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1.1. Gesellschaft begreifen – Gesellschaft gestalten: Christliche Sozialethik zwischen Theorie und Praxis

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Dass der christliche Glaube zu tun gibt, gehört zu den Anfangssätzen theologischer Reflexion. Damit wird frühzeitig klargestellt, dass die Grundverfassung des Glaubens durch seine Praxis definiert wird.2 Er besteht nicht bloß in „Gedanken und Worten“, sondern will in unterschiedlichen Lebensbereichen „am Werk“ sein. Wenn dem Christentum etwas an den Menschen und ihren Nöten liegt, kommt es nicht an der Einsicht vorbei, dass „jeder Tag seine Plage“ hat (vgl. Mt 7,34). Evangeliumsgemäß ist christliches Leben nur dann, wenn es den Menschen gerecht wird, die Tag für Tag von den Nöten des Lebens geplagt werden. Christen geraten daher in einen Selbstwiderspruch, wenn sie behaupten an Gott zu glauben und diese Behauptung für ihre Lebenspraxis keine Konsequenzen hat. Ein derart folgenloser Glaube ist ein „toter Glaube“ (vgl. Jak 2,17). Folglich rückt das „wahre“ Christsein in die Nähe jener Angelegenheiten, die besser getan als gedacht werden.

In der Tat kann über den Glauben nur so nachgedacht werden, dass sein Inhalt nicht bloß gedacht wird. Allerdings nimmt sein Inhalt bald Schaden, wenn er unbedacht oder gedankenlos praktiziert wird. Zumal der christliche Glaube nicht bloß zu tun, sondern auch zu denken gibt. Gerade seine Praxis führt dazu, dass das Subjekt des Glaubens auf andere Gedanken kommt und andere nachdenklich macht. Damit ist nicht die Lizenz verknüpft, den Glauben zu „verkopfen“, sondern die Verpflichtung gegeben, angesichts der an ihn gestellten Herausforderungen nicht „kopflos“ zu (re)agieren. Sich mit dem Glauben zu beschäftigen und ihn ins Werk zu setzen, bedeutet stets auch Kopfarbeit. Aber gerade bei dieser Form der Nachdenklichkeit wird man nicht umhin können, zur rechten Zeit an den Vorrang der Praxis vor der Theorieproduktion zu erinnern.

Dieser Verschränkung von Theorie und Praxis haben alle theologischen Disziplinen Rechnung zu tragen. Dies gilt natürlich auch für eine Christliche Sozialethik, welche auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Konsequenzen christlicher Glaubenspraxis zu reflektieren hat. Geleitet von einer klaren Option für die Opfer struktureller Ungerechtigkeit soll sie nach dem Beitrag dieser Praxis für den Aufbau und Erhalt gerechter Strukturen menschlichen Miteinanders fragen. Nicht nur wissenschaftstheoretische Gründe legen es nahe, für die Grundlegung und den Aufbau einer christlichen Gesellschaftsethik das Layout einer Theorie sozialen Handelns zu wählen.3 Vor allem ist es ihr religiöser Bezugsrahmen4, der dieses Theorieformat verlangt: Der christliche Glaube ist selbst die Konsequenz einer Praxis, in der sein Grund im Widerstreit von Freiheit und Unterdrückung erfahrbar geworden ist. Gerade weil das Grundereignis des Glaubens – die Offenbarung der unbedingten Zuwendung Gottes zum geschundenen, gequälten und missachteten Menschen – nicht jenseits des Politischen und Ökonomischen stattgefunden hat, ist seine Praxis folgenreich für jene Bereiche, die scheinbar diesseits des Religiösen liegen. Das Christentum ist politisch dadurch, dass es nicht christlich wäre, wenn es unberührt bliebe von der aus politischer Gewalt und ökonomischer Macht resultierenden Unfreiheit und Ohnmacht des Menschen; es wäre nicht christlich, wenn es sich unbeeindruckt zeigte von gesellschaftlichen Schieflagen und Pathologien, die aus technisch-wissenschaftlichen und ökonomischen Modernisierungsprozessen resultieren.5 Die theologische Identität einer Christlichen Sozialethik als Handlungstheorie christlicher Zeitgenossenschaft hängt somit daran, dass sie Antworten geben kann auf die Fragen: Welche Konsequenzen hat christliches Handeln im Kontext des Politischen und Ökonomischen, wenn es auf evangeliumsgemäße Weise sach- und zeitgemäß ist? Inwieweit kommt dieses Handeln den heutigen Modernisierungsverlierern zugute?

