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Kapitel IV: Schon wieder ein Leben kaputt

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Er wollte Spanisch lernen. So richtig, mit allem drum und dran. Jetzt, auf der Stelle. In Guatemala, einem landschaftlich einzigartigen Land, das nach vielen Bürgerkriegen in Korruption und Armut versank. Die Sprachschule war in Quetzaltenango, auf 2.234 Meereshöhenmetern. Für einen Monat schrieb sich Stefan ein. Er wohnte drei Wochen bei einer Familie, und er lernte Spanisch, in einer Stadt, die für ihre Sprachschulen bekannt ist und eine Partnerschaft mit dem norwegischen Tromsø pflegt, der nördlichsten Universitätsstadt der Welt. Jener Metropole im so weit entfernt liegenden Europa, etwas nördlich des Polarkreises, zu der Stefan sehr viel später ebenfalls eine Verbindung aufbauen sollte. Heute spricht er fließend Castellano. Es hat sich gelohnt, die Mühe in Lateinamerika. Manchmal fallen ihm die deutschen Begriffe für spanische nicht ein, wenn er erzählt.


Nach seinem Sprachkurs wollte Stefan wieder „rumdeifen“ (rumteufeln“ – eine hochdeutsche Erklärung für „rumdeifen“ ist schwierig. Ich beschreibe es mal mit „frei und ungezwungen umherreisen und bleiben wo man will“, also sowohl spontan, am Ende aber auch durchaus zielgerichtet/​Anmerkung des Autors). Er spürte es ja schon lange, dass das Reisen „sein Ding“ ist. Er ging durchs Dorf, abends, ging spazieren. Voller Gedanken, voller Pläne und Träume, Gefühlswirrwarr durch und durch. Plötzlich eine leichte Berührung, im Gesicht, von hinten: „Es war der Schorsch“. Unglaublich, ein alter Bekannter aus Bad Reichenhall, sie kannten sich vom Gleitschirmfliegen. „Georg?“ Tatsächlich, der Schorsch. „Wahnsinn …“. Stefan war platt, sprachlos zuerst, so ein Zufall. Der BWL-Student, fünf Jahre älter als der Wiebei, wusste, dass der gerade in Lateinamerika unterwegs war. In seinen Semesterferien flog er einfach hin. Die Wahrscheinlichkeit, den Stefan tatsächlich zu finden, in einem riesigen Gebiet, tendierte gegen Null – wenngleich nahezu alle Gringos auf dem gleichen Trail unterwegs waren. Er traf ihn, seinen „alten“ Spezl, das Unmögliche klappte.

Der Schorsch hatte sechs Wochen Zeit zum „rumdeifen“. Aber Stefan musste noch seine Schule abschließen. Da lieh sich Georg Wiebels Rad und fuhr los. Beide hatte längst die Reiseleidenschaft gepackt. Am Lago di Atitlán trafen sie sich wieder, dem zweitgrößten See Guatemalas auf 1.560 Metern. Sie reisten weiter, radelten in den Norden, sahen das Land, fühlten es, erlebten es. Sie schauten sich Ruinen an. Tikal beispielsweise, eine antike Stadt der Maya in den Regenwäldern des gleichnamigen Nationalparks mit bemerkenswerten Stufentempeln. Sie war eine der bedeutendsten Städte der klassischen Maya-Periode (3. bis 9. Jahrhundert) und ist eine der am besten erforschten. In diesem kleinen mittelamerikanischen Land gefiel es Stefan. Mit allen Sinnen bereicherten die beiden ihr Empfinden. Sie reisten viel und intensiv, der Georg und der Stefan. Unter anderem mit dem Bus. Und sie besuchten einen Ausgewanderten aus der Heimat …


Guatemala: Warnung vor einer 200 Meter langen Glatteiszone – bei über 30 Grad im Schatten.

