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2. Die Einheit der Welt
ОглавлениеDie Frage nach der Einheit der Welt bleibt der Philosophie des Leibnizschen Zeitalters vordergründig oder verdeckt. Fragt etwa der Empirismus – voran Thomas Hobbes – nur nach dem ontischen Zusammenhang des Vielen, so bleibt da, wo ontologisch nach der Bedingung der Möglichkeit der Einheit gefragt wird, diese im scholastischen Formalbegriff des unum ens befangen und stößt nicht in den Bereich der Grundlagenproblematik vor, die Einheit und Vielheit in einem begreifen müßte.
Hier setzt Leibniz ein: „Was nicht wahrhaft ein Sein ist, das ist auch nicht wahrhaft ein Sein.“6 In dieser Formulierung umreißt Leibniz sein Problem: das Wesen des Seins vom Wesen der Einheit her zu denken. Die Einheit aller erscheinenden Mannigfaltigkeit ist letzten Endes die Einheit der Welt in sich. Mit dem ontologischen Ansatz, der diese Einheit zur Bedingung des Seins macht, wird der notwendige Bezug der Welt auf eine sie begründende Transzendenz aufgehoben. Das eine Sein, als welches die Welt im Ganzen die Vielheit der Seienden in sich schließt und trägt,7 ist eben als Sein keines weiteren Seinsgrundes mehr bedürftig; es begründet sich selbst. Die Autonomie des Seins tritt an die Stelle der Heteronomie der Kreatur. Wird aber diese Autonomie bei Descartes als eine des Denkens konstituiert, so versteht Leibniz sie ganz real als das esse per seipsum der Welt, die ein räumlich wie zeitlich unendliches Ganzes ist (auf die Aporie, die im Begriff eines unendlichen Ganzen liegt, werden wir im nächsten Abschnitt noch zu sprechen kommen). Der Leibnizsche Ansatz hebt, anders als der cartesische, die Rolle der Theologie als Grundlegungsdisziplin für die Philosophie auf.
Einheit wird traditionell unter dem Titel der Substanz begriffen, ja sie erweist sich geradezu als der entscheidende Index der Substantialität. Nur das kann als Substanz bezeichnet werden, was sich durch die Einheit seiner selbst ausweist. Die ontologische Herkunft dieses Substanzbegriffs führt auf die Atomistik und die Elementenlehre, letzten Endes sogar auf den parmenideischen Seinsbegriff zurück. Leibniz greift jedoch weit über das am klassischen Schema der Substanz orientierte Denken des Seins hinaus. Sein und Einheit werden thematisch in einem Sinne, der erst in der neuesten Zeit überhaupt und nun allerdings auch zentral in das Blickfeld philosophischer Betrachtung gerückt ist. Dieser oberste Allgemeinbegriff, von dem her die Einheit des Seins und das Sein der Einheit erschlossen wird, heißt in der neueren Philosophie Struktur. Definieren wir Struktur als Inbegriff aller möglichen wechselseitigen Beziehungen, die die Glieder eines gegebenen Zusammenhangs miteinander verbinden und die eben diese Glieder ihrem Wesen nach bestimmen – so ergibt sich, daß der Strukturbegriff zunächst nichts anderes ist als ein Formbegriff, der jedoch impliziert, daß diese Form ein wesentliches Seinsverhältnis ist, also an einem Stoff ansetzt und ihn gliedert, ordnet und ihn so in die Welt treten läßt.8 Es gibt in diesem Sinne nichts Ungeformtes, alles Seiende wird erst durch die Form, die ihm innewohnt, zu einem solchen; ja es bringt aus sich, das heißt aus dem Stoff, die Form hervor, als eine Einheit von Substanz und Struktur, deren Untrennbarkeit noch im weiteren untersucht werden wird. Leibniz faßt das Wesen der „Struktur“ (wenn auch dieser Terminus bei ihm noch nicht auftaucht) viel radikaler, als es die modernen „Strukturtheoretiker“ vermögen, deren Strukturbegriff aus isolierten ontischen Teilzusammenhängen erwachsen ist. Sein Strukturbegriff (als „substantielle Form“ bezeichnet, wie wir gleich des näheren sehen werden) besagt nämlich, daß alle Verhältnisse, in die Seiendes eingeht, gerade dieses Seiende erst sein lassen, und daß diese Form der Verhältnisse die Einheit des Seins ist. In dem Begriff der Struktur als Sein der Einheit wird zugleich die Einheit des Seins ergriffen. Denn alles Seiende ist eben schon in übergeordnete Strukturen eingefügt und nur innerhalb ihrer überhaupt existent. Der oberste konkrete Strukturbegriff ist dann Welt, wobei Welt nichts anderes ist als der Inbegriff aller wirklichen und möglichen wechselseitigen Bedingungen und