang hätte sie noch durchhalten müssen. Denn plötzlich wollten alle Kinder Handkreisel. Ohne Vorwarnung. Aber natürlich nicht nur einen Fidget Spinner, sondern mindestens zehn verschiedene Modelle. Ende 2016 kürte das Forbes Magazine das Ding zum „Must-Have Office Toy For 2017“. Die Zahl der Hersteller explodierte weltweit. Kein Spielgeschäft der Welt, kein Touristenshop zwischen Peking und Pisa, keine Straßenverkäufer zwischen Wien und Berlin wagten es, keine Handkreisel anzubieten. Beim ersten Verkaufsrückgang begannen die Geräte in anderen Farben, Formen und teils mit angehängten kleinen Gewichten zu glänzen. Als auch das nichts mehr half, erzeugten manche Fidget Spinner beim Drehen bestimmte Muster, leuchteten im Dunkeln oder blitzten in der Nacht. Zwei Jahre später waren sie verschwunden oder um einen Euro in Billigläden zu erstehen. Dem Spiel Pokémon GO, bei dem Scharen von Kindern und Erwachsenen in Büschen virtuelle Gestalten suchen, ist es ähnlich ergangen.
Die Zeit, sich täglich mit Gegenständen zu beschäftigen, ist bei vielen von uns aufgebraucht. Weitgehend von Schlaf, Kommunikation und Arbeit ersetzt. Den Schlaf haben wir in den vergangenen 200 Jahren von acht auf sechs Stunden reduziert, das Kommunikationstempo seit 1825 ver-10-Millionen-facht. Bleibt nur noch die Arbeit.
Was machen wir also, wenn auch sie geht. Was bleibt uns dann? Für die meisten von uns, so hat man es uns einige Jahrhunderte lang gelehrt, ist es vor allem sie, die Sinn stiftet. Wer nicht arbeitet, ist nicht. Und hat letztlich auch kein Recht, in Zufriedenheit zu leben. Oder wie Apostel Paulus der Gemeinde Thessaloniki verkündete (Kap 3, Vers 10): Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.
Was man mit Falschinterpretationen alles anrichten kann. Denn der Apostel Paulus wollte mit diesem Satz in seinem zweiten Brief an die Thessalonicher keineswegs die Faulheit attackieren. Auch wenn es die Kirche jahrhundertelang so weitergegeben hat. Paulus meinte eigentlich das Gegenteil. Er verstand diese Aussage als Angriff auf jene Reichen, die andere Menschen für sich arbeiten ließen und nur faulenzten. Damit sollte ein klares Nein zur Sklaverei ausgedrückt und diese Hierarchie in der Gemeinschaft der Christen aufgelöst werden, etwa beim gemeinsamen Essen. Es sollten eben nicht die einen auf das Essen warten, das die anderen zubereitet hatten, sondern: Wer nicht gearbeitet hatte, sollte auch nicht mitessen dürfen. Im Grunde war das ein Aufruf zur sozialen Gleichberechtigung und Gerechtigkeit.
Abgesehen von diesem „historischen“ Einwand wird Faulheit wohl bei wenigen ein echtes Lebensziel sein. Kaum jemand wird sich zeit seines Lebens freiwillig ausschließlich zwischen Bett und Küche bewegen wollen. Fällt die Arbeit einmal tatsächlich weg oder auch nur zu einem großen Teil des bisher gewohnten Umfanges, wird für viele in der westlichen Welt auch der Sinn wegfallen. Auch wenn sie das anderen gegenüber nur selten zugeben werden.
Familie, Gesundheit, eine gesunde Umwelt und der Weltfrieden – deshalb bin ich hier, so werden zwar in den letzten Jahrzehnten Fragebögen ausgefüllt, aber im sozialen Vergleich sind es dann doch der Beruf, die hierarchische Ebene in diesem sowie Einkommen, Immobilie, Auto, Urlaubsdestinationen, Kleidung und das nicht länger als vor einem halben Jahr erworbene Smartphone, die zählen.