Stefan nannte ihn den „J.R. von Guatemala City“, der dort mit seiner Frau lebte, die ebenfalls aus seiner Heimat stammte. Die feierten, feierten feudal, feierten viel, fast unentwegt. Und wenn der Alkoholpegel einen gewissen Grad erreicht und/​oder überschritten hatte, fingen sie an, mit ihren Karabinern und Westernpistolen auf die Palmen im Garten zu schießen, die Reichen der Stadt, der kleine Prozentsatz der Bevölkerung mit Geld. Jene also, die das Land regieren, anschaffen, sich aushalten lassen. Sie stachelten sich in ihrer gegenseitigen Arroganz an, wer die größeren Kugeln hätte und rissen riesige Löcher in die dicken, knallgrünen Blätter. „Leichte Mädchen“ vergnügten sich derweil kitschig „aufgebrezelt“ (hochdeutsch: zu stark geschminkt) am und im Pool und wurden später dazu gerufen. Zu den Waffennarren, den Mächtigen, den Hochnäsigen, den so oft Übergewichtigen. Irgendwann verschwanden sie. In geheimen Zimmern der Lodges. Immer zwei, mal drei. Abgeschlossen. Die braven Ehefrauen warteten daheim, hielten Haus und Hof in Schuss, zogen die meist recht umfangreiche Kinderschar groß – und ahnten bestenfalls, was bei den Partys so alles vor sich ging.

„Die waren nur noch deppert“, erinnert sich Stefan. Die Aktionen „J.R.’s“, der schon mal mit einer Cessna zum Kaffeetrinken an den Golfplatz flog, hielt er für „voll banana“. Wie die Feten am Pool. Er hatte bislang nur den (oberflächlichen) Straßeneinblick bekommen, ahnte nicht, was sich in einigen Gassen und vor allem hinter den Fassaden so alles abspielte. Jetzt erlebte er einmal kurz diese Glitzerwelt und wusste sofort, dass er weg musste. Mal wieder. Mal wieder schnell. Wie hätte er reagieren sollen, fragte er sich, auf den Umgang mit Alkohol und Mädchen, auf die sinnlose Ballerei auf Palmen, das sorglose Hantieren mit Waffen, als wäre es Spielzeug – er, der Kriegsdienstverweigerer.

Cowboystiefelzeit

Hand aufs Herz, Stefan: Wehrdienstverweigerer, da gab es zu Hause, beim Papa, dem Heeresbergführer, schon so manche Diskussion, oder?

Erstaunlicherweise nicht im Geringsten. Ich war bei der Musterung in Traunstein. Es waren die 80er-Jahre, Cowboystiefelzeit. Wir saßen im Flur, in Unterhosen (!) und unseren Angeber-Schuhen. Verrückt. Und ich wurde als „Zweier“ mit sage und schreibe elf Einschränkungen eingestuft. Das Kreiswehrersatzamt diagnostizierte krumme Beine und ein schiefes Kreuz bei mir. Da musste ich lachen. Ich kletterte im 8. Grad – und die bewerteten mich als gebirgsuntauglich (Stefan schüttelt noch heute den Kopf darüber/​Anmerkung des Autors).

Sie bescheinigten dir tatsächlich Gebirgsuntauglichkeit?

Ja, das muss man sich mal vorstellen. Und Höhenuntauglichkeit obendrein. Obwohl ich schon mit 17 Gleitschirmflieger war. Ich gebe zu: Da war ich eingeschnappt und habe prompt verweigert. Eigentlich hatte ich mich bereits mit dem Gedanken angefreundet, in den Skizug zu gehen: Bergsteigen, Skitouren gehen, Skifahren, eine richtig gute Gebirgsausbildung, draußen sein. Der Dienst an der Waffe war für mich nie ein Thema, darum dachte ich mir: Wenn schon Bundeswehr, dann in einer Gebirgstruppe, die kraxelt, Ski fährt, in Bewegung ist. Das war nun schlagartig erledigt, aber in Ordnung. Ich musste mich nicht besonders damit abfinden. Ich machte Zivildienst bei den Sanitätern, das ebnete mir meinen späteren beruflichen Weg. Heute habe ich eine noch viel klarere Vorstellung von der Bundeswehr und würde auf jeden Fall verweigern.

In einem Dorf mit ausnahmslos dunkelhäutigen Bewohnern kauften Stefan und Georg einen Einbaum und stachen ohne Vorbereitung kurze Zeit drauf unbedarft in „See“ – die Mangrovensümpfe zwischen dem Rio Dulce („Süßer Fluss“) und dem Lago de Izabal, dem größten See Guatemalas, südlich von Livingston am Golf von Honduras, lagen vor ihnen. Nach wenigen Metern ging das Ding unter, es war viel zu klein, trug die beiden nicht. Stefan schaute seinen Spezl, den selbsternannten Einbaum-Spezialisten, fragend an. Der war verdutzt. Ein neuer, größerer Einbaum musste her. Er wurde geschnitzt, von Einheimischen, extra für sie, die beiden Oberbayern. „Ein echtes Gringo-Boot“, erinnert sich Stefan lebhaft.