Mit dieser auf den ersten Blick anwendungsorientierten Frage, die auf den Öffentlichkeitsanspruch und die soziale Relevanz christlichen Handelns abzielt, ist zugleich angedeutet, welche speziellen Begründungsleistungen von einer christlichen Sozialethik erwartet werden. Sie hat Hinsichten und Kriterien zu ermitteln, angesichts derer sich die Konsequenzen christlichen Handelns für Aufbau und Erhalt einer gerechten Ordnung des Sozialen unter den Bedingungen weltanschaulicher Pluralität als zustimmungsfähig erweisen lassen. Zustimmungsfähig müssen diese Konsequenzen in dem Sinne sein, dass man sie vernünftigerweise wollen kann. Nur dann sind sie auch politisch belangvoll. Zu diesem Zweck ist jedoch nicht auf die Geltungsgrundlage des Glaubens, sondern der Vernunft zu rekurrieren, auf deren Basis sich Kriterien des allgemein Zustimmungsfähigen identifizieren lassen.

Daran ändert sich nichts in einer „postsäkularen Gesellschaft“ (J. Habermas), die erkennen muss, dass trotz zahlreicher Entmythologisierungs-und Säkularisierungswellen religiöse Sinnsysteme fortbestehen und sogar eine wichtige „vorpolitische“ Ressource eines liberalen Gemeinwesens bilden können. Selbst religiös „unmusikalische“ Denker räumen ein, dass es moralische Einstellungen und Empfindungen gibt, für die nur in religiöser Sprache hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Dazu zählen vor allem „Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge.“6 Aber nicht allein für die Wahrnehmung „beschädigten Lebens“ (Adorno), sondern auch für die Bestimmung der Gehalte geglückten Daseins kann und muss sich die säkulare Vernunft im Blick auf religiöses Denken aufgeschlossen zeigen. Es gibt nach J. Habermas durchaus philosophische Gründe, die dafür sprechen, dass wir den Gehalt der Begriffe Moralität und Sittlichkeit, Person und Individualität, Freiheit und Emanzipation, Humanität und Gerechtigkeit nicht „ernstlich verstehen können, ohne uns die Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Herkunft anzueignen“.7 Nach Habermas führt die Tradition des Christentums im Blick auf die ethische Vernunft inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich. Ohne deren sozialisatorische Vermittlung könnte „eines Tages dieses semantische Potential unzugänglich werden; dieses muß sich jede Generation von neuem erschließen, wenn nicht noch der Rest des intersubjektiv geteilten Selbstverständnisses, welches einen humanen Umgang miteinander ermöglicht, zerfallen soll“.8 Die Moderne hat nicht pauschal „die“ Religion hinter sich, sondern bestimmte Formen einer Säkularisierung der Religion und ist – angesichts der Dialektik mancher Modernisierungsprozesse – mit der Entmythologisierung ihrer selbst konfrontiert.

Gleichwohl bedeutet das nicht, dass die Moderne ihre eigene normative Kraft völlig aufgezehrt hat und ihre Leitideen – Autonomie und Emanzipation – jetzt wieder Platz für jene Autoritäten machen müssen, an deren Stelle sie sich gesetzt haben. Religion und Glaube können nicht einfachhin ihre alten Ränge in Kultur und Gesellschaft wieder beanspruchen. Denn es braucht eine „sozialisatorische Vermittlung“ ihrer semantischen Gehalte, die dem Anspruchsprofil der Moderne entspricht. Mit dem humanen Gedächtnis der Gesellschaft, mit ihren religiös-kulturellen Traditionen darf nicht traditionalistisch, sondern muss kommunikativ und innovativ umgegangen werden. Ihre Inspirationen und Ansprüche an Modelle und Ideale eines „guten Lebens“ müssen dabei in eine säkulare Sprache übersetzt und darin argumentativ vertreten werden, wollen sie die Zustimmung säkularisierter Zeitgenossen finden.9 Regenerative Kraft für das normative Bewußtsein einer Gesellschaft können diese Gehalte um so eher entwickeln, je mehr es gelingt, sie aus einer säkularen Gegenperspektive plausibel zu machen.

