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6. Die Spiegelung der Welt
ОглавлениеAuf dem Boden des in der Auslegung von perceptio und appetitus gewonnenen Begriffs der monadischen Substanz kann nun daran gedacht werden, den Weltbegriff der Leibnizschen Philosophie herauszuarbeiten. Dieser trägt zugleich die Auflösung der Aporien der Einzelsubstanz in sich. Die Summe aller Perzeptionen einer Monade im jeweiligen Augenblick, die jeweilige Gesamtperzeption und der in ihr jeweils auf ein bestimmtes Ziel gerichtete appetitus bestimmen das Sein der Monade in concreto. Dieser konkrete Inhalt des monadischen Seins unterliegt fortwährenden Veränderungen. Die innere Kontinuität dieser Veränderungen, die die Identität der Substanz konstituiert, wird gewährleistet durch die Aktivität des appetitus, die eine Verflochtenheit der Monade mit der Welt im Sinne eines wechselseitigen Wirkens und Bewirktwerdens bedingt. Die Gesamtheit aller Beziehungen, in denen die Monade ihre Weltverflochtenheit erfährt (nicht nur momentan, sondern in der zeitlichen Erstreckung ihres Verlaufs), werden als repraesentatio mundi gekennzeichnet.
Damit findet die Vielheit der perceptiones, die bislang nur in der äußerlichen Einheit ihres gemeinsamen Auftretens in einer Monade verbunden waren, nunmehr eine wesentliche Einheit: Alle Einzelperzeptionen werden als Glieder eines Ganzen begriffen, von dem die jeweilige Gesamtperzeption einer Monade nur eine Teilansicht liefert. Die Perzeptionen gewinnen ihren Sinn vom Ganzen der Welt her. Jede Monade wird bestimmt durch die ihr eigene repraesentatio mundi und umfaßt so die ganze Welt, wenn auch in individueller Weise, insofern die Struktur dieses Umfassens durch die einzigartige Lage jeder Monade bedingt und demgemäß individuell abgewandelt ist. Immer bleibt aber der Horizont des Ganzen erhalten. „Zudem ist jede Substanz wie eine ganze Welt und wie ein Spiegel Gottes oder vielmehr des ganzen Alls, das jede auf ihre Weise ausdrückt, etwa so, wie eine Stadt sich gemäß der verschiedenen Standorte dessen, der sie betrachtet, darstellt. So wird das All auf gewisse Weise ebenso oft vervielfältigt, wie es Substanzen gibt …“ (Discours de Métaphysique, cap. 9, KS, S. 77/79)
Dieses Problem, das im Hinblick auf die darin angelegte Gewinnung eines wesentlichen Weltbegriffs ontologisch und nicht erkenntnistheoretisch verstanden werden muß, hat Leibniz unter dem allgemeinen Titel „Perspektivität“ behandelt. Diese bezeichnet also die Einzigartigkeit der Weltverflochtenheit der Monade, insofern jede Monade ihren einzigartigen Standpunkt hat, da „es nicht wahr ist, daß zwei Substanzen sich gänzlich gleichen und solo numero (allein der Zahl nach) verschieden sind“, wie es im selben Paragraphen des Discours de Métaphysique heißt. Die Monade ist in der repraesentatio mundi doppelt gegründet: als eine einheitliche und als eine selbständige (individuelle). Diese Bedeutung der repraesentatio mundi als gründende faßt Leibniz unter dem Bild des Spiegels, das die Struktur des „Gründens“ darstellen soll.