Verpaddelt

Langsam tasteten sie sich vor, auf der spiegelglatt gespannten Oberfläche. Einer riesigen Glasscheibe gleich. Eine dünne Spur zeugte hinter ihnen von den bedächtigen Paddelzügen. Ist es so ruhig, wird auch der Reisende ganz still, bedächtig fast. Mückenalarm hin und wieder, drückende Schwüle, gewaltige Schweißperlen auf der schon sonnengegerbten Haut, sie tropften ihnen in die Augen. Übernachten in Hängematten, einmal ohne festes Land, zwischen zwei Bäumen, die im Wasser wachsen. Selbstverpflegung, kein Mensch weit und breit. Das Ziel: El Estor im Westen des 48 Kilometer langen und 20 Kilometer breiten, mächtigen und doch so friedlichen Gewässers.

Sie verpaddelten sich recht ordentlich, in der Einsamkeit, und gerieten in arge Not. Kein Land mehr in Sicht, geschweige unter den Füßen, kein Feuer mehr, kein warmes Essen. Die Hängematten hingen sie zwischen instabile Sträucher, das „war alles andere als beruhigend“. Stefan war schon wieder in eine Lage geraten, die sein Leben massiv bedrohte. So kurz nach seinem Absturz am Vulkan. Sie kamen wieder raus, aber Stefan weiß: „Wir wären heute noch drin, in den Sümpfen, hätten uns die Indios nicht wieder rausgeführt, zum rettenden Hauptfluss.“

Mit ihrem Einbaum kamen sie direkt zu einem Waisenhaus: „Hier hätte ich gern gejobbt.“ Es wurde nichts draus. Obwohl er es gut kann, mit Kindern. Touristen kommen hier nur sehr selten vorbei. Und wenn, erhalten sie keinen Einblick. Die Kinder sollen ihre Privatsphäre behalten. Sehr viel später war Stefan nochmal dort, mit seiner Irmi. Wieder kam er super bei den Kindern an. Doch er konnte nicht bleiben, wie schon 1992. Daheim wartete eine andere Arbeit, zumindest auch eine soziale.

Damals ging auch sein Geld langsam zu Ende. Ein Job hätte für weiteres Reisekapital gesorgt. Mit dem Schorsch ging es noch ein wenig durchs korrupte Land mit Orten im Hochsicherheitslook, streng bewacht. Militär allerorten. Die Reichen bewegten sich außerhalb ihrer Wohnungen lediglich mit gepanzerten Autos, und „wir fuhren dort mit dem Fahrrad rum und dachten uns nichts dabei“. Aus heutiger Sicht ein Himmelfahrtskommando. Sie sind einfach weitergereist. Rein nach Honduras.

Der Sohn von Hitler?

In einem anderen Dorf am Lago de Atitlán, in San Pedro La Laguna, verkrümelte sich Stefan, als er allein unterwegs war. Er wollte einer wilden Schießerei entfliehen. Unbedarft radelte er ins Dorf, fast wie in Trance. Plötzlich der Weckruf. In einem Gefängnis brach eine Rebellion aus. Es gab mehrere Tote, noch mehr Verletzte – wie meist in solch sinnlosen Auseinandersetzungen gerade unter völlig unbeteiligten Bürgern. Irgendwann wusste keiner mehr, wer hier eigentlich gegen wen kämpfte. Das Militär machte Hatz auf die Guerilla, die Guerilla auf die Einheimischen, die Einheimischen schoben alles aufs Militär. Alle wollten das Sagen haben, niemand hatte wirklich etwas zu sagen, es war ein wildes Durcheinander. Bürgerkriegsnah bereits. Und er, der Wiebei aus Bad Reichenhall, mittendrin.