Das wäre in vielen Fällen wohl anders, würden wir – auch mit unserer Familie – auf einer einsamen Insel leben. Sobald der soziale Wettbewerb hinzukommt, ist es mit der Inselmentalität schon wieder vorbei. Tatsächlich schaffen in den letzten Jahren immer mehr Menschen die Fokussierung auf Glück, Lebenszufriedenheit und Sinn – auch mitten im sozialen Wettbewerb –, aber dennoch sind diese Aus- und Umsteiger in ihren selbst fabrizierten Holzhütten im Wald oder in Kleinhäuschen in Kreta nach wie vor in einer verschwindend kleinen Minderheit. Da nützen auch die seit der Jahrtausendwende gefühlt jährlich 1000 neuen Ratgeber zum Rückzug – am besten gleich ganz in sich selbst – wenig bis nichts.
Es wird jedem von uns – vor allem jenen, die am Anfang oder mitten im Arbeitsprozess stecken – nichts anderes übrig bleiben, als sich mit sich selbst darüber im Klaren zu werden, was kommt, wenn die Lohnarbeit geht.
Was kommen soll.
Was geschieht, wenn die direkte Abhängigkeit vom Arbeitgeber wegfällt. Was auf den ersten Blick nur zu Erleichterung führen kann, gestaltet sich auf den zweiten Blick allerdings viel komplexer. Geldlohn gegen zeitlich begrenzte Zurverfügungstellung von körperlicher oder geistiger Arbeitskraft schafft auch Sicherheit, halbwegs stabile Rahmenbedingungen im wackeligen Weltgefüge und die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg.
Arbeitgeber oder gar Selbstversorger, wie sie zum Teil in der Dritten Welt noch immer gang und gäbe sind, müssen sich diese Fragen nicht stellen, was dennoch nicht bedeutet, dass sie das „Wozu das alles?“ nicht auch zusehends beschäftigt.
Womit wir uns dem Untertitel dieses Buches annähern. Der Suche nach Sinn in einer kapitalistischen Welt, der immer mehr die Arbeit ausgeht. Oder: Sinn statt (nur) Gewinn. Gemeint ist selbstverständlich nicht nur der Unternehmensgewinn. Sondern das, was wir im herkömmlichen Sprachgebrauch neben dem Gewinn in Firmen darunter verstehen: Gewinn von mehr Gütern, Gewinn von sozialem Aufstieg oder Prestigegewinn (durch die Anschaffung von Kleidung, Smartphone, Auto, etc. – vorausgesetzt, das Produkt wird von anderen oder professionellen Marketingstrategen gerade jetzt als wirklich „in“ gebrandet).
Was wird sein, wenn Gewinn in diesem Sinne, beziehungsweise präzise formuliert: permanenter Gewinnzuwachs, nicht mehr möglich ist? Wenn uns das Gegenteil treffen wird? Weniger Arbeitsvolumen in der westlichen Welt, also weniger Nachfrage nach dem Produktionsfaktor menschliche Arbeitskraft, weniger Wirtschaftswachstum oder überhaupt kein Wachstum, was aber die feststehende Basis des Kapitalismus ist. Aber ohne Wachstum kein Kapitalismus. Warum das eigentlich so ist, werfen Sie ein?
Nur ein paar Zeilen dazu. Ein Unternehmen, das am Beginn steht, braucht neben Eigenkapital in der Regel auch Fremdkapital, und das nicht zu wenig. Es braucht also einen Kredit- und/oder einen Eigenkapitalgeber. Der verlangt Zinsen und/oder einen Teil des späteren Gewinns. Das gilt nicht nur bei Erstinvestitionen, sondern auch bei Erweiterungsinvestitionen. Eine neue Firma arbeitet also auf Pump und muss ab einem gewissen Zeitpunkt dauerhaft Gewinne garantieren können, damit Banken und Investoren bereit sind, Kapital vorzuschießen. Dauerhafter Gewinn bedeutet dauerhaftes Wachstum. Wäre der Kapitalismus ein Kreislauf, bei dem man nach jeder Periode wieder am Anfang landen würde, würden die privaten Unternehmen immer nur das einnehmen, was sie vorher an Löhnen und Investitionen eingesetzt hätten. Es entstünde dann eben keine Entlohnung des Kapitals, und keine Bank der Welt würde jemals wieder einen Vorschuss leisten. So oder so ähnlich, aber natürlich umfangreicher und detaillierter wird Kapitalismus auf Hunderten Seiten und in unzähligen Büchern definiert – dass es Kritiker ganz anders sehen und durchaus eine Ökonomie ohne Wachstum für realistisch halten, ist wieder eine andere Geschichte.
