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1.2. Zeit des Wandels – Wandel der Zeit: Sozialethik unter Modernisierungsdruck

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Die Analyse neuer sozialer Fragen hat sich in den letzten Jahren innerhalb der Soziologie vorwiegend als Strukturanalyse vollzogen, wie auch die Sozialethik ihren Aufweis der gesellschaftlichen Nötigkeitsbedingungen moralischer Parameter sozialen Handelns mit diesem Ansatz korrelierte: Man begreift moderne Gesellschaften als ein komplexes Gefüge, das seine Grundfunktionen auf verschiedene Handlungsbereiche verteilt. Diese lassen sich als Teilsysteme definieren, die auf die Erfüllung bestimmter Funktionen (z. B. Wirtschaft, Verwaltung, Bildung, Gesundheit) spezialisiert sind und aufgrund ihrer Spezialisierung besonders effizient und kompetent arbeiten. Auftretende Probleme identifiziert man als Ausdruck der Optimierungsbedürftigkeit der bestehenden „arbeitsteiligen“ funktionalen Organisation der Gesellschaft. Sie werden daher am besten über ein Neuarrangement der verteilten Zuständigkeiten oder über die Schaffung weiterer funktionaler Teilsysteme zu bewältigen sein.24 Die Christliche Sozialethik hat diese Vorstellung funktionaler Differenzierung mit der Ausbildung entsprechender „Bereichsethiken“ (z. B. Wirtschaftsethik, Medienethik) adaptiert und sich vor allem an der Frage abgearbeitet, wie unter den Vorzeichen einer Gesellschaft mit verteilten Zuständigkeiten eine Kompatibilität hergestellt werden kann zwischen der Eigenlogik der instrumentellen und strategischen Vernunft in Wirtschaft, Technik und Politik einerseits und den Forderungen der ethischen Vernunft andererseits, die Gestaltung menschlichen Miteinanders gerade nicht allein der instrumentellen und zweckrationalen Vernunft zu überlassen.

Ein solcher Ansatz, der sich auf eine struktur-funktionale Betrachtung sozialer Wirklichkeit konzentriert, erfasst jedoch nicht alle Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens und seiner Veränderungen. Der Wandel im Ablauf und in den Folgen sozialen Wandels zeigt sich nämlich nicht nur im Strukturgefüge moderner Gesellschaften. Er verändert auch den Zeithorizont, innerhalb dessen sich die Umbrüche vollziehen. Zur Wahrnehmung der sozialen Folgen dieser Umbrüche gilt es nicht nur zu reflektieren, wie sich soziale Strukturen in und mit der Zeit verändern. Es ist auch zu fragen, wie sich der gesellschaftliche Umgang mit der Zeit selbst wandelt. Methodisch heißt das, Gesellschaftsanalyse und Sozialethik unter einem Blickwinkel zu betreiben, der die Veränderung gesellschaftlicher Zeitverhältnisse im Kontext von Modernisierungsprozessen erfasst. Diesen Perspektivenwechsel von der Struktur- zur Zeitanalyse legt nicht zuletzt die Tatsache nahe, dass in vielen drängenden (sozial)ethischen Herausforderungen der Gegenwart der Zeitfaktor eine zentrale Rolle spielt.

Besonders augenfällig ist dies im Überschneidungsfeld von Sozial- und Wirtschaftspolitik. So wirft etwa der demographische Wandel der Bevölkerung mit der steigenden „Lebenserwartung“ die Notwendigkeit einer verlängerten Lebensarbeitszeit auf, um die Belastung der Rentenkassen „strecken“ zu können. Gleichzeitig steht angesichts hoher Arbeitslosenzahlen die gewerkschaftliche Forderung nach (Wochen- bzw. Jahres-)Arbeitszeitverkürzung im Raum, um die vorhandene Arbeit besser zwischen Arbeitsuchenden und „Werktätigen“ verteilen zu können. In den Tarifauseinandersetzungen wird von der Arbeitgeberseite hingegen die Heraufsetzung der Arbeitszeit verlangt, um mit sinkenden Lohnkosten international besser konkurrenzfähig sein zu können, was wiederum der Sicherung der heimischen Arbeitsplätze zugute kommen soll.25 In welchem Maße sich hierbei ethische Probleme ergeben, wird spätestens dann deutlich, wenn die Rechnung aufgemacht wird über die Kosten für den Erhalt der sozialen Alterssicherungssysteme. Wenn immer weniger jüngere Berufstätige für immer mehr ältere, aus dem Berufsleben aus Altersgründen bereits ausgeschiedene Menschen jene Lasten zu schultern haben, die aus dem „Generationenvertrag“ entstehen, wird die Frage der „Generationengerechtigkeit“ virulent.26

Aber auch im Kontext von Wissenschaft und Technik führt die Größe „Zeit“ zu ethischen Problemstellungen: Wenn es um die Produktion gentechnisch veränderter Nahrungsmittel geht, steht zur Diskussion die Irreversibilität von Entscheidungen, die heute getroffen werden und deren möglicherweise negative Folgen erst spätere Generationen treffen. Hier wird an eine Grundfrage der Ethik gerührt: Inwiefern lassen sich Handlungen rechtfertigen, von denen nicht absehbar ist, welche Spätfolgen und Nebenwirkungen sie haben, die eventuell das erhoffte Gut zerstören, das diese Handlungen primär zu realisieren versprachen? Ist andererseits die Unterlassung von Handlungen, die gesellschaftlich erwünschte Güter und Werte zum Gegenstand haben, nur deswegen zu rechtfertigen, weil sie risikobehaftet sind?