Von Touristen hatte er von solch unfassbaren Geschichten gehört und fragte sich, wie er wohl reagieren würde, käme er in die brenzlige Lage eines Überfalls. Sein gutes Spanisch beruhigte Stefan: „Ich wollte damit imponieren.“ Eigentlich war er hier, um Land und Leute kennenzulernen. Diese Intensität konnte er nicht erwarten und war ihm zu viel. Später, auf einer Bergstraße, begegneten ihm Zahnlücken-Jungs auf einem rostigen Pick-up, vier Reifen ohne Profil, wie seine Insassen. Fünf Zwielichtige mit Mundgeruch. Sie betrachteten es als Gag, den deutschen Gringo zu ärgern und ihre Pistolen zu präsentieren, zielten aber nicht auf ihn. Sie „empfingen“ ihn, in einer Parkbucht, er hatte keine Chance, um auszuweichen. „Ich musste an ihnen vorbei. Hätte ich umgedreht, wären sie mir so oder so gefolgt.“ Er wusste sofort: „Brotzeit werden die nicht mit mir machen wollen.“ Sie fuchtelten mit ihren Knarren herum und zeigten ihm einen Vogel, weil er es „wagte“ bergauf zu radeln. Sie verstanden nicht, dass jemand „so etwas Verrücktes“ tut. „Wo fährst du hin?“, löcherten sie ihn. „Wo kommst du her?“ Deutschland? Ost oder West? Und: „Bist du der Sohn von Hitler?“ Die Wende war zwei Jahre her. Stefan konnte so wenig Bildung auf so „viel“ Hirn nicht fassen.

Griffbereit verweilten – für exakt solche Situationen – ein paar Scheine, Cash, Bares, in seiner Hosentasche. Sie sprachen Slang mit ihm, absichtlich, damit er sie nicht verstehen konnte. Denn Spanisch konnte er mittlerweile, sehr gut sogar. Und wieder war das Hauptaugenmerk auf die Schuhe gerichtet. Hinten am Gepäckträger hatte Stefan richtig feine Camel Boots dabei. Schuhe bedeuten in Lateinamerika puren Reichtum. Natürlich nahmen sie ihm diese, plus seine Kamera. Die Rollei war denen wichtiger als das Fahrrad – letztlich war’s Stefan so herum lieber. Ab jetzt gab es allerdings keine Fotos mehr … – weil er keinen vernünftigen Apparat mehr in den schlecht ausgerüsteten Läden fand. Die Gehäuse dort wirkten, als sei da gar nichts drin, als wären es Attrappen. Wochenlang drückte er schweren Herzens keinen Auslöser. „Das tat so weh, bei all den faszinierenden Landschaften.“ Barfuß machte er sich nach dem Überfallsschreck auf den Weg, radelte schuhlos mit seinen gezackten Pedalen in den nächsten Ort, besorgte sich erst mal ganz einfache Flip-Flops. Vernünftige Schuhe zum Radeln und Bergsteigen fand er erst Tage später.

Sein Spezl Georg erlebte ähnliches: In Mexiko-City, vorm Flughafen, hielt der Schorsch Ausschau nach einem Busbahnhof. Er wollte gleich weiter, nach Guatemala, vermutete dort seinen Freund. Da stand ein Auto, daneben zwei junge Burschen. Sie machten einen gelangweilten Eindruck, sie „chillten“ wohl. Plötzlich hatte der ratlose Deutsche einen Revolver am Kopf. Mit erhobenen Händen musste er losgehen … – bis er merkte, dass sich die beiden einen höchst üblen Scherz erlaubt hatten. Als er nichts mehr hörte, drehte er sich vorsichtig um und sah die Frechen nicht mehr. So schnell wie möglich löste der Schorsch ein Ticket, bestieg einen Bus und verschwand aus dem Moloch Mexiko-City Richtung Quetzaltenango (für die Einheimischen Xelajú, kurz Xela, gesprochen „Schela“): Umgeben von hohen Vulkanen, ein belebter, farbenfroher Ort voller Indios, im Südwesten Guatemalas nahe der berühmten Panamericana, zirka 140.000 Einwohner.

Jetzt war Georgs Urlaub vorbei. Er musste heimfliegen. Stefan wollte ein Jahr wegbleiben, darauf war die Reise ausgelegt. Acht Monate lagen hinter ihm. Zeit war also noch übrig, reichlich, aber das Ende seiner finanziellen Mittel nahezu erreicht. Nach rund 4.000 Kilometer radeln zwischen Mexiko und Costa Rica und Erlebnissen, die für zwei Leben reichten, war kaum noch Geld übrig. Er deponierte sein Rad in einem Hotel am Pazifik, denn er wusste, dass er wiederkommen würde. Er holte es später tatsächlich ab, bei einer erneuten Lateinamerika-Reise.

