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3. Unmittelbarer Einfluss einer individuellen Menschenkenntniss auf die Charaktereigenthümlichkeit.

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Nicht genug, dass eine vergleichende Anthropologie die Verschiedenheit menschlicher Charaktere kennen lehrt; sie trägt auch selbst dazu bei, eine grössere hervorzubringen, und die schon wirklich vorhandene zweckmässiger zu leiten.

Ob das Erstere aber nun ein Vortheil zu nennen sey, oder ob nicht vielmehr eine noch grössere Mannigfaltigkeit der Charakterformen der allgemeinen Richtigkeit und der Objectivität der Kultur, des Geschmacks und der Sitten Hindernisse in den Weg lege? diess dürfte in den Augen der Meisten noch so ausgemacht nicht seyn. Alle Werke, welche der Mensch hervorbringt, gewinnen durch eine allgemeine und von Subjectivität Einzelner unabhängige Behandlung einen besseren Fortgang, und selbst die Arbeiten des Geistes können hievon nur in gewisser Rücksicht ausgenommen werden. Ebenso wird den Verfassungen und den praktischen Verhältnissen unter den Menschen Dauer und Sicherheit mehr durch Gleichförmigkeit der Sitten, als durch die unregelmässigeren Einwirkungen ungewöhnlicher Individuen verbürgt.

Dagegen hängt Kraft, Erfindungsgeist, Enthusiasmus von Originalität ab, und ohne ausserordentliche und eigen gewählte Bahnen des Geistes würde nie etwas Grosses entstanden seyn.

Ueberhaupt ist Verschiedenheit der Charakterformen, wenn sie auch sogar schädlich seyn sollte, dennoch einmal schlechterdings unvermeidlich, und die Frage ist bloss die, ob man dieselbe blindlings dem Zufall überlassen, oder durch vernünftige Leitung zur Eigenthümlichkeit umschaffen soll? Auf diese aber kann die Antwort unmöglich anders, als Eine seyn.

Die vergleichende Anthropologie sucht den Charakter ganzer Classen von Menschen auf, vorzüglich den der Nationen und der Zeiten. Diese Charaktere sind oft zufällig; sollen denn auch diese erhalten werden? soll der Philosoph, der Geschichtschreiber, der Dichter, der Mensch seinen Namen, seine Nation, sein Zeitalter, sein Individuum endlich sichtbar an sich tragen? – Allerdings, nur recht verstanden. Der Mensch soll alle Verhältnisse, in denen er sich befindet, auf sich einwirken lassen, den Einfluss keines einzigen zurückweisen, aber den Einfluss aller aus sich heraus und nach objectiven Principien bearbeiten. So soll er seyn; wieviel er hernach hievon in den verschiedenen Gattungen seiner Thätigkeit zeige? hängt von den Erfordernissen dieser Gattung und der Natur seiner Individualität ab. Je mehr subjective Originalität er aber, dem objectiven Werthe des Werks unbeschadet, zeigen kann, desto besser.

Der Mensch kann wohl vielleicht in einzelnen Fällen und Perioden seines Lebens, nie aber im Ganzen Stoff genug sammeln. Je mehr Stoff er in Form, je mehr Mannigfaltigkeit in Einheit verwandelt, desto reicher, lebendiger, kraftvoller, fruchtbarer ist er. Eine solche Mannigfaltigkeit aber giebt ihm der Einfluss vielfältiger Verhältnisse. Je mehr er sich demselben öfnet, desto mehr neue Seiten werden in ihm angespielt, desto reger muß seine innere Thätigkeit seyn, dieselben einzeln auszubilden, und zusammen zu einem Ganzen zu verbinden. Das Zweckwidrige und Verderbliche ist bloss das unthätige Hingeben an einen einzelnen. Daraus entstehen die plumpen National- und Familiencharaktere, die uns in der Wirklichkeit unaufhörlich begegnen; daran aber ist die innere Schlaffheit und Trägheit, nicht die äussere Mannigfaltigkeit Schuld. Nach der Anleitung einer richtigen Bildungstheorie wird kein Mitglied einer Nation dem andern so auffallend ähnlich sehen; der NationalCharakter wird sich in allen Einzelnen spiegeln, aber gerade weil er in jedem durch den Einfluss aller übrigen Verhältnisse, und vorzüglich durch die prüfende und richtende Vernunft gemildert wird, so wird er im Ganzen nicht so plump und handgreiflich, dagegen reiner, eigenthümlicher, feiner und vielseitiger erscheinen.

