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4. Die Perzeption

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Die drei Begriffe, die das Wesentliche der monadischen Substanz erläutern, sind perceptio, appetitus und repraesentatio mundi. Von diesen gibt die repraesentatio mundi die umfassende Bestimmung des Inhalts der Monade; sie wird hervorgebracht durch die Seinsweisen, kraft deren das Seiende ist. Wenn wir den Ursprung der repraesentatio mundi denken wollen, so müssen wir die Idee von perceptio und appetitus näher zu bestimmen versuchen.

„Der vorübergehende Zustand, der eine Vielheit in der Einheit oder in der einfachen Substanz einschließt und darstellt, ist nichts anderes als das, was man die Perzeption nennt, die man sehr wohl von der Wahrnehmung oder dem Bewußtsein unterscheiden muß, wie im folgenden sich zeigen wird.“ (Mon., cap. 14, KS, S. 445)

Hier, wo Leibniz den Begriff der perceptio in systematischem Zusammenhang einführt, weist er sofort darauf hin, daß damit nicht etwa ein psychologisch-erkenntnistheoretisches Moment gemeint ist, sondern ein das Sein des Seienden betreffender Strukturtitel. Dieser besagt, daß eine Vielheit unter dem Gesichtspunkt der Einheit begriffen wird. „Vorübergehend“ wird dieser „Zustand“, der mit perceptio bezeichnet wurde, deshalb genannt, weil der Gesichtspunkt der Einheit ein zeitlicher, wandelbarer ist. Exakt ausgedrückt besagt das, daß in jedem Augenblick die perceptio eine andere ist als im vorhergehenden, daß also die Strukturiertheit der Substanz sich dauernd verändert.

„Da jeder gegenwärtige Zustand einer einfachen Substanz auf natürliche Weise eine Folge ihres vorhergegangenen Zustandes ist, derart, daß die Gegenwart ihrerseits mit der Zukunft schwanger geht …“ (Mon., cap. 22, KS, S. 449) – da dies so ist, muß jede perceptio einem kontinuierlichen Ablauf eingeordnet sein. Damit ist zunächst die Einheit und Gesetzlichkeit des in der Monade vorgehenden Geschehens gesichert. Dieses wird nicht willkürlich hervorgebracht, sondern ist Folge des Vergangenen und Ursache des Zukünftigen. Der ursprüngliche Gesichtspunkt der Einheit wird auch in der Bewegung festgehalten, und zwar so, daß die Bewegung als Ablauf in sich gerade die Einheit darstellt. Das ist dialektisch gedacht, insofern unterschiedliche, im Extremfall gegensätzliche Momente als Eines verstanden werden. Ja selbst der äußerste Formalgegensatz von Vielheit und Einheit wird wiederum in der Einheit der perceptio aufgehoben.

Die Perzeptionen werden nicht als psychisch-menschliche, sondern als universal-weltliche Bestimmungsmomente aller Substanzen gedacht. „Wenn wir all das Seele nennen wollen, was Perzeptionen und Strebungen in dem allgemeinen Sinne besitzt, den ich soeben erklärt habe, könnten alle einfachen Substanzen oder geschaffenen Monaden Seelen genannt werden; da aber Empfindung etwas mehr ist als eine einfache Perzeption, so bin ich einverstanden, daß der allgemeine Name Monaden oder Entelechien für die einfachen Substanzen hinreicht, die nur eine bloße Perzeption haben, und daß man allein diejenigen Seelen nennt, deren Perzeption deutlicher und mit Erinnerung verbunden ist.“ (Mon., cap. 19, KS, S. 447)

Das heißt: Alle Substanzen, die in irgendeiner Weise als einheitlicher Organismus gebildet sind, stehen in einer perzipierenden Beziehung zu ihrer Umwelt. Sie nehmen diese Umwelt in ihrer wandelbaren und sich dauernd wandelnden Vielheit in sich auf und spiegeln sie wider. Kein Einzelding ist von den anderen isoliert, sondern steht mit allen in einem wechselseitigen Bedingungszusammenhang; und gerade in seiner besonderen Eigenheit, kraft deren es als Substanz zu gelten hat und unverwechselbar dieses eine Seiende ist, wird es durch seine Beziehung zur Welt der anderen Einzeldinge bestimmt. Leibniz konzipiert so einen Weltbegriff, der nicht nur als Totalität einer unendlichen Vielheit von Einzelnen gedacht wird, sondern ebenso alle Einzelnen in sich schließt wie auch in jedem Einzelnen eingeschlossen ist. Dadurch erweist sich die Welt nicht als eine zufällige Summe von beliebigen Gliedern, sondern als ein notwendiges Gefüge, das selbst wieder als substantielle Einheit, als monadische Struktur angesprochen werden darf. Wir werden sehen, daß der Begriff der höchsten Monade, der der monas monadum, gerade diesen obersten Weltbegriff meint.