Stefan jettete zurück nach Mexiko, um seinen Rückflug nach Deutschland umzubuchen. One-Way-Tickets gab es damals nicht. Die Flüge waren unglaublich teuer, 2.200 D-Mark. Alles sollte jetzt locker auf ihn zukommen, das wollte er. Er kam zurück zu Nadia und ihrer Familie, die ihn so herzlich aufgenommen, so sanft (gesund)-gepflegt hatte. Und wo noch eine Herzsache auf ihn wartete. Sie war noch immer schwanger, na klar. Mehr denn je. Ihr Streifenhörnchen hatte Familie und Kinder, die natürlich nichts von ihrem „außertourlich beschäftigten“ Ehemann und Papa wussten. Genauso wenig wie Nadias Mutter samt Schwestern und Bruder, dem Aufpasser, dem Beschützer. Der Polizist ließ Nadia im Stich, ließ sie links liegen. Sie saß in ihrem Dorf, mit 17, knapp 18 – und hatte keine Chance. Andere Männer interessierten sich nicht für sie, nicht in „diesem Zustand“, nicht „derart befleckt“.

Stefan erzählte ihnen alles. In gutem Spanisch. All seine Erlebnisse. Nach drei, vier Tagen war es perfekt, sein Castellano. „Da lernte ich mehr als zuvor in einem Monat. Sie wollten alles wissen.“ Und er musste zusehen zurückzukommen. Die Zeit drängte. „Ich musste abchecken, was in Deutschland los ist, mit der Familie, wie es für mich weiterging, beruflich.“ In Nadias Familie war er längst integriert, ihre Mutter hatte Stefan in ihr Herz geschlossen. Sie zog vier Kinder groß, allein. Mit ihrer kleinen Hühnerbraterei brachte sie alle durch. Harte, schweißtreibende Maloche auf offener Straße, ein Pizzaofen, den die älteste Tochter betrieb, ein kleines Lokal dabei. Als Stefan ein paar Monate zuvor dort ankam, sah er drei hübsche Mädels und einen skeptisch dreinblickenden Bruder, der in der Küche schuftete und ihn gleich mal prüfte: Wo er überhaupt herkomme, was er überhaupt hier wolle. Stefan hatte Hunger, großen Appetit. Das gefiel dem mexikanischen Quartett: Der Mutter, dem Bruder, der einen Schwester und auch der anderen, dem Küken, dem Püppi, die mit ihrem Plingpling-Augenaufschlag irgendwie für nichts zuständig war und nichts tat. Ein „Wienerwald“ mit Sombrero. Das gefiel dem Gringo aus Bayern.

Sie luden „ihren Esteban“ (= spanisch für Stefan) ein. Nach Acapulco, touristisches Mexiko-Highlight. „Ich wollte da nicht hin. 30 Stunden Fahrt, nur um Hotels und Strand zu sehen und Ausflüge zu machen, dorthin wohin die Mexikaner am liebsten reisen. Das war nicht mein Ding. Außerdem konnte ich mir das gar nicht leisten.“ Doch er musste sich gar nichts leisten, er musste mit, ohne Diskussion. Nadias Bruder gab keine Ruhe, er hatte Stefan wohl schon als seinen neuen Schwager auserkoren. Es kostete ihn keinen Peso, sie bezahlten alles. Der Mutter war es egal, ob sie für fünf oder sechs „Kinder“ aufkam. Und es wurde enger, mit Nadia. Sie erzählte Stefan so viel, er gefiel ihr, sie gefiel ihm. Und der Polizist, der Vater, wusste nun auch von der Schwangerschaft.

Stefan hatte nichts zu beichten. Aber er brachte Nadias Familie bei, was los war. Ausgerechnet er, der Gringo, vom Leben noch keine Ahnung. „Die Mutter fiel fast in Ohnmacht.“ Eine der Schwestern ebenso, Plingpling blieb cool. Der Bruder reagierte ruhig und blieb seiner Rolle als zurückhaltender Beschützer des Clans treu. Sein Leben würde er jederzeit für jenes der Familie hergeben. Aber die Mutter weinte: „Schon wieder ein Leben kaputt.“ Kein Studium mehr möglich, für Nadia, keine Schule, kein grüner Zweig, kein Leben. Sie schimpfte auf die Scheiß-Männer, drei Wochen lang, und beruhigte sich wieder. Aufgewühlt und müde. Jetzt musste nüchtern gedacht und gehandelt werden. Die beiden anderen Töchter, die gleichfalls hübschen, fragten Stefan, ob ihm Nadia gefalle. Plingplings Charme wirkte …

Zwillinge

Sie gefiel ihm, nach wie vor. So wie das Leben in Ciudad Serdan, bei der Mutter, Nadia, ihrem Bruder und dem ganzen Clan. „Dass ich mit gerade mal 21 das alles erleben durfte, war schon bewegend. Sie nahmen mich auf wie einen Sohn.“ Er hatte tagtäglich Mini-Highlights, und eigentlich hatte er ganz andere Pläne, war voller Tatendrang. Der Traum des Bergführer-Jobs wurde schwächer. „Mit ihr zieh ich es durch“, reiften die Gedanken, ganz langsam: Familie. Und schon kamen die sorgenreichen Fragen: „Bin ich zu jung? Bin ich reif genug? Für ein Kind. Ohnehin nicht von mir. Ich bin nur Landschaftsgärtner. Ich muss heim.“ Er kannte das, dieses Gefühlschaos, es begleitete ihn seit etlichen Jahren.