In der Spiegelung ist das Gespiegelte zur Einheit zusammengefaßt und das Wesen der Verbindung der Teile sichtbar. Das Spiegelbild wird jedoch stets von jedem möglichen Betrachtungsort aus verschieden erscheinen, da es den Wirkungen der Perspektive unterliegt. (Discours de Métaphysique, cap. 9, KS, S. 77/79)
In der repraesentatio mundi wird nunmehr ein ganz bestimmter Weltbegriff entwickelt, der auf den Strukturcharakter von Welt und auf das dialektische Verhältnis von Einzelsubstanz und Weltsubstanz bezogen ist. In der Welt vorhanden sind Einzelsubstanzen, die miteinander konstruktive Verbindungen eingehen, also höher organisierte Einheiten bilden können, aber auch in ihrer Einzelheit substantielle Einheiten darstellen. Die Gesamtheit dieser Einzelseienden ist ein Ganzes, insofern diese in einem naturgesetzlichen Zusammenhang stehen. Da die Zahl aller Einzelseienden unendlich oder doch mindestens sehr groß ist, entzieht sich dieser vorwissenschaftliche Begriff von Welt als Gesamtheit aller Seienden einer anschaulichen Verifizierung. Alle Erfahrungen bleiben Teilansichten der Welt, das Ganze ist dem empirischen Zugriff des Einzelnen entzogen. Die Überwindung dieser Beschränkung des Einzelseienden und die Bildung eines Begriffs von Kosmos erstrebt die Herausarbeitung von naturgesetzlichen Allgemeinheiten, die in abstrakter Formel einen Zusammenhang der isoliert scheinenden Einzelseienden und so eine Ganzheitlichkeit feststellen und die in der Herstellung gewisser Beziehungsallgemeinheiten bereits ein Grundgerüst von Strukturformeln dieses Ganzen liefern.
Dieser wissenschaftliche Weltbegriff, der die Einzelseienden naturgesetzlich miteinander vermittelt, muß nun im Hinblick auf das Sein des Ganzen überschritten werden. Das heißt: Die ontisch orientierten Einzelwissenschaften bedürfen einer Begründung durch eine Ontologie.
Der ontologische Aspekt dieser ontischen Allgemeinheit der Naturgesetze wird in der repraesentatio mundi formuliert: Das Ganze (die Welt) drückt sich in jedem Einzelnen (jeder Monade) vollständig, wenn auch inexplizit, aus. „Ich hatte gesagt, die Seele drücke, natürlicherweise, das ganze Universum in einer bestimmten Hinsicht aus, und zwar gemäß der Beziehung, die die anderen Körper zu dem ihrigen haben …“17 Und weiter: „Sie drückt das Universum in einer bestimmten Richtung aus, und zwar speziell gemäß den Beziehungen der anderen Körper zu dem ihrigen, denn sie kann nicht alle Dinge in der gleichen Weise ausdrücken; sonst bestünde zwischen den Seelen kein Unterschied; aber daraus folgt noch nicht, daß sie sich aller Vorgänge in den Teilen ihres Körpers vollkommen bewußt werden müßte, denn es bestehen unter den betreffenden Teilen selbst Abstufungen in der Nähe der Beziehung: Die Teile werden nicht alle in gleicher Weise ausgedrückt, sowenig wie die äußeren Dinge.“18
Damit ist die Einheit der Welt in die Einheit der Monade zurückgenommen, ohne subjektiviert zu sein, weil deren Sein ins Ganze der Welt hinaus intensional erweitert ist. Die Monade bezieht ihr Sein von der Welt, indem sie diese in sich aufnimmt, die Welt konstituiert sich als eine, indem sie sich in ihrer Mannigfaltigkeit in jeder einzelnen Monade spiegelt und diese extensionale Mannigfaltigkeit dergestalt in der Monade als intensionale Einheit realisiert wird. So ist die Welt monas monadum, die Einheit, in der sich alle Monaden vereinigen. Das Ganze ist ein Ganzes von Beziehungen, also eine Struktur, die dem Vielen aufgeprägt ist. Leibniz selbst erläutert dies (wobei er wiederum die Seele als Beispiel, nicht als einzige Substanz bezeichnet, in der sich die repraesentatio mundi vollzieht): „Eine Sache drückt (nach meinem Sprachgebrauch) eine andere aus, wenn zwischen dem, was man von der einen, und dem, was man von der anderen aussagen kann, eine