Auch eine andere Geschichte sind die Grenzen, die unser Planet dem ewigen Wachstum auf immer drastischere Weise entgegenhält. Ob nun die ökologischen Zäune, der in seinen Möglichkeiten begrenzte Mensch selbst, weil er mit dem Tempo des Lebens nicht mehr mithalten kann und ihm nicht nur Geld, sondern auch Zeit fehlt, um weitere Güter überhaupt noch konsumieren, geschweige denn genießen zu können, oder die immer weitgehender eingesetzte Digitalisierung der Arbeitswelt, Roboter oder Künstliche Intelligenz, wir werden uns schon aus diesen Gründen überlegen müssen, was der Mensch mit sich anfängt, wenn er in dieser neuen Welt seinen Platz finden will.
Wie also könnte er theoretisch auch leben? Gäbe es ein Leben mit mehr Sinn statt Tempo? Hat es überhaupt einen Sinn, ein „So ginge es auch“-Modell in der reinen Theorie zu beschreiben?
Hätte der Autor diese Fragen nach langem Überlegen letztendlich nicht doch mit „Ja, es hat einen Sinn“ beantwortet, wäre dieses Buch nicht entstanden. Und so hat er einige neue, vor allem aber teils jahrtausendealte Lebensweisheiten wieder ausgegraben, zusammengefasst und daraus theoretische Lebensmöglichkeiten gebastelt.
Das Buch wurde also geschrieben. Von Ende 2018 bis März 2020.
Und dann kam Corona.
Zeitgleich mit der Fertigstellung des Buches wurden in Österreich die sehr weitgehenden Ausgangsbeschränkungen beschlossen. Und schon nach wenigen Tagen wurde das für das Buch skizzierte Menschenbild – entworfen für eine Zeit, wenn die Arbeit als ein oder bei vielen der Lebenssinn wegfällt – Realität.
Plötzlich hatten alle Zeit. Zeit für sich, für die Familie, für Freunde, für Nachbarn. Eine Höflichkeit im Umgang miteinander war nicht Ausnahme, sondern fast schon Regel. Und die Menschen taten Dinge, die sie nach eigenen Aussagen, Jahre oder gar Jahrzehnte aufgeschoben hatten. Sie schlenderten durch die Natur, bastelten mit den Kindern oder suchten am Dachboden nach Juwelen.
Im letzten Kapitel soll darauf auch näher eingegangen werden, nicht auf die schreckliche COVID-19-Pandemie an sich, aber auf das, was dieser erzwungene Rückzug, der verordnete Stillstand, in uns allen ausgelöst hat.
Die Frage „Wozu das alles?“ – und damit wieder zurück zum ursprünglichen Sinn dieses Buches – erlebt seit Ende des vorangegangenen Jahrhunderts eine Renaissance. Zunächst in der Glücksforschung. In immer mehr Ländern wurde und wird versucht, mittels viel zu langer Fragebögen das Lebensglück zu erfragen, stets gipfelnd in der Parole: „Wir müssen Bhutan werden.“ Das buddhistisch gelenkte Königreich am Rand des Himalaya gilt weithin als weltweites Zentrum des Glücks, und seit den 1960er-Jahren wird das Bruttonationalglück in diesem Land in der Verfassung festgeschrieben. Sinngemäß heißt es dort: Nur eine Regierung, die für ihr Volk Glück schaffen kann, hat eine Existenzberechtigung. Tut sie das nicht, hat sie keinen Grund, zu regieren.
