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1. Problemskizze: Sozialethik und Zeitdiagnose

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Was vor einigen Jahrzehnten noch ein Grund war, dem Christentum soziales Versagen vorzuwerfen – das fehlende Engagement in politischen, sozialen und kulturellen Fragen – wird seit einigen Jahren zum Anlass genommen, ihm ein Versagen in Religionsdingen vorzuhalten. Man legt ihm zur Last, sich im Einlassen auf moralische Fragen selbst säkularisiert zu haben. In Gestalt einer gesellschaftlich angepassten „Zivilreligion“ biete es spirituellen Flankenschutz bei der Bewältigung innerweltlicher Probleme, die sich angeblich ebenso gut auch ohne solche Hilfe lösen lassen. Die Glaubenswelt der Christen sehen ihre Kritiker so weit psychologisiert und soziologisiert, dass daraus ein Gemisch aus Psychotherapie, Meditationsanleitungen, Sozialarbeit und Kulturmanagement geworden sei, aber nichts mehr von Transzendenz und Erlösung, vom Sakralen, Heiligen und Mystischen vernehmbar werde.1 So ändern sich die Zeiten! Ist es also wieder Zeit, von Mystik statt von Politik, von Kontemplation statt von Aktion zu reden? Oder ist hier bloß ein bestimmter Zeitgeist am Werk, der im Christentum als religiöses Zeugnis nur gelten lässt, was sich abseits des Politischen manifestiert?

Beide Fragen steigern die ohnehin beträchtliche Verlegenheit bei den Versuchen, das Religiöse im Säkularen zu behaupten. Um zu verhindern, dass die Zeit über das Christentum hinweggeht, scheint es entweder angezeigt, sich ständig und ausschließlich tagesaktuellen Themen zu widmen. Oder es legt sich nahe, eine Zuständigkeit für das Zeitlose und Überzeitliche zu behaupten. Allerdings reißt diese Alternative auseinander, was zusammengehört: Zeit- und sachgemäß ist christliches Handeln in der Tat nur dann, wenn es sich auch Fragen stellt, die über den Tag hinaus von Belang sind. Dazu muss der oft unbemerkte Horizont der Zeit selbst, vor dem sich etwas als belangvoll erweist, eigens thematisiert werden. Kaum anders lässt sich bestimmen, was „an“ der Zeit ist. Die Beschäftigung mit der Zeit ist jedoch immer ein Geschehen „in“ der Zeit. Sie ist sowohl Gegenstand als auch Bedingung dieser Erörterung. Dabei kann die Befragung der Zeit angemessen nicht ohne die Frage nach der Zeit der Befragung vorgenommen werden.

Christliches Handeln, das sich vom Evangelium her dafür sensibilisieren lässt, was in der Zeit an der Zeit ist, steht daher unter der Verpflichtung, sich seines jeweiligen Zeitkolorits zu vergewissern und resonanzfähig zu sein für die jeweiligen sozialen Herausforderungen. Eine solche Offenheit und Aufgeschlossenheit ist nicht mit Anpassung zu verwechseln. Christliche Zeitgenossenschaft kann durchaus in einem widerständigen Sich-Einlassen auf den Geist der Zeit bestehen. Widerspruch ist spätestens dann angezeigt, wenn Christentumskritiker einen Gegensatz zwischen Aktion und Kontemplation oder zwischen Mystik und Politik ausmachen. Ein solcher Gegensatz lässt sich theologisch nicht begründen.

Zeit - Diagnose

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