Die Beteiligung an solchen Übersetzungen macht eine Christliche Sozialethik keineswegs zu einer Angelegenheit grauer Theorie, für deren Praxisrelevanz man schwarzsehen muss. Vielmehr trägt sie dazu bei, dass christliches Handeln ganz bei seiner Sache bleiben kann. Die Ermittlung und Herbeiführung von Konsequenzen christlicher Glaubenspraxis kann nicht unabhängig erfolgen von der Identifikation bestimmter Bedingungen, unter denen christliches Handeln steht. Es handelt sich hierbei um Bedingungen, die auf verschiedenen Ebenen zu orten sind und unterschiedliche Arrangements ihrer Rekonstruktion und Identifikation verlangen. Eine zentrale Aufgabe Christlicher Sozialethik besteht in der Bestimmung von empirisch feststellbaren Umständen, unter denen christliches Handeln faktisch steht. Es wäre aber unzureichend, daraus eine Normativität des Faktischen zu machen. Es gibt weitere Bedingungen, die für dieses Handeln konstitutiv und normativ sind, die vom Evangelium her vorgegeben sind. Was derart in der Sozialethik „Sache“ ist, hat in mehrfacher Hinsicht Folgen für ihr Theoriedesign und für ihre Praxisrelevanz. Eine erste Folge besteht in ihrem interdisziplinären Charakter.

Wenn als Ziel einer Christlichen Sozialethik das Begreifen und Gestalten der Strukturen und Prozesse moderner Gesellschaften definiert wird, in denen die solidarische Verwirklichung individueller Freiheit möglich werden soll, hängt die Kompetenz dieser Disziplin davon ab, dass ihre Vertreter/innen die Probleme des Begreifens und Gestaltens, d. h. die Vermittlung von Theorie und Praxis nicht allein aus der Theorie kennen. Ebenso wie Fragen der Reflexion und Konkretion greifen hier analytische und normative Aufgaben ineinander. Dies legt auch das Verständnis gesellschaftlicher Wirklichkeit nahe, wie es etwa von Seiten der Philosophie formuliert wird, indem sie Faktisches und Normatives legiert: „Eine moderne Gesellschaft ist … ein System der Kooperation, dessen Rechte und Pflichten sich lohnen müssen“.10 Eine solche Definition hat durchaus Einfluss und Rückwirkungen auf Selbstverständnis, Ansatz und Methode der Sozialethik. Sie ist eine Disziplin, die ihrerseits auf Kooperationen angewiesen ist.

Die Christliche Sozialethik kann die ihr gestellten Aufgaben nur als eine „interdisziplinäre Disziplin“ bewältigen. Sie muss Bezug nehmen auf die Ergebnisse empirisch-historischer Sozialforschung, auf die philosophischen Diskurse zur Begründung ethischer Normen sowie auf die Vermittlung ihrer Prinzipien und Postulate mit den spezifischen Handlungslogiken der funktionalen Teilsysteme moderner Gesellschaften.11 Erst in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen soziologischen, philosophischen und ökonomischen (bzw. technischen oder politischen) status quaestionis kommt sie zu eigenen Aussagen. Ohne diesen beträchtlichen Aufwand ist eine begleitende Reflexion der zeitgemäßen Übersetzung des Glaubens in die soziale Lebenswelt kaum möglich, wie auch einer sachgemäßen theologischen Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse die analytische Schärfe fehlen würde. Eine sich allein auf die prophetischen Traditionen der Bibel stützende Gesellschaftskritik droht zum bloßen Alarmismus oder zur kulturpessimistischen Weltverdrossenheit zu führen.

Die Zeiten sind längst vorbei, da eine Christliche Sozialethik lediglich als Hermeneutik kirchenoffizieller Lehr- und Mahnschreiben auftreten konnte. Die sozialethische Zunft muss versuchen, auf anderen Wegen Profil zu gewinnen. Dass sie dabei auch auf die Wege anderer Disziplinen einzuschwenken hat, steht außer Frage. Die Publikationen der letzten Jahre, die sich vor allem auf Fragen der Normenbegründung, Gesellschaftsanalyse und sozio-kulturellen Normenimplementierung konzentriert haben, zeichnen sich darum durch ausführliche Bezugnahmen auf die jeweils aktuellen und einflussreichsten Ansätze der philosophischen Ethik und Gesellschaftstheorie aus.12 Ihr Primärziel besteht darin, Anschluss zu gewinnen an die unter „nachmetaphysischen“ Vorzeichen stehenden Debatten um Ort und Funktion moralischer Kommunikation. Denn das Instrument metaphysisch-naturrechtlicher Argumentation, mit dem Theologie und Kirche „in den Gesprächen mit der säkularen Gesellschaft und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliert und die Grundlagen für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft“ gesucht haben, ist längst „stumpf geworden“13. Zum anderen geht es um die Ermittlung von Regeln und Verfahren ethischer Urteilsfindung, die auch in weltanschaulich pluralen Gesellschaften Konsensbildungen in moralischen Fragen ermöglichen.