Auch die Ratgeberliteratur sprengte alle Rahmen des großen Glücks, das in nicht immer seriösen Varianten auf Zehntausenden Seiten niedergeschrieben wurde.
Doch dann ging dem Glück die Luft aus.
Glück sei nicht alles im Leben, warnten plötzlich die Philosophen. Ein Berufszweig, der Jahrzehnte geschwiegen und sich in die Denkerzimmer der theoretischen Philosophie, meist in Universitäten, zurückgezogen hatte, wagte sich wieder an die breite Öffentlichkeit. Die Philosophie erlebt in ihrer Ausprägung der praktischen Philosophie seit einigen Jahren ein unglaubliches Comeback. Ob die aus Deutschland stammenden Richard David Precht, Wilhelm Schmid, Albert Kitzler, Rüdiger Safranski, ob die Österreicher Robert Pfaller oder Konrad Paul Liessmann oder der Schweizer Philosoph Peter Bieri, ihnen allen geht es nicht mehr ums Glück allein. Es ist „das gute Leben“, das thematisch ihre an Universitäten allerdings sehr kritisch beäugten Publikationen dominiert, wie auch das seit Jahren in Frankreich und dann auch in Deutschland erscheinende Philosophie Magazin und andere neue Philosophie-Schwerpunkte in Zeitungen meist die „Lebenskunst“ in den Mittelpunkt stellen.
Was ist ein „gutes Leben“?
Eine der ältesten Fragen der Philosophie. Älter ist nur die Frage: Was ist der Sinn von allem?
Die Antwort ist so einfach wie banal: Weise leben.
Und das Schöne daran. Es ist schon alles gedacht. Vielleicht nicht wirklich alles. Aber fast alles. Zum Teil vor dreitausend Jahren.
Braucht es also neue Weisheiten? Nein, sagt der Philosoph Albert Kitzler: „Denn die Funktionsweise unserer Seele ist in den letzten 3000 Jahren im Wesentlichen unverändert geblieben.“1 Keiner von uns müsse das Rad immer wieder neu erfinden (wobei dieser Spruch erst rund 40 Jahre alt ist, das Rad selbst mindestens fünf Jahrtausende), man müsse auch die Lebensweisheiten nicht immer neu erdenken.
In diesem Buch soll es deshalb auch, oder vielleicht vor allem, um die vielen kleinen und großen Ideen und Anregungen weiser Menschen gehen, die manches im Leben im wörtlichen Sinne leichter machen könnten. Die Philosophie bekommt im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts immer stärkeren Rückenwind auf ihrem Weg in die immer mehr von Unzufriedenheit geprägte menschliche Gedankenwelt. Und das ist gut so. Nein, nicht das gedankliche und zu oft verbalisierte Raunzen, sondern die Befassung der modernen Philosophie damit – im Gewand der praktischen Philosophie, jenem Teilbereich der Philosophie, wie ihn Aristoteles geprägt hat. Es soll also um die konkrete Anwendung von Philosophie gehen in Fragen der Ethik, des Rechts, der Politik, auch der Ökonomie und der Medizin. In der Volkswirtschaftslehre sagen die sogenannten neoklassischen Professoren – in ihrer politischen Ausformung: die Neoliberalen –, dass man mikroökonomische Betrachtungen, wie wir sie eben getroffen haben, auf die Makroökonomie übertragen könne. Denn so wie sich der Homo oeconomicus, der stets rational handelnde Modellmensch in der Gleichgewichtswirtschaft, auf den Märkten bewege, so könne man das auch auf eine gesamte Volkswirtschaft umlegen. Oder weniger ökonomisch formuliert: So wie die Leute sind, so funktioniert dann auch ein ganzer Staat.
