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1.3. Zeichen der Zeit: Sozialanalyse als Zeitdiagnose

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Von der Sozialethik weithin unbemerkt hat sich in der (deutschsprachigen) Soziologie innerhalb der letzten Jahre eine intensive Diskussion darüber entwickelt, ob und inwiefern die gesellschaftsanalytische und sozialkritische Aufgabe dieser Disziplin auch mit dem Instrumentar einer „Zeitdiagnose“ in Angriff genommen werden kann.31 Man mag dahinter zunächst die Ambition vermuten, Hegels Definition der Philosophie als „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“32 ein soziologisches Pendant zu geben. In der Tat lassen sich bereits bei Klassikern der Soziologie (z. B. G. Simmel, K. Mannheim) entsprechende Ansätze finden, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Vertretern der Kritischen Theorie (M. Horkheimer/Th. W. Adorno, H. Marcuse) mit stark kulturkritischen Akzenten versehen oder von Vertretern empirischer Sozialforschung sozialpsychologisch variiert (H. Schelsky) werden. Großen Einfluss hat auch K. Jaspers’ Studie „Die geistige Situation der Zeit“ (1931), die immer wieder zur Referenz zeitdiagnostischer Essays in Philosophie und Soziologie wird.33 Eine besondere Konjunktur dieses Genres bringt ab den 1980er Jahren der Diskurs um die „Postmoderne“34 sowie die mit dem Jahr 2000 verbundene Spannung des „Milleniumswechsels“.35 Von monographischem Rang und zu soziologischen Bestsellern avanciert sind in dieser Zeit vor allem U. Becks „Risikogesellschaft“36 und G. Schulzes „Erlebnisgesellschaft“.37 Um sie gruppieren sich zahlreiche andere Sozialanalysen, die jeweils ein Spezifikum moderner Gesellschaften fokussieren: Mediengesellschaft, Wissensgesellschaft, Zivilgesellschaft, Spaßgesellschaft, Zweidrittelgesellschaft etc.38

Derartige Versuche, die Charakteristika moderner Gesellschaften auf einen Begriff zu bringen, stoßen in der sozialwissenschaftlichen Zunft aber auch auf Kritik. Manche ins Grundsätzliche weisende Aussage entpuppt sich als Produkt einer voreiligen Generalisierung von Einzelbeobachtungen oder rückt sie in die Nähe fragwürdiger Trendscouts, die sich in den Dienst der Konsumindustrie gestellt haben und weniger Wert auf empirische Studien als auf spekulative Eigenkreationen zur Beschreibung des Zeitgeistes legen und sich einen prophetischen Gestus zulegen.39 Das Gesetz von Angebot und Nachfrage kann sich hier durchaus negativ auf die Qualität des Angebotenen auswirken. „Angesichts der pluralen Deutungskonkurrenz, der medialen Aufmerksamkeitsfilter und dem Erfolgsgebot „Stimme trifft Stimmung“ ist die Verführung besonders groß, den Wahrheitswert einer Zeitdiagnose, ihre Solidität und Seriosität, zugunsten ihres Spektakularitätswertes, ihrer Sensationalität und Emotionalität zurückzudrängen“40.

Ihren eigentlichen Grund hat die Reserviertheit von Soziologen gegenüber soziologischen Zeitdiagnosen aber in der Sache, um die es ihnen geht: Moderne Gesellschaften führen eine Mehrfachexistenz und tragen daher „Alias-Namen“. Gegenläufige Entwicklungen, Pluralisierung und Entdifferenzierung, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Steigerung der Erlebens-, Handlungs- und Wahlmöglichkeiten, Decodierung und Rekombination des Überkommenen sind ihre Charakteristika. Es scheint unmöglich, angesichts der solchermaßen multiplen Identität des zu Beschreibenden eine eindeutige soziologische Identifikation vornehmen zu können. Was Diagnose sein sollte, wird daher selbst zum erklärungsbedürftigen Symptom. Geboten werden zudem kaum mehr als Momentaufnahmen, Schlaglichter auf eine Gesellschaft, die sich in einem ständigen Übergang befindet. Daher verwundert es nicht, dass viele der soziologischen Wortfavoriten nur Saisonbegriffe sind. Die Dauer ihrer Gültigkeit wird durch kurze Halbwertzeiten definiert. Manche Zeitgenossen irritiert zudem die Divergenz und Konkurrenz von Optik und Variabilität sozialwissenschaftlicher Zeitanalysen. Es scheint unmöglich, angesichts der ständig wechselnden Identifizierungen die Identität des Beschriebenen zu bestimmen. Und erst recht scheinen alle Bemühungen vergebens, Voraussagen aus dem Gang der Dinge abzuleiten.