Sie landeten in München, Nadia und er. Schnurstracks ging es in seine 38-Quadratmeter-Intimsphäre in Jechling, Gemeinde Anger. In der Zeit, als er weg war, wohnte eine Röntgenassistentin dort. Er hatte sie rechtzeitig von seiner Rückkehr informiert. Sie zog aus, wie vereinbart.

Da standen sie plötzlich: Stefan, voller Erlebnisse, Eindrücke und Emotionen nach seiner ersten langen Reise, mit erst 21. Und Nadia, so jung, gerade 18, hochschwanger, eine feurige Mexikanerin mitten in einem kleinen Dorf im tiefsten Oberbayern. Beim Nitzinger-Bauern holte sie unbedarft frische Milch und war schlagartig Gesprächsthema Nummer 1, im Ort. Das Kleinbürgertum hatte alles im Griff.

Stefan bürgte für sie, am Flughafen, damit sie nach drei Monaten nicht zurück musste. Ihr Touristenvisum galt nicht ewig. In München hatten sie ihn auseinandergenommen. Nach Strich und Faden. Knallharte Einwanderungsbehörde, ohne Gnade. Es erwischte ihn wie eine Lawine, total unvorbereitet: „Ich war ja so grün hinter den Ohren, so naiv. Ich dachte: Na ja, setze ich mich halt mal eine halbe Stunde hin.“ Sie filzten ihn rigoros, von Kopf bis Fuß und nach mehr. Nach Drogen, Alkohol, Schmuggelware. Stundenlang. Sie vermuteten alles bei ihm. Sogar Zuhälterei. Aber keinen harmlosen bayerischen Gringo, der einfach nur ein braver Familienpapa werden wollte. Sie fanden nicht mal Geld bei ihm, so blank kam er zurück. Sie ließen ihn gehen und blieben skeptisch zurück.

Stefan verstand das alles nicht. Er brachte doch nur seine Freundin mit. Hochschwanger. Das war freilich das „Sahnehäubchen“. Er brachte sie mit, in einen völlig neuen Kulturkreis, ein Schock für die junge Frau. Er rief seine Eltern an und teilte ihnen mit, dass er wieder hier sei und sie Hunger hätten. Die Eltern verwirrte die Wir-Form, in der ihr Sohn sprach. Sie brachten zwei Pizzen mit, sicherheitshalber. Und sahen die Überraschung, als sie in Stefans Wohnung kamen. „Sie waren erstaunt, klar, schlossen Nadia aber sofort in ihr Herz.“ Er klärte sie auf: Dass es gar nicht seine Kinder seien, die im Bauch seiner Freundin heranwuchsen. Kinder? Er wusste nun, dass es Zwillinge werden würden …

„Die Leute sehen ohnehin nur das, was sie sehen wollen.“ Nadia war es sehr wichtig, dass er nach Außen der leibliche Vater sei. Und so war er der Vater. Punkt. Auf dem Papier wurde er das mit der Heirat im August 1992, amtlich beglaubigt, standesamtlich eingetragen in Anger, im Rathaus beim Bürgermeister Graßl, gleich neben der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt. Zur Party fuhren sie – er jetzt „schon“ 22 – nach oben, zum „Deifei“ (Baamhacke) am Högl, wenige hundert Meter über dem Ort, in eine Art Dorf-Disco. Der Aufenthalt bis in die frühen Morgenstunden war dort gesichert und mit dem Trauschein Nadias Aufenthaltsgenehmigung. Später holten sie die kirchliche Zeremonie nach, in Mexiko, 25 Leute waren dabei, vom Gleitschirmclub Albatros aus Bad Reichenhall. Drei Tage und drei Nächte feierten sie. Durch. Sogar Opa Willi, schon fast 70 damals, war live dabei, Anfang November 1993. Stefan noch im Krankenstand, Rehaphase, neun Monate nach seinem Absturz am Bischling (siehe nächstes Kapitel „Das Leben kollabierte – Absturz II – Österreich“), extrem abgemagert und schwach auf den Rippen. Die Krankenkasse gab dennoch ihr Einverständnis. „Beim Hinflug ging’s mir brutal schlecht.“ In Mexiko wurde es besser. „Dort ging es mir irgendwie immer gut.“