Es ist der Faktor Zeit, der in vielen Fällen zunächst „bloß“ technische Sachverhalte zu ethischen Problemen macht und der gleichzeitig die Möglichkeiten und Grenzen ihrer gesellschaftlichen Bewältigung vorgibt. Zeitmangel und Zeitdruck definieren die Rahmenbedingungen sozialen und ethischen Handelns in der Gegenwart. Für viele anstehende Fragen z. B. in den Biotechnologien braucht die Menschheit eigentlich Bedenkzeit, die ihr zugleich unter dem Erwartungsdruck der erhofften Verbesserungen wieder streitig gemacht wird. Die Last der Verantwortung wiegt zudem durch die Kopplung von Wissen und Nichtwissen um künftige Gefährdungslagen noch schwerer: Einerseits wissen wir seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl (1986) recht präzise, was uns droht, wenn sich der GAU eines Kernkraftwerkes ereignet. Andererseits wissen wir kaum etwas über die Fernwirkungen gentechnisch veränderter Pflanzen in der Nahrungskette. Die Vermehrung gentechnischen Wissens führt keineswegs zur Reduktion des Nichtwissens. Sowohl die Zunahme des Wissens als auch die Zunahme des Unwissens erhöhen die Last menschlicher Verantwortung hinsichtlich des Tuns und Lassens. Dabei verändern sich auch permanent die bisherigen außermoralischen Anhaltspunkte für das Verantwortbare und für das Unverantwortliche. Aufgrund der enormen Innovationsrate in den Biotechnologien kommt in immer kürzeren Abständen eine Unbekanntheitskomponente in die Welt. Die Ereignisse nehmen eine Verlaufsform an, deren Zeitmaß aus keiner „Naturzeit“ und keiner Generationenfolge mehr abgeleitet werden kann. Alles ändert sich schneller, als man früher erwarten konnte und bisher erlebt hat.27

Paradoxerweise führen gerade diese Innovationen und die rasante Vermehrung des Wissens in der Gegenwart dazu, dass im Vergleich zu früheren Generationen der Bestand des Verlässlichen und die Reichweite der „Zukunftsgewissheit“ abnehmen. Während in der Vormoderne die Zukunft hinsichtlich der sozio-kulturellen Lebensverhältnisse im Wesentlichen der damaligen Gegenwart entspricht, nimmt diese Entsprechung mit der Dynamik modernisierungsbedingter Innovationen ständig ab. „Genau komplementär zur Dynamik unserer zivilisatorischen Evolution rückt damit diejenige Zukunft immer näher an die Gegenwart heran, in die wir nicht mehr hineinzuschauen vermögen“.28

Diese Form einer sozio-kulturell bedingten Zukunftsungewissheit versieht die klassische Grundfrage der Ethik mit einer speziellen Note. Ging es ihr immer schon um die Verantwortbarkeit von Handlungen, deren Wirkungen hinsichtlich des Erreichens eines erstrebten Gutes ungewiss sind, so erscheint diese Ungewissheit immer weniger als ein schicksalhaft hinzunehmender Umstand unseres Wollens und Tuns, sondern immer mehr als etwas gesellschaftlich Produziertes. Ungewissheit ist hier nicht die Folge von Unwissenheit, sondern Konsequenz eines enormen wissenschaftlich-technischen Wissenszuwachses.

Die Thematisierung solcher „Zeitfragen“ führt die Sozialethik keineswegs auf ein abseitiges Feld. Mit der Reflexion gesellschaftlicher Zeitverhältnisse sind alles andere als nachrangige soziale und ethische Fragen verbunden. Ebensowenig lässt sie sich an sogenannte „Bereichsethiken“ (z. B. Technikethik, Bioethik) delegieren. Insofern sich die neuen ethische Fragen, die in der „Wissensgesellschaft“ auftreten, durch den Faktor „Zeit“ definieren und dieser Faktor zugleich einer „sozialen Beziehungsform“ (N. Elias) korreliert, die kulturell geprägt, gesellschaftlich organisiert und biographisch-individuell stilisiert wird, rückt die Bearbeitung dieser Fragen vielmehr in den Kernbereich der Gesellschaftsethik. Sie muss sich sowohl um eine (kultur)soziologische Theorie der Zeit bemühen29, als auch auf den ethischen Aspekt gesellschaftlicher Zeitverhältnisse eingehen.

Beiden Aufgaben kann sich auch eine christlich inspirierte Sozialethik nicht entziehen. Die im letzten Jahrzehnt dominierende Konzentration der Sozialethik auf das Thema der Normenbegründung schien der direkte Weg, um den Anspruch einzulösen, Orientierungswissen in einer hochkomplexen Gesellschaft bereitstellen zu können. Aber vielleicht wurde damit der zweite Schritt vor dem ersten getan. Vielleicht ist es sinnvoller, als erste Reflexionsstufe der Ethik nicht die (Letzt)Begründung moralischer Normen anzusetzen, sondern eine Sondierung der konkreten Zeitumstände sozialen und sittlichen Handelns vorzunehmen. Ein solcher Ansatz trägt der Tatsache Rechnung, dass sich sittliches Handeln stets im Medium der Zeit vollzieht30 und dieses Medium zugleich Bestandteil der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit ist. Die solchermaßen „vergesellschaftete Zeit“ führt – wie noch ausführlicher zu zeigen ist – zu genuin sozialethischen Problemstellungen. Konzentriert auf die Zeitdimension des Sozialen und der Vernunft, die in gleicher Weise soziales Handeln und ethische Vernunft mitkonstituiert, kann somit eine bislang wenig beachtete Hinsicht thematisiert werden, unter der eventuell originäre und zugleich interdisziplinär anschlussfähige wissenschaftliche Orientierungsleistungen einer Christlichen Sozialethik möglich sind.

Zeit - Diagnose

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