Dennoch liefern diese Einwände keine zureichenden Gründe, das Projekt Zeitdiagnose aufzugeben. Der ständige Wechsel der Zustandsbeschreibungen moderner Gesellschaften ist höchst aufschlussreich für die soziologische und sozialethische Grundfrage „Wo leben wir eigentlich? Woran sind wir mit dieser Zeit? Wie geht es weiter und vor allem – wohin?“. Die Vielfalt und Vielzahl der Zeitdiagnosen und Sozialanalysen demonstrieren, was sie beschreiben: die Tendenz zur multiplen Identität, die Konkurrenz von Orientierungsmustern, die Notwendigkeit permanenter Selbstvergewisserung, die Dominanz des Passageren, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der unaufhaltbare Drang zur Selbstüberbietung. Wenngleich also die Intervalle immer kürzer werden, in denen etwas für moderne Gesellschaften Repräsentatives hervortritt, manifestiert sich in diesen Phänomenen dennoch eindrucksvoll das, was Gesellschaften „modern“ macht: die Tendenz zur Differenzierung und Pluralisierung des sozialen Lebens, das Erleben der „Dekonstruktion“ sozialer Ordnungsmuster, das Aufkommen polyzentrischer Sozialzusammenhänge.

Zeitdiagnosen sind vor der Selbstauslieferung an modische Trends nur gefeit, wenn sie einen größeren Radius bei der Erfassung ihres Gegenstandes anlegen. Erst dann können sie einen Beitrag zu den Selbstverständigungsdiskursen einer Gesellschaft leisten, wenn sie eine evaluative Kompetenz aufweisen, d. h. Maß nehmen können an den normativen Vorstellungen und Selbstbildern, die eine Gesellschaft von sich selbst entwirft, und diese in einen ideen-, und sozialgeschichtlichen, aber auch ideologiekritischen Zusammenhang stellen. Dazu bedarf es nicht zuletzt detaillierter historisch-empirischer Analysen und einer elaborierten Sozial- bzw. Kulturtheorie, die einer Zeitdiagnose qua Gegenwartsdiagnose erst ein solides wissenschaftliches Fundament verleihen. Erst dann ist es auch möglich und erlaubt, die „Zeichen der Zeit“ auf einen Begriff zu bringen, der ein Struktur- und Entwicklungsprinzip angibt, „das nicht nur die in Frage stehende Wirklichkeit »ausdrückt«, sondern dieser Zeit auch seinen Stempel aufdrückt.“41

Dass die moderne Gesellschaft im Zeichen der Beschleunigung steht und die „Kinesis“ ihr Struktur- und Entwicklungsprinzip bildet, ist die Leitthese der folgenden Überlegungen. Bei der „Beweisaufnahme“ zur Erhärtung dieser These greifen sie historiographische Studien zur neuzeitlichen Zeiterfahrung und -deutung auf42, verwerten Material kulturgeschichtlicher Zeitforschung43, nehmen Bezug auf bereits vorliegende Arbeiten zur Rekonstruktion und Kritik der Zeitverhältnisse einer technisch-industriellen Zivilisation44 und suchen nach Möglichkeiten einer sozialethischen Hermeneutik dieser sozialwissenschaftlichen Befunde. Es soll gezeigt werden, dass das gemeinsame Merkmal sowohl der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse in Gestalt funktionaler Differenzierung, Entfaltung ökonomischer Produktivkräfte, wachsender Naturbeherrschung und kultureller Pluralisierung als auch der damit einhergehenden sozialethischen Herausforderungen die Erfahrung einer enormen Beschleunigung des sozialen Lebens ist.

Genauerhin geht es darum, quer zu den bereits genannten Reflexionsstufen einer Christlichen Sozialethik den Faktor „Zeit“ in Anschlag zu bringen und eine „temporale Neuformatierung“ dieser Reflexionsstufen anzuregen. Diese Neuformatierung beginnt auf der ersten Reflexionsstufe mit einer Identifikation der veränderten gesellschaftlichen Zeitverhältnisse, in denen die Nötigkeitsbedingungen von Moral aufscheinen. Sie hat dann die Zeitlichkeit der ethischen Vernunft (bzw. die Zeitstruktur des Ethischen) im Prozess der Normenbegründung zu thematisieren und schließlich die Frage nach der Implementierbarkeit moralischer Normen im Rekurs auf den Zeithorizont und die Zeitstruktur sozialer Systeme anzugehen:

(1) Analyse der Zeitstruktur und Zeitökonomie moderner Gesellschaften, die dem Beschleunigungsimperativ unterstehen und soziale Fragen aufwerfen, die sich allein mit den Instrumenten technischer, ökonomischer, politischer und medialer „Kinetik“ nicht lösen lassen;

(2) Aufweis der temporalen Verfassung der praktischen Vernunft und ihrer Bedeutung für den Zeitindex moralischer Normen;

(3) Identifizierung der Implementierungs- und Geltungsbedingungen moralischer Normen im Kontext des Zeithorizontes politisch-ökonomischer Modernisierungsprozesse.