Beziehungen, die innerweltlich Seiendes miteinander verbinden und es seinem Wesen nach bestimmen. Welt ist die letzte und oberste Einheit alles Wirklichen, außer ihr kann es nichts mehr geben. Leibniz kann allerdings auch von vielen möglichen Welten sprechen, die als formal möglich anstelle unserer Welt denkbar wären, sozusagen als alternative Strukturmodelle des Ganzen. Diese möglichen Welten sind jedoch nur als numerische Vielzahl denkbar, aber qualitativ inhaltlich nicht vorstellbar, weil jeder Vorstellungsinhalt ja schon innerhalb unserer wirklichen Welt gewonnen wird. Daneben gibt es dann engere, also weiter konkretisierte Strukturbegriffe, die kleinere, näher miteinander verknüpfte Einheiten meinen. Für solche enger gefaßten Strukturen ist diese wirkliche Welt dann ein Oberbegriff, der den Rahmen ihrer Möglichkeiten absteckt. Im Hinblick auf innerweltliche Struktureinheiten ist Welt der Inbegriff aller ihrer Möglichkeiten.
Wenn Leibniz das Seiende in seinem Sein begreifen will, dann bleibt für ihn jedoch der reine Strukturbegriff zu eng. Denn als Formbegriff, wenn auch wesentlicher Formbegriff, ist er nicht geeignet, die Faktizität des Seienden zu begreifen, die dem umfassenderen Begriff der Realität zugrunde liegt. Die Form soll zusammen und als eins gedacht werden mit der Materie, um eben jene durch das Denken vollzogene Spaltung der Wirklichkeit wieder zurückzunehmen. Es mußte also ein Begriff gefunden werden, der das sich in der Struktur Strukturierende, zugleich aber auch das in der Struktur Strukturierte umfassen konnte. Denn nach der Voraussetzung einer autonom seienden Welt, die in der These von der Untrennbarkeit von Einheit und Sein enthalten ist, muß ja das Erste, welches aus sich heraus die Form produziert und sich also eine Struktur gibt, zugleich das Resultat sein, der Gegenstand der Struktur, mithin das Geformte. Das sich Strukturierende ist auch das Strukturierte, in jedem Falle nämlich die Welt im Ganzen. Für diesen komplizierten Sachverhalt bietet sich Leibniz der Substanzbegriff an, den er, begrifflich abgewandelt, seiner Ontologie zugrunde legte. Substanz ist das, was als stoffliches Gliedstück in die Struktur eingeht, zugleich aber auch das, was als Totalität der Gliedschaften selbst Struktureinheit ist: Sie ist Substrat der Struktur wie deren Vollendung. Damit ist ein dialektischer Begriff von Substanz intendiert. Es wird nämlich Substanz einmal als Aufbauelement der Struktur, zum andern als Resultat begriffen. In dieser die Hegelsche Ontologie vorwegnehmenden Formulierung des Substanzproblems bleibt die Welt als oberste Struktur letztlich die einzige echte Einheit, die nicht zugleich Teil (also Glied einer höheren Struktur und damit nicht abgeschlossene, nicht absolute Einheit) ist. Der Organismusgedanke dominiert und kulminiert schließlich in der Auffassung der Welt als eines höchsten, äußersten Organismus. Nun ist aber andererseits das unmittelbar Reale gerade nicht dies unendliche Weltganze, sondern der endliche, begrenzte, faßbare Teil, das Individuum (nicht das Atom im mechanistischen Sinne, welches Leibniz immer als eine reine Gedankenkonstruktion zurückweist). Dann wäre also – so müssen wir hier fragen – die Welt doch keine wesentliche Einheit, sondern nur ein Konglomerat von vielen selbständigen Einzelwesen? Hier entsteht aus dem Widerspruch von vielen endlichen Seienden und einem unendlichen Sein des Ganzen eine Schwierigkeit, an der das philosophische Denken vor Leibniz scheiterte. Die Leibnizsche Metaphysik geht nun gerade darauf aus, dieses Dilemma aufzulösen. Es wird gefragt, wie die aus Individuen zusammengesetzte Welt dennoch eine echte Einheit bilden und diese Einheit selbst wieder Individuum sein könne, ohne daß in ihr ihre Glieder den Charakter der Individualität verlieren. Die Antwort auf diese Frage ist die Ausbildung einer Metaphysik, in der substantielle und strukturelle Einheit ständig verflochten werden, um in einem zu begreifen, was das Substanz-Denken nur getrennt darzustellen vermag. Den ersten Schritt dazu bietet die vielgliedrige, dialektisch verstandene Schichtung von Substanzen, also die Dialektik von Substanz und Substanz (das Gegeneinander und Zueinander einzelner, voneinander unabhängig gedachter Seiender).
