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Kapitel I: Nichts versäumen


Kapitel I: Nichts versäumen


Das Ziel stets klar vor Augen.

Es geht nicht um Rekorde, es geht um Erleben, in der Natur. Still und sanft. Ruhe aufsaugend, Spannung haltend, Langsamkeit spürend. Körperlich wie seelisch, physisch wie psychisch. Gedankenfrei, wenn möglich. So inspirierend. Stefan braucht das, immer stärker. Immer intensiver. Immer impulsiver, die Kopfgeburt. Das Kribbeln, das Sprudeln in der Magengegend, die Vorfreude, das warme Wohlgefühl des auferlegten Ziels stets vor Augen. Und die Neugierde, den Pulsschlag, das Pochen, das Wissenwollen. Es geht nicht um Rekorde. Nie.

Monatelange Vorbereitungen. „Denke ich an alles? Bloß nichts übersehen. Was kommt auf mich zu?“ Stefan läuft auf und ab, im Haus. Aufgeregt. Das ausladende Erdgeschoss, die liebevoll her- und eingerichtete Wohnung voller Reiseaccessoires im Reichenhaller Talkessel, reichlich Platz zum Sinnieren. Der Zeigefinger streift am Keramik-Schachbrett entlang, das er in Mexiko beim Spiel gegen Jesus, dem Bruder von Miguel, dem Spezl, gewonnen hatte. „Die müssen dort immer gleich um etwas spielen. Hätte ich verloren, hätte ich nicht gewusst, was ich hätte hergeben können.“ Die frühwinterliche Nachmittagssonne blinzelt durchs Fenster und belichtet ein paar Staubkörner, die tanzend der Schwerkraft trotzen. Stefan ist mit seinen Gedanken ganz weit weg. Im Norden Europas, in Lappland. Bedächtige Schritte. Grübeln. „Was ist noch zu tun?“ Standard-Telefonklingelton. Er muss eine Kundin an einen Kollegen vertrösten. Sie darf seine Empfehlung ruhig verraten, beim konkurrierenden Tandempiloten. Der angefragte Gleitschirmflug im April, wenn die Aufwinde hier in den Voralpen perfekt sind: unmöglich. Warum? Es geht nach Skandinavien. Einmal mehr. Die nächste Tour, der nächste Trip, das nächste Erleben. Der nächste Vortrag, der zweite, ist schon im Kopf, wenngleich noch ohne Drehbuch oder echte Bilder. Bewegte wie starre. Wie sie aussehen könnten, das weiß er bereits vorher. Stefans Vorstellungskraft ist enorm.


Stefan Wiebel in seinem Element, hier am Rasmustinden (1.224 Meter) über dem Balsfjord in den Lyngenalpen.

Die Ausrüstung, jene, die „seine“ Bilder produziert und das bereits geschulte Fotografenauge mittels unfassbarer Technik so sagenhaft unterstützt, wurde ausgebaut, sukzessive. „Ich habe mich aus dem Fenster gelehnt. Weit, sehr weit“, seufzt Stefan, der Ungewissheit bewusst. „Lohnt sich das? Das alles?“ Kommt hinten raus ein Plus? Muss es überhaupt ein Plus sein? Er muss es tun, ohnehin. „Ich kann nicht mehr anders.“ Das Kamera-Equipment darf und soll Profi-Ansprüchen genügen. Erst recht bei bis zu minus 20 Grad, bei Eis und Schnee, bei Regen und Wind und zuletzt einem Sturm. Einem Sturm, seinem Leben gleich.


Stefan gelang es, Chileflamingos am Chiemsee zu fotografieren.

Viel zu lange spielte die Fotografie eine untergeordnete Rolle: „Damit hab ich mich nie umfassend beschäftigt. Digital schon gar nicht.“ Jetzt bereiten Stefan feinste Pixel und Kontrast aufnahmefähige Sensoren richtig Spaß. Und Unbehagen: „Habe ich alles zusammen, habe ich die für meine Ansprüche bestmögliche Ausrüstung dabei?“ Fotografen-Kollegen verstehen: Hundertprozentig zufrieden sind sie mit ihrer Ausstattung samt Zubehör nie. Stefans Ergebnisse können sich sehen lassen, mehr als das.

Es gelang ihm, fast als Einzigem vom Wasser aus (= hervorragende Perspektiven), vier Chileflamingos zu fotografieren. Ausgebüchst und mehr Rot als Rosa. Mitten in Oberbayern. Sie kommen zurecht, in „seinem“ Revier am Bayerischen Meer, dem Chiemsee. Ansonsten gehört die Saalach oder der Luftraum über dem Berchtesgadener und Salzburger Land zu seinen Kamera-Jagdgebieten.


Stefan hat sich mit der Zeit zu einem echten Profi an der Kamera entwickelt …


Das Unterwegssein stachelt an, so stark, so unverzeihlich, so bebend. Vom „höher, schneller, weiter“ längst getrennt. „Was bringt mir das?“ Die Fragen wiederholen sich. Er will erleben, nicht hetzen, will sehen und nichts versäumen, von den Großartigkeiten der verschwenderisch-verführenden, der faszinationsschwangeren Landschaften. Immer wieder, immer mehr. Er denkt nicht an Rekorde. Körperlich stehenbleiben ja, geistig nie. Gehen, einfach geh’n … Vorankommen. In klarer Luft. Einatmen. Für ewig abgespeichert. So tief. Die Kraft der smogfreien Polarluft. Aufsaugen. Und mit nach Hause nehmen. Die Inspiration, das Schweben auf Wasser, das Gleiten auf Schnee, die unfassbare Stille. Das Knirschen der Schneeschuhe auf Eisboden, der eigene Atem, das Außer-Atem-Sein, die Erschöpfung – die am Ende ein so wohliges Gefühl vom Kopf bis in alle zehn Zehenspitzen zaubert. Letztlich wieder Wärme. Er paddelt, er zeltet und steigt auf (Schnee-)Berge, mit Skiern, fährt wieder elegant ab, klettert, auch mal im Eis. Und er fliegt, immer noch … – all das hat er längst und das andere vorerst für sich entdeckt.

Früher bewegte sich Stefan im Spitzensportbereich: Einmal Deutscher Meister, zu zweit an 20 neonbunten Nylonschnüren hängend, unter einem 26-Quadratmeter-Schirm. Sechsmal beim Dolomiten-Mann dabei, in Lienz, Osttirol, westliches Österreich. Als Paraglider, als Gleitschirmstürmer. Genuss war’s keiner, eher eine Hatz, eine gefährliche. Wie so oft. Das Vergnügen kam danach, am Siegerpodest, zu kurz: zweimal Zweiter mit jenem Schirm, einmal Gesamtdritter im Zwei-Disziplinen-Team, mit Anderl Hartmann, dem inspirierenden Freund und hilfreichen Ideengeber, dem seit 2013 Profi-Mountainbiker, der gute, der immer besser werdende … – von nebenan, aus Bad Reichenhall. Mit ihm er trainiert schon mal, am Hochschwarzeck, Berchtesgadener Land, in tiefen Tälern und auf hohen Bergen.


Profi-Mountainbiker Anderl Hartmann (rechts mit der Startnummer 20).

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