Diese Neuformatierung ihrer Reflexionsstufen gehört für eine Christliche Sozialethik eher in den Bereich der Grundlagenreflexion als zum Genre der Ratgeber für ein effizientes Zeitmanagement. Aber gerade bei „Zeitfragen“ hat die Reflexion selbst schon aufklärenden und kritischen Charakter, so dass der von jeder Ethik erwartete Beitrag für konkrete Handlungsorientierungen auch im Folgenden geleistet wird. Aufklärung und Kritik sind unabdingbar für ethische Orientierungsleistungen, die dazu verhelfen wollen, sich in unterschiedlichen, wechselnden Situationen zurechtzufinden und Handlungsmöglichkeiten zu erschließen.45 Für die Klärung jener Fragen, die sich aus den Zeitverhältnissen moderner Gesellschaften ergeben, soll dabei ein Layout sozialethischer Argumentation, Begriffs- und Theoriebildung erprobt werden, für das der wortspielerische Titel „KinEthik“ stehen könnte. Diese Kombination der Begriffe „Kinesis“ und „Ethik“ verweist darauf, dass heute alle gesellschaftlichen Transformations- und Modernisierungsprozesse unter einem „kinetischen“ Imperativ stehen. Es ist die kategorische Aufforderung zu Flexibilität und Mobilität, der zunehmend alle Muster sozialer Ordnung und des Umgangs mit der Kategorie „Zeit“ bestimmt, woraus neue soziale und ethische Problemlagen entstehen.

Das Projekt einer „KinEthik“ beginnt auf der ersten Reflexionsstufe mit einer Sondierung der kulturellen Antriebsmomente, welche die Moderne zum Zeitalter der Beschleunigung machen und alle bisherigen gesellschaftlichen „Immobilien“ (wozu auch Moral und Religion zählen) unter Bewährungsdruck setzen (Kap. 2). Es gilt dann, die Zeitlichkeit des ethischen Sollensanspruchs zu thematisieren (Kap. 3) und schließlich die Frage nach der Orientierungsleistung einer „Ethik der Zeit“ im Rekurs auf den Zeithorizont und die Zeitstruktur moderner sozialer Systeme anzugehen (Kap. 4). In diesem Kontext soll das Proprium einer Christlichen Sozialethik derart verdeutlicht werden, dass durch die Anwendung eines genuin christlichen Zeitverständnisses das Projekt der „temporalen Neuformatierung“ sozialethischer Reflexionsstufen größere Tiefenschärfe erhält.

Wer über die Bedeutung des Christentums in der Gesellschaft von heute nachdenkt, muss dabei nicht nur etwas vom theologischen Selbstverständnis des christlichen Glaubens verstehen. Wer nicht zugleich auch etwas von der Gesellschaft versteht, sich nicht in ihren Strukturen und Wandlungsprozessen auskennt, hat nichts begriffen vom Ort und von den Aufgaben der Christen in der Welt von heute und versteht darum letztlich auch nichts von der Praxis des christlichen Glaubens. Um ihren Ort und ihre Bedeutung in der Moderne theologisch zu bestimmen, bedarf es daher stets einer Bezugnahme auf sozialwissenschaftliche Analysen und Diagnosen von Modernisierungsprozessen. Dies gilt natürlich auch für den Neuansatz einer KinEthik, die ein zentrales Anliegen der katholischen Soziallehre aufgreift und ihm ein zeitgemäßes Format geben will:

Das II. Vatikanische Konzil hat in seiner Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (1965) nachdrücklich darauf verwiesen, dass es Auftrag und Ziel der katholischen Soziallehre ist, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten, so daß sie in einer der jeweiligen Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben kann“ (GS nr. 4; vgl. auch PT nr. 39 – 45)46. Hier wird eine Kurzformel geboten, die prägnant den Auftrag benennt, wie er für das soziale Engagement der Christen typisch ist. Sie deutet aber auch den besonderen Zeitindex der diese Praxis begleitenden Reflexion an, der es um kritische Situationswahrnehmung, kriteriologische Vergewisserung am Evangelium und Freisetzung von Handlungsimpulsen geht.47 Wenn eine christliche Sozialethik etwas zur Orientierung in den sozialen Auseinandersetzungen und Konflikten moderner Gesellschaften beitragen will, muss sie sowohl auf die Zeitsignatur des sozialen Lebens als auch auf die geistige Signatur der Zeit eingehen. Ob man ethische Suchbewegungen erfolgreich unterstützen kann, hängt wesentlich davon ab, dass die jeweiligen Anregungen möglichst nahe bei ihrer Sache und auf der Höhe ihrer Zeit sind. Sie sind mit ihrer Zeit gleichauf, wenn sie die dominanten geistigen Strömungen erfassen, die das aktuelle Lebensgefühl bestimmen. Es wäre ignorant, in allem, was den Geist der Zeit ausmacht, nur Geistloses oder einen Ungeist am Werk zu wähnen. Wer das tut, sieht am Ende (nur) noch Gespenster …48

Zur Wahrnehmung christlicher Zeitgenossenschaft gehört unabdingbar eine „dialogische“ Beziehung zwischen Kirche und Welt (vgl. GS nr. 40 ff., nr. 90), die bei aller notwendigen Sozialkritik in der Welt nicht bloß alles Negative und alles Negative nicht bloß in der Welt wahrnimmt. Vielmehr gilt es auch das anzuerkennen, „was an Gutem in der heutigen gesellschaftlichen Dynamik vorhanden ist“, und mit Achtung zu blicken „auf alles Wahre, Gute und Gerechte, das sich die Menschheit in den verschiedenen Institutionen geschaffen hat und immer neu schafft“ (GS nr. 42). Diese Anerkennung lebt im und vom Dialog mit allen Menschen guten Willens, mit den Angehörigen anderer Religionen und Konfessionen. Dabei gelten nach „außen“ wie nach „innen“ dieselben Regeln des Gebens und Nehmens (GS nr. 42 – 44), des Hörens aufeinander und des Lernens voneinander: „Anerkennung aller rechtmäßiger Verschiedenheit, gegenseitige Hochachtung, … im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem die Liebe“ (GS nr. 92).

Wenn in „Gaudium et spes“ davon die Rede ist, dass „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten“ (GS nr. 1) auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Christen sind, denen es bei ihrer Zeitgenossenschaft um die Mitarbeit am „rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft“ (GS nr. 3) gehen muss, dann ist die Verschränkung von Theorie und Praxis, von Hermeneutik und Pragmatik unabweisbar. Die Wahrnehmung sozialer Herausforderungen wird von den Zeichen der Zeit mitkonstituiert und zugleich führt ihre Deutung im Lichte des Evangeliums dazu, dass die Veränderung der sozialen Wirklichkeit mit dem Setzen neuer Zeichen beginnt. Eine Ethik der Zeit integriert ein hermeneutisches Moment, indem sie die „Zeichen der Zeit“ deutet (vgl. Mt 16,3), und ein pragmatisches Moment, indem sie dazu anleitet, selbst Zeichen zu setzen.

Mit diesem Ansatz markiert die Pastoralkonstitution einen Paradigmenwechsel in Anspruch und Methode katholischer Sozialethik und -verkündigung: weg von einem statischen, ordnungsethisch-naturrechtlichen Typ, der deduktiv von überzeitlichen und geschichtlich unwandelbaren Normen ausgeht, zu einem veränderungsethisch-dialogischen Typ, der einem evolutiv-dynamischen Gesellschafts- und Geschichtsverständnis verpflichtet ist, induktiv vorgeht und deliberativ erörtert, wie sich eine Gesellschaft auf ein beschleunigtes Tempo sozialen Wandels, auf unerwartete, „umstürzende“ Entwicklungen in Wissenschaft und Technik, auf dramatische kulturelle Umbrüche einstellen kann. Die Zeichen der Zeit markieren Zäsuren im Zeitgeschehen. In ihnen manifestiert sich, dass „etwas in Gang kommt“, das den Lauf der Welt – zum Guten wie zum Schlechten – verändern kann.49