Die Welt stellt sich nämlich als ein Gefüge aus einer Vielzahl von Einzelseienden dar, die ohne Verletzung ihres Soseins nicht weiter zerlegt werden können, die also im echten Sinne Individuen und für Leibniz folglich auch Substanzen sind. Diese Substanzen treten nun in einen Wirkungszusammenhang, innerhalb dessen jede mit jeder in einer näheren oder ferneren, immer aber komplex zu denkenden Beziehung steht, wobei man in alltäglicher Rede sagen darf, daß eine Substanz auf die andere einwirke. Leibniz besteht darauf, daß eine solche Aussage nur uneigentlich gelte, da sie eine isolierte Einwirkung einzelner Substanzen aufeinander behaupte, während „in metaphysischer Strenge“ eigentlich nur von einem (noch näher zu erläuternden) Wirkungszusammenhang des Ganzen gesprochen werden dürfe, da jeder jederzeit mit allem verknüpft sei.
So schlägt der in der Erscheinungswelt konstatierte Nexus, der im Kausalgesetz seine angemessene Formulierung findet, in eine umfassendere Verknüpfung um. Nicht Einzelsubstanzen stehen in einer widerstrebenden oder konkordierenden Beziehung, sondern die Gesamtheit der Substanzen befindet sich in allseitigem Abhängigkeitsverhältnis voneinander. (Das omnia ubique des Nikolaus Cusanus wird hier konkretisiert.) Die Gesamtheit der Substanzen, die Totalität, erweist sich somit selbst wieder als eine Einheit nicht von zufällig, sondern von notwendig Verbundenen, sie ist mithin ihrerseits eine Substanz. Die Tatsache also, daß alles, was ist, zu allem anderen, was ist, in Beziehung steht (weil es kein beziehungsloses Seiendes geben kann, sobald es mehr als ein Seiendes gibt), verbürgt die Substantialität der Welt als Einheit dieser Beziehungen.
Nun sind diese Einzelsubstanzen in der Welt indessen nicht nur in ihrer Vereinzelung aufeinander bezogen, sondern selbst wieder in höhere Komplexe eingebunden, deren Teile sie bilden und die untereinander wieder die verschiedensten Verhältnisse eingehen, aber andererseits auch zu den niederen, das heißt weniger komplexen Substanzen, und zu den höheren, das heißt komplexeren Gebilden in besonderen Relationen stehen. So ergibt sich in der Welt eine Beziehungsmannigfaltigkeit, die zugleich sich als eine verschieden geartete Schichtung vom weniger Organisierten zum mehr Organisierten hin auffassen läßt. Zieht man als Vergleich und Anschauungsobjekt zum Beispiel die menschliche Gesellschaft heran, so ergibt sich in dieser folgendes Bild: Zunächst können alle Einzelmenschen zueinander in individuelle Beziehung treten; sodann können Menschen als Angehörige bestimmter, gemeinsam operierender Gruppen mit anderen Gruppen in Zusammenhang stehen, also etwa als Fußballmannschaften. Dieselben Menschen, die diesen Mannschaften angehören, sind aber zugleich Glieder anderer, übergeordneter Gruppen, zum Beispiel von Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und so weiter, die ihr Verhalten gemäß den geltenden Normen dieser Körperschaften regeln. Schließlich sind alle diese Einzelmenschen Bürger von Staaten und stehen als solche in spezifischer Beziehung zu Bürgern anderer Staaten und so weiter. So ergibt sich ein höchst komplexes Bild des Zusammenhangs der Individuen und Individuenverbände, wobei immer eine höhere, übergeordnete Schicht die niedere Schicht in sich aufnimmt, aber ihrerseits auch wieder mit der niederen Schicht, das heißt mit den Individuen in ihr, in bestimmten Wechselwirkungen steht. Und schließlich überschneiden und übergreifen sich auch noch Komplexbindungen, wie zum Beispiel die Klassenzugehörigkeit und die Staatsbürgerschaft. Dieses Bild läßt sich nun analog auf den Aufbau der Substanzen übertragen, so daß sich auch hier eine Dialektik zwischen Einzelsubstanzen als solchen und zwischen den verschiedenen komplexen substantiellen Gebilden ergibt. Wir sprechen in diesem Fall von einer Dialektik zwischen Substanz und Substanz.
