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2. SUBSTANZ UND STRUKTUR 1. Die Auseinandersetzung mit der cartesischen Tradition
ОглавлениеDas Zeitalter Leibniz’ steht, philosophiegeschichtlich gesehen, im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem cartesischen System. So ist auch das Leibnizsche Denken – mochten noch so viele Anregungen in ihm zusammenströmen – metaphysisch als Gegenzug gegen den Cartesianismus entstanden. Der cartesische Dualismus von res cogitans und res extensa hatte die begriffliche Einheit der Welt auseinandergerissen und die Möglichkeiten einer extrem idealistischen wie extrem materialistischen Lösung des ontologischen Problems eröffnet. Die Philosophie konnte bei diesem Dualismus nicht stehenbleiben, ohne ihre wesentliche Aufgabe, das Denken der Einheit, zu verleugnen. Erst die Rückführung der zwei Substanzen des Descartes auf einen Grund, aus dem sie hergeleitet werden können, vermochte die metaphysische Unruhe, die mit dem Zweifelsversuch des Discours de la méthode in das philosophische Denken gekommen war,1 endlich zu befriedigen. Der Okkasionalismus und der französische Materialismus, Spinoza und Leibniz sind die großen Versuche, die Zweisubstanzenlehre zu überwinden.
Leibniz hat als erster aus einem wesentlich modernen Geiste eine Kritik an Descartes vorgetragen. Er schreibt in einem Brief an Malebranche: „Descartes hat Treffliches gesagt; er besaß einen ungewöhnlich scharfsinnigen Geist. Doch man kann unmöglich alles auf einmal machen; so hat er nur gute Wege gewiesen, ohne bis zum Grund der Dinge zu dringen; und mir scheint, daß er von der wahren Analysis und von der allgemeinen Kunst der Erfindung noch sehr weit entfernt gewesen ist. Denn ich bin überzeugt, daß seine Mechanik voller Irrtümer steckt, daß er in seiner Physik voreilig zu Werke geht, daß seine Geometrie zu eng ist und daß man gegen seine Metaphysik alle diese Vorwürfe zusammen erheben kann.
Die Unvollkommenheit seiner Metaphysik haben Sie selber gezeigt, und ich bin darin Ihrer Ansicht, daß man unmöglich annehmen kann, eine Substanz, die nur Ausdehnung ohne Denken besitzt, vermöge auf eine Substanz zu wirken, die nichts als Denken ohne Ausdehnung ist. Doch glaube ich, daß Sie erst den halben Weg zurückgelegt haben und daß man daraus noch andere Folgerungen ziehen kann, als Sie gezogen haben. Nach meiner Meinung folgt aus dieser Unmöglichkeit, daß die Materie mehr ist als bloße Ausdehnung: was man, glaube ich, schlüssig beweisen kann.“2
In diesen Sätzen sind zwei entscheidende Gedanken zur cartesischen Philosophie enthalten. Zum ersten wird nämlich darauf hingewiesen, daß Descartes „gute Wege“ gezeigt hat, die sich von den nicht mehr zulänglichen Pfaden des überkommenen Philosophiebetriebes entfernten und die Methode eines ganz neuen, der anbrechenden Denkform der exakten Wissenschaftlichkeit gemäßen Philosophierens entwickelten. Die angefügte Kritik, die dem Inhalt des Systems von Descartes vorwirft, daß es „irrig, voreilig und eng“ sei, deutet gerade in dieser Wortwahl an, daß es in die Fehler des traditionellen Schuldenkens zurückfalle – voreilig, weil Descartes die Weite seines eigenen, neuen methodischen Ansatzes nicht ausgeschritten hat; eng, weil er in Vorurteilen, Ungewißheiten und Fruchtlosigkeiten steckenblieb;3 irrig, weil er aus diesen Gründen eine Reihe von nachweislich/falschen Behauptungen aufstellte.
Zum zweiten zeigt jedoch die in diesem Brief ausgesprochene positive Ergänzung der Kritik an Descartes, daß es Leibniz darauf ankam, den Dualismus der Zweisubstanzenlehre aufzuheben und den Nachweis zu liefern, daß das Wesen der Substanz einheitlich gedacht werden müsse. Gerade die Isolierung der res extensa von der res cogitans müsse zu einer der Wirklichkeit nicht entsprechenden Aufspaltung des Seins führen. Befindet sich Leibniz auf der Hälfte des Weges mit Malebranche im Einklang, so zeigt der über diesen hinausführende Hinweis, im zweiten Teil des betreffenden Absatzes dieses Briefes, daß er nicht einer letzten Endes idealistischen Lösung zuzustimmen geneigt ist. Vielmehr will er die Materie als etwas anderes denn als mechanische, durch pure extensio gekennzeichnete Masse begriffen wissen, womit er auf seine Auffassung vom entelechialen Charakter der Materie hinweist, die besagt, daß Materie aus Masse und Kraft, das heißt aus Ausdehnung und Bewegung bestehend zu verstehen ist. Gerhard Hess stellt sehr richtig fest: „Für Leibniz ist das Gespräch mit Malebranche eine dauernde Auseinandersetzung mit dem cartesischen Dualismus und mit der Persönlichkeit des großen französischen Philosophen selbst.“4 Der Kern dieser Auseinandersetzung wird bereits in dem Brief vom 2. Juni 1679 getroffen, in dem es heißt: „Darum wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie gelegentlich meine Zweifel über die folgenden Sätze zerstreuen könnten: erstens, daß Materie und Ausgedehntes ein und dasselbe sind; zweitens, daß der Geist ohne Bindung an einen Körper bestehen kann; drittens, daß die Begründungen, die Herr Descartes für das Dasein Gottes gibt, tauglich sind; viertens, daß alle Wahrheit vom göttlichen Willen abhängt; fünftens, daß die cartesische Begründung der Brechungsproportion richtig ist; sechstens, daß immer die gleiche Menge Bewegung in den Körpern erhalten bleibt.“
Unter diesen sechs Fragen an Malebranche sind die zweite, dritte und vierte von besonderer Bedeutung. Der Zweifel daran, daß der Geist ohne Bindung an einen Körper bestehen könne, widerlegt die in der Philosophiegeschichtsschreibung vorgetragene Behauptung von dem reinen Idealismus (Spiritualismus) des Leibnizschen Systems. Im weiteren Verlauf seiner Denkentwicklung, die wir hier in ihren ersten Stufen zu fassen bekommen, präzisiert Leibniz diesen Standpunkt immer schärfer: Kein Geist, der nicht an eine Materie als Bedingung seiner Existenz gebunden wäre! Diese These zeigt, daß die Monade gerade nicht als bloß Bewußtseinsmäßiges verstanden werden darf, wenn man den Intentionen des Philosophen gerecht werden will. Der Zweifel am ontologischen Gottesbeweis macht deutlich, daß das Leibnizsche System weltimmanent ausgerichtet ist. Diese Tatsache wird unterstrichen durch den Zweifel an der Abhängigkeit der Wahrheit vom göttlichen Willen. Die Überzeugung, daß jede Wahrheit unabhängig von Gott eine Wahrheit und auch für diesen verbindlich ist, hat Leibniz nie aufgegeben.