Dass das nicht stimmt, haben viele Wirtschaftswissenschaftler und Denker aufgezeigt und gut begründet. Der Wichtigste unter ihnen: John Maynard Keynes. So sei etwa ein Sparparadoxon auszumachen. Spart ein Mensch, so mag das für ihn gut sein, weil ihm in der Zukunft mehr Geld für eine geplante größere Anschaffung zur Verfügung steht. Sparen jedoch plötzlich alle, also die Wirtschaftsteilnehmer eines gesamten Landes, geht der Gesamtkonsum dramatisch zurück und damit das gesamte Volkseinkommen. Dann fallen beide – der Gesamtkonsum und die Gesamtersparnis.
Steht jemand in einer Theatervorstellung mitten im Zuschauerraum plötzlich auf, ist es gut für ihn, weil er dann besser sieht. Machen das alle, sehen alle schlecht.
Um diese Betrachtungen von John Maynard Keynes soll es in diesem Buch aber nicht gehen. Ich möchte vielmehr der Frage nachgehen, was wir aus der Sinnforschung und aus der Weisheitsforschung nicht nur für den Einzelnen lernen können, sondern auch, welche Antworten sich vor allem für die Politik ergeben könnten.
Und schon lande ich neuerlich bei John Maynard Keynes, denn schon acht Jahre vor seinem Hauptwerk „The General Theory of Employment, Interest and Money“ hat er 1928 in Cambridge eine sehr bedeutende und in den letzten Jahren oft zitierte Rede über eine mögliche Welt in hundert Jahren gehalten. Daraus wurde 1930 eine Vorlesung mit dem Titel „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“, die im Oktober desselben Jahres in zwei Folgen in der Zeitschrift The Nation and Athenaeum abgedruckt wurde.
Die Prognosekraft dieses kleinen Essays ist unglaublich und beeindruckend. Zwei Aussagen gleich vorweg: Der Lebensstandard 2030 werde bis zu achtmal so hoch sein wie heute (also damals, 1930) und wegen des rasant ansteigenden technischen Fortschritts werde man in der Lage sein, alle Tätigkeiten in der Landwirtschaft, im Bergbau und im Produzierenden Gewerbe mit „einem Viertel der menschlichen Anstrengungen von heute“ durchzuführen. Auch dann, wenn diese hohe Geschwindigkeit die Menschen schmerzen werde. Man sei schon heute „von einer neuen Krankheit befallen, deren Namen einige Leser möglicherweise noch nicht gehört haben, von der sie aber in den nächsten Jahren noch viel hören werden, nämlich der technologischen Arbeitslosigkeit“2. Damit meinte der Ökonom, Mathematiker, Politikberater und Politiker im Jahre 1930 (!) jene Arbeitslosigkeit, die entsteht, „weil unsere Entdeckung von Mitteln zur Einsparung von Arbeit schneller voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendungen für Arbeit zu finden“3.
2030 werde laut Keynes das weltwirtschaftliche Problem im Großen und Ganzen gelöst sein, und die Menschen könnten sich der Muße und Freizeitgestaltung hingeben. Ganz konkret prognostizierte der Philosoph, der Keynes auch ist, eine Drei-Stunden-Schicht als täglich notwendige Arbeitszeit oder eine 15-Stunden-Woche.
Ich denke, das wird sich nicht mehr ganz ausgehen – bis 2030.
Was uns aber nicht daran hindern soll, schon heute die Frage zu stellen – und zwar unabhängig davon, ob wir irgendwann 21 oder viele von unseren Kindern und Enkeln 24 Stunden in der Woche arbeiten und den Rest „arbeitslos“ zu befüllen haben: Was genau hat denn dann SINN? Welche Handlungen geben uns einen Lebenssinn? An dieser Stelle sei die nicht sehr sinnvolle Übersetzung von „That makes sense“ mit „Das macht Sinn“ erwähnt, nicht nur weil es schlicht und einfach falsches Deutsch ist. Sinn ist nicht machbar. Nicht erzeugbar.
Eine Tätigkeit hat Sinn oder keinen Sinn. Und Sinn ist da oder nicht da.