Das Perzipieren ist also ein allgemeiner Vorgang jedes substantiell Seienden und meint, daß das Perzipierende in einem bestimmten Sinne das Perzipierte in sich aufnimmt. Jedoch sind es vorwiegend die höheren Perzeptionen, die des menschlichen Bewußtseins, an denen der allgemeine Sinn der perceptio erläutert wird. Diese Bevorzugung der psychologisch-erkenntnistheoretischen Beispiele (das heißt des Sonderfalls der Apperzeption) bedeutet jedoch nichts anderes, als daß an ihnen die einsichtigsten Analogien zum Wesen jeglichen Seins abgelesen werden können. Die bewußte Perzeption (die Apperzeption) ist ein Modellfall für alle Arten Perzeption, ohne daß darum diese anderen Arten ebenfalls Bewußtseinscharakter tragen müßten. Daß auf Bewußtseinsvorgänge abgehoben wird, ist ein methodisches Vorgehen und sagt nichts aus über den tatsächlichen Gehalt der exemplifizierten perceptio, die an sich, wie von Leibniz immer wieder im Zusammenhang solcher Beispiele hervorgehoben wird,10 einen allgemeinen ontologischen Sinn hat.

Das Bewußtsein und seine Leistungen stehen nicht außerhalb des Weltgefüges und ihm gleichsam gegenüber, sondern sind gerade dessen höchste, komplizierteste Bildungsstufe. Das berechtigt zu der analogischen Entfaltung der Seinsbildung am Beispiel des Bewußtseins, wenn wir dabei stets im Auge behalten, daß wir den Bereich des realen, weltlichen Seins nicht verlassen. Wenn sich am Beispiel des Seelischen (des Bewußtseins) die Struktur der Welt erweist, so darum, weil das Seelische selbst in seinen Stufungen Spiegel der Welt ist, nicht etwa, weil die Welt Seelisches wäre. Hier setzt die Lehre von der unendlichen Abstufung der perceptio ein. Es ist nur ein roher Näherungswert, wenn im praktischen Gebrauch die perceptio confusa von der perceptio distincta unterschieden wird. Tatsächlich gibt es eine Fülle Abstufungen, die die „monade toute nue“ von der höchsten Bewußtheit der Monade trennen und beide verbinden. Es fragt sich nun, wie eine solche gleitende, kontinuierliche Niveauverschiebung innerhalb der Gesamtheit der Monaden als Strukturmoment verstanden werden kann.

Die Einheit einer Vielheit kann durch die Perzeption in verschiedener Weise ausgedrückt werden. Eine solche Einheit kann von einem zentralen Leitmotiv her erfaßt, in ihre Bestandteile zerlegt und gegliedert, als reichhaltiges Gebilde sich darstellen. In ihr wird sich das Viele dann in seinen wechselseitigen Beziehungen, Verknüpfungen und Verschränkungen offenbaren. Weil darin das Wesen der Einheit offenliegt, also deutlich wird, heißt die Perzeption, in der sie sich zeigt, perceptio distincta. Es wird aber alles, was in irgendeiner Hinsicht offenbar ist, in dieser Hinsicht als erkannt bezeichnet. Die perceptio distincta bezeichnet die Erkenntnis als die deutliche Weise des Ausgedrücktseins eines Seienden in einem anderen. Zugleich wird hier klar, wie Erkenntnis aus dem Sein des Erkannten entspringt.

Die Einheit einer Vielheit kann aber auch ungegliedert, nicht als Beziehung, Verknüpfung, Verschränkung, sondern einfach als Zusammenhang erscheinen. Auch dann ist das Viele noch in Einem umgriffen, ohne jedoch seinem Wesen nach als Einheit deutlich zu sein. Wie und warum gerade die Zusammenhängenden sich verbinden, bleibt verworren. Eine solche unklare Vereinheitlichung heißt perceptio confusa. Sie ist die allgemeine Form des Ausgedrücktseins des Seienden in anderem Seienden.