Die herangezogenen Briefstellen klären das Verhältnis des Leibnizschen Denkens zur cartesischen Philosophie. Sie zeigen, daß hier eine begriffliche Erfassung von Welt angestrebt wird, die den Dualismus von res extensa und res cogitans überwinden soll. Das Leibnizsche Problem ist die Wiederherstellung der Einheit der Welt im philosophischen Weltbild. Eine solche Zielsetzung begegnete in der ideologischen Situation des 17. Jahrhunderts manchen sachlichen Schwierigkeiten. Die Fortschritte der Naturwissenschaften hatten das metaphysische Weltbild der Scholastik erschüttert, aber mehr noch als das, sie hatten den begrifflichen Apparat dieses Denkens entwertet. Die Philosophie zog daraus die Konsequenzen, wie ein Blick auf die Polemiken von Descartes, Hobbes, Locke, vorher schon von Montaigne und Bacon zeigen kann. Jedes metaphysische Problem mußte neu formuliert werden, oft wurde es ganz neu gestellt. Alte Denkmittel waren untauglich geworden. Eine Vielzahl von neuen methodischen Mitteln bot sich an und harrte der Auswertung, aber auch noch der Vereinheitlichung. Leibniz nennt drei solcher Möglichkeiten des Denkens mit ihren typischen Vertretern: „Galileis Größe besteht in der Kunst, die Mechanik zur Wissenschaft zu machen; die des Descartes beruht darauf, durch schöne Vermutungen die Ursachen der natürlichen Wirkungen zu erklären … Archimedes aber besaß, wenn wir der Überlieferung Glauben schenken dürfen, eine Gabe, die beiden abging: einen hervorragenden Verstand in der Erfindung von Maschinen, die für das Leben von Nutzen sind.“5 Exakte Theorie, spekulative Hypothetik und wissenschaftlich fundierte Praxis bieten sich als gleich zulängliche – aber noch uneinheitliche, einseitige – Formen der Wirklichkeitserkenntnis an. Hinzu kommen die umwälzenden neuen Erkenntnisse auf dem Gebiet der reinen Mathematik, an deren Entwicklung Leibniz selbst entscheidenden Anteil nahm. Wie hoch Leibniz diesen Anteil einschätzte, geht aus einem Brief an de la Chaise vom Mai 1680 hervor: „Ich glaube, man kann heute sagen, daß die reine Mathematik, die Zahlen, Figuren und Bewegungen umfaßt, nun vollendet ist; das übrige wird nur eine Übung für junge Leute sein, sich im Denken zu schulen.“ Aus der Mannigfaltigkeit des von der Forschung Eröffneten die Einheit der Welt hervorscheinen zu lassen, mußte als eine nahezu unlösbare Aufgabe gelten. Leibniz wagte in immer neuem Ansatz ihre Lösung. Gerade weil ihm jedes Wissensgebiet vertraut war, weil er jedes Einzelfaktum der Wirklichkeit in seinem System berücksichtigen wollte, wurde sein Blick auf ganz ungewohnte Zusammenhänge gerichtet. Das Denken der Einheit wurde erschwert durch den Mangel an Einheit des Denkens. Die Fortbildung der Metaphysik litt unter Methoden, die ihren neuen Problemlagen unangemessen waren. Leibniz wußte um diese Schwierigkeiten und suchte auf unbegangenen Pfaden einen Zugang zum Zentrum der vielfältig erscheinenden Wirklichkeit, von dem her sich ihre Einheit offenbaren würde. Dabei wurde er zum Bahnbrecher und Vorläufer, der Hindernisse und Traditionen aus dem Wege räumte und Markierungspunkte des Denkens aufstellte, an denen sich Spätere orientieren konnten. Hegel wird dann den von Leibniz gebahnten Pfad als breite Straße beschreiten können.
Es wird zu zeigen sein, wie Leibniz das Verständnis vorbereitet, daß die Welt in ihrer Widersprüchlichkeit als eine, als unteilbare begriffen werden kann; wie er als erster neuzeitlicher Denker das logische Schema und das ontologische Prinzip der Realdialektik des Seienden zu entwerfen versucht und damit die Voraussetzungen für die Ausbildung der transzendentalen Dialektik bei Kant, der Naturdialektik bei Goethe, der logischen und geschichtlichen Universaldialektik bei Hegel schafft.