So sind sie, die Guatemalteken

Nach der Feier ist er mit seinen Eltern „illegal“ über die Grenze nach Guatemala. Der Strom fiel aus, alles war dunkel, sie hätten warten müssen, wollten aber nicht. „Selbst schuld, wenn da keiner ist“, dachte sich Stefan. Er holte sein Rad, das er gut ein Jahr zuvor in Guatemala City ließ. Mit einem befreundeten Arzt – Dr. Ralf-Martin Kaukewitsch aus Freilassing – drehte Stefan im Anschluss noch eine Runde, zentrales Lateinamerika, das Fluggerät im Gepäck. Es ging wieder. Germana und Willi, Stefans Eltern, wollten noch nach Belize, mit dem Bus, und wurden gefilzt, regelrecht auseinandergenommen. Die entsprechenden Ein- und Ausreisestempel in den Pässen fehlten aufgrund der Nacht- und Nebelaktion zuvor an der Grenze. „Da hab ich meine Eltern ganz schön in die Bredouille gebracht“, sagt Stefan heute. Irgendwie schafften sie es aber doch, so wie er, der sich eines nachts zurück über die gestrenge Grenze nach Mexiko schleichen wollte. Doch die Guatemalteken erwischten ihn, löcherten ihn drei Stunden, filzten ihn wie zuvor seine Eltern und wollten 100 Dollar für jeden Tag, den er in „ihrem heiligen“ Land war. Sonst würden sie ihn für längere Zeit in einen üblen Knast werfen. Horrorszenarien türmten sich in seinem Kopf. Stefan dachte in diesem Moment nicht daran, dass er hätte behaupten können, er wäre nur zwei Tage (statt der tatsächlichen drei Wochen) in Guatemala gewesen. Er hätte bezahlt und alles wäre gut gewesen. „So weit kam ich in dieser prekären Situation aber nicht“, zu viele Gedanken flogen durch ihn. „Ich hab stattdessen völlig durchgedreht und einen Riesenaufstand gemacht. Spanisch konnte ich ja mittlerweile perfekt. Das wurde denen irgendwann zu blöd und sie rieten mir, mich rasch aus dem Staub zu machen.“ Das war das Beste, was ihm passieren konnte. Stefan schlich über eine große Grenzbrücke, rüber nach Mexiko: „Ich hatte total Schiss, dass die mich jetzt gleich rücklings erschießen würden.“ Er schaffte es. Auf der anderen Seite wurde er sofort freundlich in Empfang genommen. „Die Mexikaner wollten genau wissen, was da drüben los war, aus reiner Neugierde.“ Er erzählte ihnen alles. Sie lachten nur: „Ja, ja, so sind sie da drüben, in Guatemala. Schlimm.“

Übrigens: die Guatemalteken bezeichnen sich selbst als Chapines, was so viel wie Latschen heißt. So wurden sie früher von ihren Nachbarn in Zentralamerika etwas spöttisch betitelt. Erst später erhielt das Wort Chapines seine heute positiv Bedeutung, ja bisweilen liebevolle Bezeichnung.

Die schlaue Großmutter

Kurz nach der „Deifei“-Fete im Sommer 1992 besuchten Stefan und Nadia die Oma am Chiemsee. Nadias schon kugelrunden Bauch hatten sie kaschiert so gut es ging. Nicht gut genug. Die lebenserfahrene Großmutter sah sofort, was los war, sie hatte sich in einem langen Leben das richtige Gespür für exakt solche „Fälle“ angeeignet: Und sie las ihrem Stefan die Leviten. Wehe, er würde Frau und Kind sitzenlassen. „Dann raucht’s“, drohte Oma Anni liebevoll, aber durchaus mit erhobenem Zeigefinger. Seine kluge Großmutter, die mehrere Kinder großgezogen hatte, hatte gesprochen, und er nahm es sich zu Herzen. Er wusste: „Ich darf keinen Mist bauen.“