Die soziologisch-ethische Doppelaufgabe der Sozialethik besteht nach Überzeugung der meisten Fachvertreter/innen vor diesem Hintergrund darin, über eine Analyse der Struktur moderner Gesellschaften, ihrer Wandlungstendenzen und Umbrüche anhand eines rational ausweisbaren „moral point of view“ diese Strukturen und Prozesse sozialen Wandels unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit, des Gemeinwohls und der Umweltverträglichkeit ethisch zu qualifizieren sowie Wege einer optimalen Operationalisierung sozialethischer Basisprinzipien (z. B. Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit) zu suchen.14

Es geht also zunächst um den Nachweis, dass je moderner die moderne Gesellschaft wird, Ethik nicht als umso verzichtbarer erscheint, sondern sich als tauglich erweist für die Bewältigung von Fragen, die Ökonomie, Politik und Technik hervorbringen, jedoch mit eigenen Mitteln nicht lösen können. Aber der Anspruch der Ethik würde halbiert, würde man sie bloß als Reparaturwerkstatt gesellschaftlicher Restprobleme in Anspruch nehmen. Auch in den Fragen nach der Konstitution sozialer Ordnung geht es bereits um ethische Belange: Gibt es nicht-ökonomische Funktionsbedingungen der Ökonomie, zu denen die ökonomische Vernunft um ihrer eigenen Rationalität willen ein vernunftgemäßes Verhältnis unterhalten muss? Ist eine liberale Demokratie nicht doch weitaus stärker, als bisher bestritten oder behauptet wurde, auf religiös-moralische Ressourcen angewiesen, die sie innerhalb ihres eigenen Regelwerkes nicht reproduzieren kann?

Bei der Beantwortung dieser Fragen werden von einer sach- und zeitgemäßen Sozialethik materiale und formale Anschlussleistungen verlangt. Materialiter geht es um die Bezugnahme auf das ethisch-politische Projekt der Moderne: die Herstellung sozialer Gerechtigkeit auf dem Weg der solidarischen Verwirklichung individueller Freiheit. Formal geht es um die Vermittlung dieser Ziele mit dem ökonomischen Projekt der Moderne: die Herstellung von Wohlstand als Resultat marktförmiger und konkurrenzbestimmter Interaktionen. Ein Kernproblem ist dabei die Zuordnung von Prinzipien der solidarischen und zweckfreien Anerkennung von Personen mit Prinzipien des wechselseitigen Vorteilstausches unter freien Individuen als Marktsubjekten. In Zeiten, die das Projekt der Moderne nur noch als ein ökonomisches verstehen, sind besondere Anstrengungen verlangt, um die soziale Relevanz ethischer Imperative zu verdeutlichen. Die Sozialethik muss zeigen, dass es ökonomisch bedingte soziale Fragen gibt, für deren ethische Bewältigung keine ökonomischen oder technischen Äquivalente existieren15. Damit sind jedoch noch nicht alle Begründungspflichten erfüllt. Es ist eigens nachzuweisen, dass die in Aussicht genommenen ethischen Bewältigungsstrategien allgemein einsichtig gemacht werden können. Hier steht die Gültigkeit, die normative Richtigkeit dessen, was sein soll, und seine allgemeine Zustimmungsfähigkeit auf dem Prüfstand. Dabei kann auch nicht auf den Nachweis verzichtet werden, mit welchen Mitteln diese Zustimmungsfähigkeit aufgewiesen werden kann.