Perceptio confusa und perceptio distincta sind nicht einander wie durch einen Abgrund getrennt entgegengesetzt. Sie sind vielmehr die allgemeinsten Titel für die zwei großen Bereiche einer gleitenden Skala, auf der sich verschiedene Summationswerte von petites perceptions abzeichnen. Diese „kleinen Perzeptionen“ sind die eigentlichen Bausteine der Gesamtperzeption, durch die eine Monade im jeweiligen Augenblick bestimmt ist. „Sie bilden auch jene Eindrücke, die die umgebenden Körper auf uns machen und die das Unendliche in sich einschließen, jene Verbindung, die jedes Seiende mit dem ganzen Universum besitzt.“ (NA, S. XXV) In jeder dieser kleinen Perzeptionen nämlich drückt sich ein bestimmtes Moment des Weltganzen aus, insofern es zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Monade in Beziehung steht, die durch ebendiese kleine Perzeption ausgezeichnet ist. Indem eine Monade durch nichts anderes bestimmt werden kann als durch die Totalität derjenigen kleinen Perzeptionen, die die Gestalt ihrer jeweiligen Gesamtkonzeption ausmachen, liegt in ihnen das Wesen der Monade beschlossen. Und da das Wesen aus dem resultiert, was geworden ist, findet sich in der jeweiligen Gegenwart der Monade ihre gesamte Vergangenheit bewahrt. Da aber auch aus dem Wesen das Werdende sich entfaltet, steckt in der Gegenwart auch das Zukünftige eingeschlossen. „Man kann sogar sagen, daß vermöge dieser kleinen Perzeption die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergangenheit beladen ist, daß alles miteinander zusammenstimmt, wie Hippokrates sagte, und daß so durchdringende Augen wie die Gottes in der geringsten Substanz die ganze Abfolge der Dinge des Universums lesen könnten, quae sint, quae fuerint, quae mox futura trahantur.11 Diese unmerklichen Perzeptionen bezeichnen auch und konstituieren das identische Individuum, das durch die Spuren oder Ausdrucksformen charakterisiert wird, die sie von den vorhergehenden Zuständen dieses Individuums aufbewahren, wodurch sie die Verbindung mit seinem gegenwärtigen Zustand herstellen.“ (NA, Vorwort, S. XXV)

In dieser Rückführung der perceptio auf ihre Elemente, die petites perceptions, wird der Bauplan aufgedeckt, nach dem das Seiende konstruiert ist. Wenn wir festhalten, daß jede Perzeption nichts anderes ist als der Ausdruck einer bestimmten Verflochtenheit eines Seienden mit anderem Seienden und daß die perceptio einer Monade als Ganzes die Gesamtheit aller Beziehungen dieses einen Seienden zu allem anderen Seienden, im weitesten Sinne zur Welt, ausdrückt, so geht daraus hervor, daß jedes Seiende inhaltlich bestimmt wird durch seine Stellung in der Welt. Kein Seiendes ist isoliert, jedes ist mit dem Ganzen verknüpft. „Zudem ist jede Substanz wie eine ganze Welt und wie ein Spiegel Gottes oder vielmehr des ganzen Alls, das jede auf ihre Weise ausdrückt, etwa so, wie ein und dieselbe Stadt sich gemäß der verschiedenen Standorte dessen, der sie betrachtet, darstellt. Man kann sogar sagen, daß jede Substanz in gewisser Weise das Gepräge der unendlichen Weisheit und der Allmacht Gottes trägt und ihn nachahmt, soweit sie dazu fähig ist. Denn sie drückt, wenn auch verworren, alles aus, was sich im Weltall in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ereignet, was eine gewisse Ähnlichkeit mit einer unendlichen Perzeption oder Erkenntnis hat. Und da alle anderen Substanzen diese eine auf ihre Weise ausdrücken und sich ihr anpassen, kann man sagen, daß sie ihre Macht auf alle anderen in Nachahmung der Allmacht des Schöpfers ausdehnt.“ (Discours de Métaphysique, cap. 9, KS, S. 77/79)

Jedes Seiende ist also nur ein solches, insofern es getragen, bestimmt und bedingt wird durch die Gesamtheit alles Seienden, durch die Welt, und es bezieht sein individuelles, konkretes Sein durch die Art und Weise, wie es einmalig die Welt in sich zum Austrag bringt, das heißt aber, es wird als Seiendes bestimmt durch die in seiner konkreten, einmaligen, unverwechselbaren Lage gegebene Beziehungsmannigfaltigkeit, die sich in ihm zur Einheit konstituiert. Diese Konstituierung der Einheit einer Beziehungsmannigfaltigkeit ist aber zu begreifen unter dem Titel Struktur. Diese Struktur ist die Form, in der das Ganze der Welt als Beziehungstotalität aller Seienden in ihrem Verhältnis zu diesem einen und einmaligen Einzelseienden (zu dieser Monade) von ebendieser Monade aufgenommen und widergespiegelt wird. In dem Akt der Widerspiegelung (und nur darin, nicht aus sich selbst allein) gewinnt das Einzelseiende seinen Substanzcharakter.

Die Substantialität des Seienden entspringt auf dem Grunde seiner Struktur. Wenn Leibniz verschiedentlich von „substantiellen Formen“ spricht, so hat er diesen Sachverhalt im Auge, den wir hier allerdings erst von einer Seite erfassen. Die andere Seite dieses komplexen dialektischen Verhältnisses – den Ursprung der Struktur aus dem Grunde der Substanz – müssen wir später entwickeln. Hier, in der perceptio, tritt Substantialität zunächst als Resultat der Struktur auf; es erweist sich damit die Richtigkeit der zweiten Hälfte unserer oben aufgestellten These, die lautete: Es wird Substanz nämlich einmal als Element der Struktur, zum anderen als deren Resultat begriffen.

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