So griffig die Formel „Zeichen der Zeit“ klingt, so schwierig ist aber auch ihre Anwendung.50 Zweifellos muss es um mehr und anderes gehen, als in der Manier der „Trendsurfer“ auf kurzfristige Moden aufmerksam zu machen und „in/out“-Listen zusammenzustellen.51 Die Halbwertzeit solcher Erkenntnisse nimmt in dem Maße ab, wie die Zeitabstände, in denen neue Trendbücher erscheinen, immer kürzer werden. Größere Tiefen- und Trennschärfe lässt sich für die Aufforderung, die „Zeichen der Zeit“ zu deuten, dann erreichen, wenn sie zugleich Bestandteil des alten christlichen Bemühens um eine „Scheidung der Geister“ ist.52 Hier geht es um eine Unterscheidung von Inspirationen und Impulsen, welche für zukunftsträchtige Veränderungen53 und welche für Strohfeuer des Fortschrittes stehen. Für Christen gilt es zu prüfen, ob diese Veränderungen auch für einen Vorgang stehen, in dem sich „herausstellt“, ob und wie das Evangelium vom Menschen als Adressaten einer unbedingten Zuwendung Gottes erfahrbar wird. Ist hier etwas „im Kommen“, in dem sich das Entgegenkommen Gottes in Zeit und Geschichte manifestiert? Oder weisen diese Zeichen andererseits darauf hin, was der „Ankunft“ Gottes entgegensteht? Oder verweisen sie auf Konstellationen und Situationen, in denen sich die Bedeutung des Evangeliums in einer Weise manifestiert, welche in Diskontinuität steht zu allem bisherigen Reden von Gott und Welt?

Die nachfolgend konzipierte Ethik gesellschaftlicher Zeitverhältnisse bezieht die „Zeichen der Zeit“ vor diesem Hintergrund nicht auf singuläre geschichtliche Ereignisse, in denen fromme Geister bereits einen „Fingerzeig“ Gottes sehen wollen. Vielmehr interessiert sie sich dafür, wie sich soziale Zeitstrukturen als Rahmenbedingungen für die Wahrnehmung von singulären Ereignissen verändern und was für diesen Wandel „bezeichnend“ ist bzw. unter welchem Vorzeichen er steht. Sie geht dabei Zäsuren im Zeitgeschehen nach, in denen sich ein veränderter Umgang mit den Modi der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart Zukunft – manifestiert. Und sie fragt nach dem Veränderungspotential, das in christlichen Umgangsformen mit diesen Zeitmodi enthalten ist. Auf diesem Weg werden Zeichen einer theologischen „Heterochronie“ erkennbar.54 Sie beschreibt keine Zeit jenseits dieser Welt, sondern Zeitmuster und Zeitmaße, die sich in Differenz zur herrschenden Zeitordnung setzen, weil sie etwas zur Geltung bringen, das dort ausgeschlossen, verdrängt und unterschlagen wird, aber für die Auseinandersetzung um die Humanität „kinetischer“ Ideale und Projekte relevant ist.

Zeitdiagnose, Sozialanalyse und Sozialethik in dieser Weise zu verknüpfen, verhindert dabei zu einem guten Teil die Flucht ins Prinzipielle, das Abgleiten in eine welt- und geschichtsenthobene Spekulation über Sinn und Zweck moralischer Normen. Außerdem erleichtert sie den Aufbau eines kontextuellen Theorietyps, der dort ansetzt, wo sich die soziologische und ethische Reflexion zu bewähren hat: in der Empirie – und in der Zeit. Man kann nur so über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse reden, dass man sie gleichzeitig darauf befragt, inwieweit sie selbst ihre Herkunft und ihre Zukunftsfähigkeit thematisieren. Eine theologische KinEthik bezieht ihre Hermeneutik der Zeit und ihrer Zeichen jedoch nicht allein aus der Zeit, die sie deuten will. Typisch ist für sie, dass sie sowohl unter dem Aspekt der Simultaneität als auch unter dem Aspekt der Differenz operiert. Nach den Zeichen der Zeit zu fragen heißt für Christen, dass sich das Volk Gottes bemüht, „in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder des Ratschlusses Gottes sind“ (GS nr. 11). Das Projekt, die Zeichen der Zeit wahrzunehmen, zu deuten und in dieser Zeit wiederum selbst Zeichen zu setzen, macht eine KinEthik darum zu mehr als zu einem ethischen Projekt. Denn die Frage, wie man in der Zeit die Zeit gebrauchen soll, wird hier mit der Erwägung verknüpft, dies als Frage nach dem Umgang mit den Zeichen dieser Zeit zu verstehen, wobei es sich um Zeichen handelt, an denen sich mehr als nur die Zeit anzeigt.55 In welcher Weise solche Anzeichen einer „anderen“ Wirklichkeit wahrnehmbar werden, welche Bedeutung hierbei moralischen und religiösen Erfahrungen zukommt, ist Thema von Überlegungen, mit denen das Buch abschließt (Kap. 5). Sie stehen im Kontext der Diskussion um die Selbstverortung theologischen Denkens, die nicht nur Verfechter und Verächter sozialethischer Diskurse angeht.55.1

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