Seine Eltern freuten sich, das erleichterte es ihm, sie waren aufgeregt und strahlten: „Wir werden Oma und Opa.“ Die Geburt rückte näher, am 5. Oktober war es soweit: Es kamen gleich zwei Babys, zwei hübsche Burschen, gesund und munter. Das junge Paar wusste es vorher, seine Eltern auch. Für alle anderen war es eine große Überraschung. Dr. Horst Borgolte, Internist im Reichenhaller Krankenhaus, deutete „etwas“ an. Dass „da mehr Beine als üblich sind, und dass das kontrolliert gehört.“ Er vermittelte die junge Frau an einen Kollegen. Die Untersuchungen blieben dennoch sporadisch. Nadia hatte keine (Kranken)-Versicherung. Der Gynäkologe gab ihr einen Mutterpass und löcherte ihn, den vermeintlichen Vater: „Werden Sie die Kinder ausreichend versorgen? Was haben Sie vor?“

„Es waren meine zwei Buben, ohne Wenn und Aber. Es war klar, dass ich voll und ganz für sie da sein würde.“ In seiner Heimat war er fortan „der Wiebei mit der hübschen Mexikanerin und den süßen Zwillingen.“ Sie war jung, sie war sexy, sie kam überall gut an. „Seine“ Burschen wuchsen zweisprachig auf, sie gingen in den Kindergarten in Bad Reichenhall. Hätte jemand mal richtig und überhaupt nachgerechnet, hätte er gemerkt, dass sie nicht von ihm sein konnten.

Er wollte nicht zurück, wollte kein Landschaftsgärtner mehr sein. Um nichts in der Welt. Seine soziale Ader pochte bereits zu stark, klopfte nicht mehr nur sanft an. Es lebte längst in ihm. Der Rettungsdienst war eine Option, aber keine Planstelle frei. Doch Stefan wollte das unbedingt, schließlich hatte er den Sanitätsjob während seiner Zivildienstzeit zu schätzen gelernt. In Loipl, oberhalb von Bischofswiesen, so hörte er, benötigen sie immer gute, zuverlässige Leute. In der Reha-Klinik. Sie nahmen ihn als Pflegehelfer, stellten ihn als Sanitäter fest an. Er verdiente gut und arbeitete viel, um seine Familie bestmöglich versorgen zu können. Da wohnten sie noch in Teisendorf und er bewältigte ein Jahr lang, Tag für Tag, mit dem Rad die knapp 30, höchst schwierigen Kilometer mit teils 20-prozentiger Steigung kurz vor dem Arbeitsplatz, auf 820 Höhenmetern gelegen. Perfektes Training für den kletternden und fliegenden Berg- und Naturfreund.

Wenige Monate später sprengte es sein Budget. 900 D-Mark, viel Geld für ihn und seine kleine Familie damals, nur fürs Telefonieren. Die Rechnungen schockten. Nadia redete mit ihrer Mutter im fast 10.000 Kilometer entfernten Orizaba, viel, viel zu viel, oft siebenmal die Woche. Zu viel für Stefans Geldbeutel. Sein Opa, der wie sein Vater auch Willi hieß, steckte ihm mal hier, mal da einen Hunderter zu. Bei den Großeltern durfte Nadia kostenlos telefonieren. Es reichte nicht, hinten nicht und vorne nicht, die Probleme wuchsen. Parallel zum Heimweh seiner Frau. Nur Bilder und Telefonate befriedigten sie nicht. Sie musste zurück in ihr Zuhause, wenigstens für sechs bis acht Wochen. Sie nahm die Buben mit, sie verkrafteten es und verschliefen den Flug ganz brav. Stefan hatte es von „seinen Jungs“ nicht anders erwartet.

Die jungen Wiebels waren mittlerweile über Teisendorf („Dort fühlte ich mich überhaupt nicht wohl“) in der Kurstadt gelandet, wohnten in der Reichenhaller Thumseestraße direkt gegenüber seiner Eltern. Also schon ganz in der Nähe, wo er später mit seiner Irmi zu Hause sein sollte. Für alle waren es seine beiden Buben. Er ging nicht damit hausieren, dass ein untreuer Gesetzeshüter aus Mexiko der echte Vater war. Stefan war ihr Papa, mit allen Rechten und Pflichten, die ihn anfangs überforderten.

Jetzt war er zwei Monate allein. Stefan nutzte seine Strohwitwer-Freizeit und -Freiheit: zum Skifahren und Skitourengehen, zum Klettern, zum Gleitschirmfliegen. Am späten Nachmittag eines Valentinstages ging er zu weit …

Einfach geh'n: Stefan Wiebels Lebensreise

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