Man kann ihn suchen, vielleicht erkennen, bestimmte Dinge können auch einen Sinn ergeben, herstellbar ist er nicht. Warum fragen wir überhaupt nach dem Sinn? Hat es Sinn, nach dem Sinn zu fragen?
„Fällt dir nichts Sinnvolleres ein?“, war noch eine der nettesten Antworten von Freunden, Bekannten und Kollegen, als ich ihnen von meinem Buchprojekt erzählt habe. Von Zeitverschwendung bis „das Leben ist der Sinn“ reichten die Argumente gegen die intensivere Beschäftigung mit dem Sinn.
Nicht immer hatte ich Zeit und Muße für die ausführliche Erklärung. Die Kernantwort war und ist immer dieselbe. Es gehe ja gar nicht um den großen Sinn des Lebens. Es wäre doch vermessen, als politischer Journalist auf diese einzig wirklich große Frage der Menschheit eine Antwort auch nur suchen zu wollen. Es sollen mögliche Faustregeln und Anregungen angeboten werden, die einen in bestimmten Handlungen mehr oder weniger deutlich einen Sinn erkennen lassen. Und das auf mehreren Ebenen.
Da ist natürlich in erster Linie der Mensch selbst. Denn wie gesagt: Arbeit kann und wird voraussichtlich in den kommenden Jahrzehnten als bisheriger Hauptsinnstifter außerhalb des Familienlebens für viele von uns und vor allem für unsere Kinder und Enkel in welchem Ausmaß auch immer wegfallen.
Und was dann?
Aber nicht nur der Mensch als Individuum soll hier Objekt der Sinnfrage sein. Auch die Wirtschaft. Wozu wird der Produktionsfaktor Mensch noch gebraucht werden? Und wenn tatsächlich in immer geringerem Ausmaß, woher soll das Einkommen für Konsumenten kommen, und vor allem: Was wollen Menschen, die immer weniger arbeiten noch konsumieren? Man stelle sich vor, immer mehr Menschen finden Gefallen an Dingen, die nichts kosten, und hören auf, Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen. Was würde das auf Dauer für den Kapitalismus bedeuten?
Und was wird schließlich der Sinn von Politik sein, wenn ein immer größer werdender Teil des Wahlvolks schon vor demokratisch gewählten Volksvertretern umgedacht hat und diese mit ihren Parteiprogrammen dem Willen der Wähler zeitlich hinterherhinken?
Eine Partei, die Wirtschaftswachstum nicht in ihrem Programm hat beziehungsweise dieses Wirtschaftsziel nicht in das Spitzenfeld ihrer Prioritätenliste aufgenommen hat, ist in der westlichen Welt nicht zu finden, und wenn doch, stehen ihre Erfolgschancen schlecht. Noch. Das könnte sich allerdings in diesem Jahrhundert rasch ändern. Was jedoch auch das Ende des Kapitalismus wäre.
Was aber käme nach dem Kapitalismus? Würde das neue System einen Sinn ergeben?
Die Sinnfrage wird sich, ob wir das nun wollen oder nicht, durch alle Gesellschaftsebenen ziehen. Von uns als Einzelkämpfer bis zum multinational tätigen Konzern.
Ein Kapitel in meinem ersten Buch (2009), welches ich zusammen mit dem weit über den deutschen Sprachraum hinaus bekannten Ökonomen Prof. Kurt W. Rothschild geschrieben habe, lautet: „das Ende der Selbstverständlichkeiten“. Heute, zehn Jahre später, ist es sinngemäß zum Titel dieses Buches geworden.
Jedenfalls erscheint heutzutage noch viel weniger als selbstverständlich als damals und erst recht gegenüber den 1960er-/1970er-Jahren. Was gilt denn noch? Was hält denn noch? Ehe, Beruf, politische Koalitionen, der Glaube an eine bestimmte Religion? Und dazu der Glaube an ein Produkt – an ein Objekt der Begierde am Gütermarkt? An eine Form des Zusammenlebens, einen Gott, einen Arbeitgeber, eine Stammpartei, eine Automarke, ein Kleidungsgeschäft, eine Skimarke. Ich könnte sie alle aufzählen, diese „Das und sonst nichts“-Kaufentscheidungen von damals, auch die meiner Eltern. Vom Kleidungsgeschäft über das Wirtshaus bis zur Automarke.