Die Begründungsleistungen der Sozialethik beziehen sich somit auf die gesellschaftlichen Nötigkeitsbedingungen moralischer Werte und Normen sowie auf die Möglichkeitsbedingungen ihrer Begründung. Neben diesen Relevanz- und Plausibilitätsproblemen sind aber auch immer die empirischen Geltungsbedingungen moralischer Normen im Blick zu behalten: Wer den Nachweis führt, dass eine Norm gültig ist, d. h. hinsichtlich ihrer Notwendigkeit und Plausibilität hinreichend begründet, muss auch wollen, dass sie gilt, d. h. in der Lebenswelt und/oder in den funktionalen Teilsystemen zur Geltung kommt und dort wirksam wird. Unter dieser Rücksicht zählt somit auch die Analyse der Geltungsbedingungen für die Umsetzbarkeit moralischer Normen zu den Begründungspflichten der Sozialethik. Wenn es stimmt, dass die Geltungsbedingungen die Gültigkeit einer Norm tangieren, dann handelt es sich hierbei nicht bloß um Anwendungsdiskurse, vielmehr sind diese – in Erinnerung an den Grundsatz „ultra posse nemo tenetur“ – auch für Begründungsfragen relevant.

Da eine Christliche Sozialethik nicht mehr davon ausgehen kann, dass gesellschaftliche Integrations- und Koordinationsleistungen auf der Basis von religiös-metaphysischen Weltbildern gelingen können, muss sie sich an nicht-theologischen „Begründungsdiskursen“ beteiligen. Wenn sie sich nicht damit abfinden will, in der Verwaltung der Sondermoral einer religiösen „Parallelgesellschaft“ zu verkümmern, bleibt ihr nur die Möglichkeit, ihre Prinzipien und Postulate vor die Instanz der diskursiven Vernunft zu bringen. Allein vor ihr kann unter den wertpluralistischen Bedingungen der Moderne über die allgemeine Zustimmungsfähigkeit moralischer Orientierungen produktiv gestritten werden. Unumgänglich ist ebenso die Auseinandersetzung mit struktur- und institutionenethisch konzipierten Entwürfen, deren Zentralthema die Frage nach der gesellschaftlichen Implementierung moralischer Normen ist. Schließlich ist auch zu sondieren, wie es um die lebensweltlichen Ressourcen und Resonanzräume des sozialen Engagements von Christen bestellt ist bzw. welche Akteure, Gruppierungen, Initiativen, Verbände als Subjekt gesellschaftsverändernder, wertorientierter sozialer Interaktion in Frage kommen.

Zusammenfassend lassen sich folgende Reflexionsstufen einer wissenschaftlich anspruchsvollen und interdisziplinär angelegten Sozialethik bestimmen:

(1) Aufweis der Relevanz moralischer Praxis für die Bewältigung von Fragen, die Ökonomie, Politik, Technik und Medien hervorbringen, aber mit eigenen Mitteln nicht lösen können (Bestimmung der Nötigkeitsbedingungen von „Moral“);

(2) Nachweis der Rechtfertigungs- und allgemeinen Zustimmungsfähigkeit der Inhalte und Folgen moralischer Praxis (Erfüllung der rationalen Plausibilitäts- und Gültigkeitsbedingungen von „Moral“);

(3) Identifizierung der empirischen Implementierungs- und Geltungsbedingungen moralischer Normen sowie der Akteure ethisch-sozialer Initiativen (Nachweis der Operationalisierbarkeit von „Moral“).

Ein sozialethischer Entwurf, der sich auf diesen Reflexionsstufen bewegt, erfüllt auf den ersten Blick alle Anforderungen der Interdisziplinarität und akademischen Qualitätssicherung.16 Bei näherem Hinsehen nimmt sich jedoch das kooperative Moment dieser Interdisziplinarität oft sehr gering aus. Meist verhält es sich so, dass die Christliche Sozialethik – nach einem Diktum Niklas Luhmanns über die Theologie im Allgemeinen – mehr nimmt, als sie gibt. Dass sie vornehmlich als Abnehmerin von Theorien, Methoden und Begriffen auftritt, macht sie für die übrigen Wissenschaften nur bedingt interessant. Ein Austausch zum allseitigen Vorteil liegt erst dort vor, wo alle Beteiligten etwas produktiv einbringen, das für alle belangvoll erscheint. Die Christliche Sozialethik gerät jedoch in einige Verlegenheit, wenn sie nach einem Beitrag gefragt wird, der den Erkenntnisstand anderer Disziplinen vermehrt. Ebenso ist die Frage nach ihrem wissenschaftlichen „Proprium“ zwar oft gestellt, aber meist nur vage beantwortet worden.17

