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Vorwort
Wer auf unbekanntem Terrain ein bestimmtes Ziel erreichen will, ist auf Ortskundige angewiesen, die Auskunft geben können. Ebenso wichtig wie eine präzise Kenntnis des Ziels ist aber auch die Angabe des kürzesten Weges oder der schnellsten Verkehrsverbindung. Von Touristen wird an Einheimische daher meist die Doppelfrage gestellt, wo sich eine berühmte Sehenswürdigkeit befindet und wie man am schnellsten zu ihr findet. Dass verlässliche Orientierungen auf präzise Orts- und Zeitangaben angewiesen sind, gilt auch für die Ethik. Dabei gewinnt die Zeitdimension immer größere Bedeutung. Wie man am schnellsten vorankommt, ist für viele Zeitgenossen zur lebenspraktischen Leitfrage geworden. Das ist leicht nachvollziehbar, wenn das Ziel feststeht. Aber auch dort, wo jemand erst noch herausfinden will, was und wohin er oder sie eigentlich will, ist Tempo angesagt. Es gilt keine Zeit zu verlieren. Das Primärziel ethischer Orientierung scheint die Reduzierung von Zeitverlusten und die Realisierung von Zeitgewinnen zu sein. Und wo ein Dissens über Ziele und Wege besteht, kann man sich zumindest auf den Imperativ verständigen: „Was immer Du tust und willst, erledige es möglichst rasch, damit wir an den Handlungsresultaten erkennen, was es mit Deinem Wollen und Tun auf sich hat!“
Wie man unter Zeitdruck zuverlässige Orientierungen bereitstellen kann, entwickelt sich für die Ethik zu einer zentralen Aufgabe, an der sich ihre Relevanz für die Lebensführungskompetenz von Individuen entscheidet. Die Sparte der Ratgeberliteratur für Zeitmanagement profitiert in hohem Maße von einer ungebrochenen Nachfrage, wie man aus der Not der Zeitknappheit die Tugend der Zeitsouveränität machen kann. In einer Gesellschaft, die Lösungen favorisiert, die sich im Handumdrehen realisieren lassen oder auf Knopfdruck abrufbar sein sollen, besteht jedoch eine große Verlegenheit, wenn Orientierungen für das Agieren sozialer Systeme anstehen, von denen Steuerungs- oder Anpassungsleistungen im Blick auf einen fulminanten technisch-wissenschaftlichen und sozio-kulturellen Wandel erwartet werden. Wenn es um die Ermittlung sozialen Orientierungsbedarfs, um die Begründung und Operationalisierung normativer Handlungsregeln geht, gewinnt die Zeitdimension auch hier beträchtlich an Bedeutung. Bisher ist diese Herausforderung in der Sozialethik nicht systematisch reflektiert worden – zu ihrem eigenen Nachteil! Die folgenden Überlegungen wollen als ein Plädoyer für die Einsicht verstanden werden, dass von der Bewältigung dieser Herausforderung nicht allein die Sicherung der „Moralität“ der Modernisierung der Gesellschaft, sondern auch die Zeit- und Sachgemäßheit der Sozialethik abhängen. Zu einem Plädoyer gehört es, in einem Streitfall Indizien, Beweise und Zeugenaussagen zusammenzutragen und daraus ein Gesamtbild entstehen zu lassen, das bestimmte Schlussfolgerungen erlaubt. Nicht immer sind diese Folgerungen zwingend, aber sie sollten doch nahe liegen. Plädoyers sind stets auch Appelle an die kritische Urteilskraft ihrer Adressaten. Sie wollen nicht zu etwas nötigen, sondern von etwas überzeugen.
Zwar versucht dieses Buch mit seinem Plädoyer für eine im Zeitalter beschleunigter sozialer Veränderungen notwendige „Ethik der Zeit“ einen großen Bogen zu schlagen von der Grundlagenreflexion bis hin zur Entwicklung von Handlungsperspektiven für ein Umgehen mit den Zeitstrukturen sozialer Systeme. Dennoch kann dabei nicht jenes Maß an Ausführlichkeit realisiert werden, das mit der Idee der Vollständigkeit verknüpft ist. Dies ist nicht zuletzt dem Thema geschuldet. Wer über Ethik im Zeitalter der Beschleunigung schreibt, steht unter Zeitdruck und unterliegt den Restriktionen der Zeitknappheit. Ethische Überlegungen stehen auch dann unter diesen Zwängen, wenn von ihnen erwartet wird, dass ihre Beiträge zur Lösung anstehender Probleme über den Tag hinaus Bestand haben sollen. Es mag mir daher nachgesehen werden, dass ich angesichts meines eigenen begrenzten Zeitbudgets und im Blick auf die nicht unbegrenzten Zeitressourcen der Leserinnen und Leser diesem Buch einen Umfang gegeben habe, der keine allzu zeitraubende Lesearbeit erfordert.
Mein besonderer Dank gilt dem Verlag und dem Lektorat der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, das den Anstoß für dieses Projekt gegeben und mich zu rechten Zeit daran erinnert hat, es zum Abschluss zu bringen. Gewidmet sind diese Studien meiner Frau Gabriele. „Die Liebe bleibt“ (1 Kor 13,8) – auch wenn die Zeit vergeht.
Köln, im März 2006
Hans-Joachim Höhn