Von Dialektik aber dürfen wir sprechen, weil es sich dabei nicht um eingleisige Beziehungen, ja nicht einmal um reine, ungestörte Wechselwirkungen handelt. Vielmehr erweist sich, daß die miteinander in Beziehung tretenden substantiellen Gebilde zwischen sich Widersprüche erzeugen, die auf das Sosein ihrer selbst zurückwirken. Diese Einwirkung von Substanz auf Substanz vollzieht sich also in Gegensätzen, die nicht ohne Wirkung auf die Beschaffenheit der Substanz selbst bleiben. Um noch einmal unser Beispiel zu strapazieren: Der Einzelmensch, der als Staatsbürger im Verbande einer Armee gegen die Bürger eines anderen Staates zu Felde zieht, verhält sich anders, empfindet anders, denkt anders, denn er es als Individuum tun würde. Ja, sein Verhalten, seine Empfindungen, sein Denken können in Widerspruch stehen zu dem, was er zugleich als Einzelner oder als Angehöriger einer Klasse fühlt und denkt. Hier zeigt sich deutlich, was mit dieser Dialektik der Substanzen, also mit der Realdialektik der Welt, gemeint ist. Im nächsten Kapitel werden wir darauf noch zu sprechen kommen.
Diese Dialektik setzt aber, insoweit sie eine solche zwischen verschiedenen Stufen der substantiellen Wirklichkeit ist, wiederum eine vorgängige Strukturierung der substantiellen Wirklichkeit voraus. Es muß also schon solche überlagernden Strukturen geben, in die die Individuen eingebettet sind, damit zwischen den komplexen Gebilden und den Individuen widerspruchsvolle Beziehungen entstehen können. In solchen höheren Gebilden verliert das Individuum seine Selbständigkeit, also die Voraussetzung seiner Substantialität. Andererseits ist es nur innerhalb einer solchen übergeordneten Ganzheit überhaupt wirklich – wie leicht daraus zu ersehen ist, daß die höchste dieser übergeordneten Ganzheiten die Welt ist. Ohne Welt aber gäbe es eben auch kein Individuum. In diesen übergeordneten Gebilden aber verliert, so sagten wir, das Individuum unter Umständen seine individuelle Selbständigkeit, es ergibt sich also ein Widerspruch nicht nur zwischen den Substanzen als gegeneinander wirkenden Einheiten einer Relation, sondern ebenso auch zwischen der normativen Funktion der überlagernden Struktur als solcher und den Substanzen als Einzelwesen. Da aber diese Struktur, deren normative Funktion hier in Widerspruch zum Sein des Einzelnen treten kann, wiederum selbst nichts anderes ist als die Ordnung der Einzelseienden in ihrer Beziehung aufeinander, entspringt diese weitere Dialektik, die von Struktur und Substanz, auf dem Grunde der zuvor behandelten, der von Substanz und Substanz.
Dieses komplexe Verhältnis erfordert nun die Ausbildung eines begrifflichen Apparats auf höherer Ebene. Nicht nur zwischen verschieden strukturierten „Stufen“ der Substantialität besteht ein dialektischer Bezug, indem die eine in anderen aufgehoben wird, sondern ebenfalls zwischen Substanz und Struktur, und zwar wiederum in einer komplexen Weise: einerseits, indem die Dialektik zwischen Substanz als Glied und Substanz als Totalität selbst wieder Strukturmerkmal ist, andererseits, indem in der strukturellen Ansicht des Seienden sein substantieller Charakter aufgehoben wird, während umgekehrt die Ansicht des Seienden als Substanz sein Struktursein aufhebt. Letztlich muß aber beides in einem gesehen werden. Diese komplexe Dialektik von Substanz und Struktur, die sich in den zwei Ansichten ein und desselben manifestiert, faßt Leibniz unter dem Titel Monade. Indem wir im folgenden diesen Schlüsselbegriff der Leibnizschen Metaphysik auseinanderlegen, gewinnen wir einen ins Zentrum führenden Zugang zu seiner Ontologie.