Drei fixe Mahlzeiten am Tag.
Zwei oder drei fixe Radio- und/oder Fernsehsendungen.
Fixe Sporteinheiten – zumindest bei einem Teil der Bevölkerung.
Ein Kinotag. Ein Einkaufstag. Und – erzwungenermaßen – in der Zeit der Ölkrise: der autofreie Tag. Und heute? Vielfältige Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens. Zweifel an Religionen, mehrere, einer oder kein Arbeitgeber, keine Stammpartei, mehrere Automarken, Hunderte Kleidungsanbieter, nicht ganz so viele Skimarken. Große, zig kleine oder gar keine Mahlzeiten, keine fixen Radio- und/oder Fernsehsendungen, kaum sportliche Betätigung oder nur dann, wenn zwischen 06:00 Uhr und 07:00 Uhr oder ab 20:00 Uhr Lust und Zeit bleiben. Kein spezieller Kinotag, sondern irgendwann, wenn es die Zeit zulässt. Kein geplanter Einkaufstag, sondern shoppen zwischendurch. Keine acht Stunden Schlaf.
Gefragt sind Entscheidungen. Nicht eine. Dutzende. Und das innerhalb von 24 Stunden. Sechs Stunden Schlaf weggerechnet (im Schnitt – variabel).
Schon 1994 (!), der Mobiltelefonwahn war noch ein Marktbaby, wird ein interessantes Wort geboren: die (mobile) Multioptionsgesellschaft (als Titel eines Buches des damals 53-jährigen Schweizer Soziologen Peter Gross, Co-Autor Stefan Bertschi). Gross schreibt angesichts der auf den Markt kommenden Mobiltelefone schon vor einem Vierteljahrhundert – lange vor dem unmittelbaren Siegeszug des Handys und noch viel länger vor dem ersten Smartphone – von einer „endlosen und kompetitiven Ausfaltung neuer Möglichkeiten“ in modernen Gesellschaften. Und dass die Ausfaltung neuer Möglichkeiten nicht nur die Regale der Supermärkte und das Angebot an Dienstleistungen betreffe, sondern auch das Reich des Geistes. In keiner Sphäre sei der Bewohner einer solchen Gesellschaft vor den Optionen geschützt, die sich ihm darbieten würden. Dieser Bewohner sei aber nicht Opfer, sondern der Wille zum Mehr und zur Steigerung sei im Herz des modernen Menschen implantiert. Rund 20 Jahre später wird der bekannte deutsche Soziologe Hartmut Rosa von der „Steigerungslogik“ sprechen.
Dennoch kann in einem Punkt auch widersprochen werden. Implantiert oder eingemeißelt, wie Gross es an anderer Stelle auch formuliert, war dieser Wille zur Steigerung wohl nur in wenigen von uns. Zuerst mussten wir die Möglichkeiten sehen. Um das von permanent neuem Konsum geprägte, kapitalistische System aufrechterhalten zu können, mussten menschliche Bedürfnisse erzeugt werden, die eben nicht vorhanden waren. Natürlich kann man auch anhand dieser Betrachtungsweise nicht von „Opfer“ sprechen, aber letztlich unterliegt der menschliche Wille auch immer den Gegebenheiten des persönlichen Umfelds. Zumindest darf man es als sehr schwierig bezeichnen, die Kinder von heute komplett ohne Smartphone und Tablet oder ohne sonstige mobile Computerwelten durchs Leben ziehen zu lassen, will man doch seine Lieben abseits der Erziehung zu kritischem Konsumgeist auch nicht automatisch in eine Außenseiterisolation abgleiten lassen.