feste und regelmäßige Beziehung besteht. In diesem Sinne drückt eine perspektivische Projektion das in ihr projizierte geometrische Gebilde aus. Das Ausdrücken gehört zu allen Formen überhaupt und bildet einen Gattungsbegriff, von dem die naturhafte Perzeption, die tierische Empfindung und die verstandesmäßige Erkenntnis Arten sind. Bei der naturhaften Perzeption und bei der Empfindung genügt es, daß das, was teilbar und materiell ist und was sich in mehreren Dingen zerstreut vorfindet, in einem einzigen unteilbaren Ding oder in der mit wirklicher Einheit begabten Substanz ausgedrückt oder repäsentiert ist. An der Möglichkeit einer solchen Repräsentation ist nicht zu zweifeln, denn unsere eigene Seele liefert uns ja ein Beispiel dafür. In der vernünftigen Seele aber ist die Repräsentation von Bewußtsein begleitet, und dann bezeichnet man sie als einen Gedanken. Solches Ausdrücken kommt nun überall vor, weil sämtliche Substanzen mit allen anderen sympathisieren und bei der geringsten Veränderung im ganzen Universum sofort eine genau entsprechende Änderung erfahren, obwohl diese Änderung mehr oder minder merklich ist, je nachdem, ob die anderen Körper mehr oder minder Beziehung zu unserem Körper haben.“19
So erweitert sich die Monade als Schnittpunkt unzähliger auf sie einwirkender Kräfte, die sie in sich zum Austrag bringt. In ihr spiegelt sich deutlich oder verworren die Gesamtheit der Einzelseienden des Universums in individueller Gestalt. Alle diese Einzelseienden, die mittelbar oder unmittelbar auf die Monade einwirken (wie diese auf alle auch zurückwirkt und das Ganze eine unendliche Verflochtenheit aller mit allen bildet), unterliegen Veränderungen und erzeugen wieder Veränderungen. Das All ist in ständiger Bewegung in jedem einzelnen seiner Teile. Nach dem Grunde dieser Fülle von Einzelbewegungen fragt Leibniz nun in der weiteren Ausbildung seines Weltbegriffs. Wie kann einzelnes Seiendes als der Veränderung unterliegend begriffen werden?
Diese Frage zu beantworten, dienen die Deduktionen der Kapitel 36 bis 43 der Monadologie, deren Auslegung deshalb besonderen Schwierigkeiten begegnet, weil sich hier die theologische Vorstellung eines christlichen Schöpfergottes mit der ontologischen Konzeption eines konkreten Weltbegriffes vermischt und durchkreuzt und den philosophischen Kerngedanken verunreinigt. Es gilt also, die ontologische Zentralidee herauszuschälen.
In Frage steht der Grund der Veränderungen des Einzelseienden, seiner dauernden Bewegtheit. Dieser Grund kann nicht im Einzelseienden selbst gesucht werden, da dies einen regressus in infinitum bedeuten würde, wie ausdrücklich in Kapitel 37 der Monadologie gesagt wird. Weiter heißt es: „So muß der letzte Grund der Dinge in einer notwendigen Substanz liegen, in der das Besondere der Veränderungen nur in eminenter Weise wie in der Quelle vorkommt, und diese Substanz nennen wir Gott.“ (KS, S. 455/457) Diese allgemeine – Gott genannte – Substanz ist nur eine. Sie umfaßt alle andern: „Man kann auch urteilen, daß diese höchste Substanz, die einzig, universell und notwendig ist, die nichts außer sich hat, was unabhängig von ihr wäre, und die eine einfache Folge ihres Möglichseins ist, derart beschaffen ist, daß sie keine Schranken haben kann und so viel Realität enthält, wie irgend möglich ist.“ (Mon., cap. 40, KS, S. 457)