So sind Theologen bei der Teilnahme an ökologisch-ethischen Debatten zwar zunächst willkommen. Denn „sie stehen nicht unter Motiv- oder Interessenverdacht, bieten argumentative Kompetenz und sind unbestreitbar guten Willens“.18 Doch fällt manchem Vertreter anderer Disziplinen auf: „Ihre Beiträge zur ökologischen Diskussion bleiben gleichwohl mehr als dürftig. Weithin wiederholen sie nur, was ohnehin gedacht und gemeint wird ohne spezifisch religiösen Bezug. (…) Man liest, dass Technik, Wissenschaft und ökonomische Verhältnisse nicht selbst zum allein dominierenden Herrschaftsträger … werden sollen. Wer so formuliert, kann es ebensogut auch bleiben lassen. Es reicht nicht. Und es hilft nichts, wenn man solche Aussagen dann nochmals theologisch reformuliert und sie auf Gott bezieht.“19

Verwundern muss dies niemanden: Bei der Rekonstruktion eines Verfahrens zur Rechtfertigung allgemein geltungsfähiger moralischer Normen gibt es keine Alternative zur praktischen Vernunft und deren Autonomie (und für die Aufgabe einer Letztbegründung von Moral überhaupt dürfte für geraume Zeit kein Weg an einer Diskurstheorie der praktischen Vernunft vorbeiführen).20 Bei der Ermittlung der sozio-kulturellen Bedingungen und Folgen sozialen Handelns gibt es ebensowenig eine Alternative zum Ansatz empirischer Sozialforschung.21 Und hinsichtlich einer effizienten Umsetzung moralischer Zielvorstellungen ist die Logik der Ökonomik22 dem überkommenen Repertoire einer sich um Praxisrelevanz mühenden Sozialethik deutlich überlegen, die sich entweder appellativ-paränetisch an das soziale Gewissen (von Menschen guten Willens) richtet oder im Design der Diskursethik auf den zwanglosen Zwang triftiger rationaler Argumente (und den Willen zur Vernunft) setzt.

Damit gerät eine Christliche Sozialethik in die „Klemme“ zwischen verschiedene, höchst eigenständige Disziplinen, die ihr allenfalls die Funktion des Moderierens und Dolmetschens zwischen dem Normativen und dem Faktischen überlassen. Originäre sozialethische Orientierungsleistungen scheint sie nicht erbringen zu können. Damit wird aber jenes Niveau unterboten, das interdisziplinäre Arbeit auszeichnet. Sie lebt davon, dass sich verschiedene Disziplinen mit ihrem jeweils eigenen Methoden- und Begriffsrepertoire gegenseitig herausfordern und in ihren Theorieformaten voranbringen. Die Christliche Sozialethik löst jedoch auf Seiten ihrer primären Bezugswissenschaften primär Immunreaktionen aus.23 Offensichtlich hat sie nichts Eigenes anzubieten, was auf den Reflexionsstufen der Sozialanalyse, Normenbegründung und -operationalisierung für die anderen von Belang ist.

Daran wird sich auch nichts ändern, solange sie in Ansatz, Methode und leitendem Interesse als Dublette von Soziologie, philosophischer Ethik und Ökonomik auftritt. Zwar resultiert diese Praxis aus dem zweifellos notwendigen Bemühen, sich gegenüber diesen Disziplinen auf deren eigenem Feld als dialog- und konkurrenzfähig zu erweisen. Aber es bleibt diffus, worin die originär theologisch-ethischen Orientierungsleistungen bestehen. Zum Mangel an materialem „input“ kommt ein psychologisches Problem hinzu: Welcher Soziologe, Philosoph oder Ökonom nimmt einem Theologen den Anspruch ab, ein zumindest ebenso guter Soziologe, Philosoph oder Ökonom zu sein? Erst wenn es gelingt, ein für die theologische Theoriebildung konstitutives Thema auf den skizzierten Reflexionsstufen so zu formatieren, dass es sich auch als konstitutiv für Fragen der sozialwissenschaftlichen und ethischen Theoriebildung erweist, steigen die Aussichten, dass die interdisziplinäre Handelsbilanz für die Theologie wieder günstiger ausfällt. Dies impliziert einen Paradigmenwechsel sowohl bei der Bestimmung der gesellschaftlichen Nötigkeitsbedingungen sozialethischer Orientierungsleistungen als auch bei der Erörterung ihrer Plausibilitätsbedingungen.

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