Das bedeutet, daß Gott hier nur als letzte Einheit alles Seienden, als monas monadum, eingeführt wird und daß hier auf keinen anderen Begriff abgezielt ist als auf einen obersten Weltbegriff. Ist Welt als Ganzes aller Seienden möglich, so ist sie auch notwendig. Sie ist nämlich möglich, wenn eine Mannigfaltigkeit von Einzelseienden aktuell vorhanden ist, dann aber auch notwendig, weil die Tatsache einer Vielheit von Seienden (die die Möglichkeit ihrer Beziehung aufeinander in sich trägt) die Konstituierung ihres Zusammenhangs notwendig nach sich zieht. Eine Vielheit kann nie beziehungslos gedacht werden, gemäß der Grundkategorie der Relation, die in dem Zusammensein des Einen mit dem Anderen schon unausweichlich liegt.20 Der ontologische Gottesbeweis reduziert sich demgemäß für Leibniz auf eine Aussage über das Verhältnis von jedem Seienden zu allen Seienden (zur Welt). Das zeigt sich deutlich, wenn die Vollkommenheit Gottes erläutert wird: „Daraus folgt, daß Gott absolut vollkommen ist, da die Vollkommenheit nichts anderes ist als die Größe der an sich genommenen positiven Realität, sobald man die Grenzen oder Schranken bei den Dingen, die dergleichen haben, beiseite setzt. Und da, wo es keine Schranken gibt, das heißt in Gott, ist die Vollkommenheit absolut unendlich.“ (Mon., cap. 41, KS, S. 457)
Dieser Weltbegriff, der hier in Anlehnung an den traditionellen Gottesbegriff entwickelt wird (und zur Folge hat, daß dieser Gottesbegriff spinozistisch gefärbt wird), besagt also, daß jede Substanz ihr Sein erst aus der Einheit, der Totalität aller Einzelsubstanzen empfängt, daß Einzelnes nur „in“ der Welt, als Teil der Welt „ist“. Diese Einheit, bezeichnet als Welt, wird wiederum als allgemeinste, oberste Substanz, das heißt als strukturiertes Ganzes von Einzelteilen, begriffen und als „Gott“ bezeichnet. Gemeint ist damit jedoch ein säkularisierter Begriff des Höchsten und Allgemeinsten, zugleich aber auch des Konkretesten. Als solchen haben wir schon oben (siehe Abschnitt 2 dieses Kapitels) den Weltbegriff herausgehoben. Mit metaphysischer Strenge gesprochen, ist der Titel für die Einheit des Ganzen monas monadum, der gleichermaßen als philosophische Bestimmung Gottes wie der Welt zu gelten hat.
Das entelechiale Wirkungsmoment der Monade wird also strukturbildend für die Welt als Gesamtheit aller Monaden, insofern dank seiner sich ein ständig bewegter Zusammenhang bildet. Die Gesamtheit der Welt ist jedoch strukturbildend für das Sein der Einzelmonade, die „in“ der Welt existiert. Hier wird ein dialektisches Verhältnis herausgestellt, dessen analytische Diskussion mit den traditionellen Mitteln der Philosophie, die Leibniz übernahm, nicht durchgeführt werden konnte. So erklären sich die immer erneuten Anläufe, in denen der Sachverhalt beschrieben werden soll, zugleich aber auch der Rückfall in den Gebrauch theologischer Denkmittel, zu denen Leibniz immer greift, wenn er ein mit seinem wissenschaftlichen Denkinstrumentarium noch nicht eindeutig darstellbares Problem in den Blick bekommt. Wir dürfen heute, wenn es uns nicht nur auf historische Beschreibung, sondern auf eine systematisch-philosophische Erklärung seines Denkens ankommt, unbesorgt diese theologischen Rückstände übergehen und den rein weltlichen sachlichen Gehalt seiner Formulierungen herausheben, ohne damit die philosophischen Grundgedanken von Leibniz zu verfälschen. Etwas anderes ist es, daß Leibniz als historische Person zweifellos in der religiösen Tradition seiner Zeit stand und ein – wenn auch eigenwilliger – gläubiger Mensch war. So mußte ihm subjektiv die Gleichsetzung seines reinen Weltbegriffs der monas monadum mit dem überkommenen Gottesbegriff naheliegen und willkommen sein, um die radikale immanente wissenschaftliche Weltsicht mit seinem Glauben zu vereinbaren. Der rein diesseitig-weltliche, im Grunde atheistische Charakter seiner Ontologie wird dadurch aber nicht beeinträchtigt, weil die Grundzüge seiner Ontologie durch die Äquivokation von Welt und Gott nicht in theologischem Sinne verändert werden. Was sich aus der Gottesvorstellung an religiösen Momenten in der Leibnizschen Metaphysik ableitet, kann abgestrichen werden, ohne daß dadurch diese Metaphysik wesentlich verändert würde.