Der Mensch ist allein genommen schwach, und vermag durch seine eigne kurzdauernde Kraft nur wenig. Er bedarf einer Höhe, auf die er sich stellen; einer Masse, die für ihn gelten; einer Reihe, an die er sich anschliessen kann. Diesen Vortheil erlangt er aber unfehlbar, je mehr er den Geist seiner Nation, seines Geschlechts, seines Zeitalters auf sich fortpflanzt. Was war ein Römer schon allein dadurch, dass Rom ihn gebohren hatte? Was ein Scipio dadurch, dass er aus dem Geschlecht der Kornelier stammte? Was sind die neueren Dichter schon einzig dadurch, daß sie den ganzen Reichthum Griechischer Dichtkunst als ihr Eigenthum behandeln, und sich auf einmal zu einer solchen Höhe emporschwingen?

Aber von der subjectiven Kenntniss der Natur zu ihrer objectiven Beschaffenheit scheint ein mächtiger Sprung zu seyn. Wie kann die Erweiterung und Verfeinerung der ersteren unmittelbar die Veredlung der letzteren befördern? – Unläugbar dadurch, dass beides: das Beobachtende und das Beobachtete hier der Mensch ist, dass dieser sich überall, selbst ohne es immer zu bemerken, seiner inneren Geistesform anpasst; und dass die Masse herrschender Begriffe sich immer endlich auf eine uns selbst oft unbegreifliche Weise, nicht bloss den Menschen, sondern sogar die todte Natur unterwirft.

Dass eine erweiterte Kenntniss der Charaktereigenthümlichkeit Charaktere richtiger beurtheilen, und zweckmässigere Methoden ihrer Behandlung auffinden lehrt, versteht sich hiebei von selbst. Aber auch bloss dadurch, dass man feinere Nüancen in dem Charakter entdeckt, modificirt sich derselbe in der That auf eine mannigfaltigere Weise; dadurch, dass man einzelne Gattungen studirt und ihre Formen so individuell, als sie sind, und so idealisch, als sie werden können, aufstellt, entwickeln sie sich wirklich reiner und bestimmter.

Der Charakter entsteht nicht anders, als durch das beständige Einwirken der Thätigkeit der Gedanken und Empfindungen. Dadurch dass diese gewisse Anlagen unaufhörlich, und andere niemals oder selten beschäftigen, werden die einen entwickelt und die andern unterdrückt, und so geht nach und nach die bestimmte Charakterform hervor. Durch diese durchgängige Correspondenz unsrer Art zu seyn und unsrer Art zu urtheilen, unsrer praktischen und unsrer theoretischen Beschaffenheit wird es uns möglich, bloss durch die Idee und von unserm Geiste aus thätig und praktisch auf uns einzuwirken. Man kann nichts durch den Verstand begreifen, was nicht auf irgend eine Weise in dem Gebiet der Sinne und der Empfindung angespielt ist; aber man kann auch nichts in sein Wesen aufnehmen, was nicht durch Begriffe einigermaassen vorbereitet ist. Man kann nicht einsehen, wofür man keinen Sinn hat, wozu der Stoff mangelt; aber man kann auch nichts seyn, wovon man gar keinen Begriff hat, wozu die Form fehlt.

Die Achtsamkeit auf das Charakteristische leistet aber noch mehr. Einestheils nimmt sie jeden Gegenstand zuerst und vorzüglich in seiner Beziehung auf das innere Wesen; anderntheils weckt sie den Charakter und erregt seine Thätigkeit. Sobald aber einmal der Charakter erwacht ist, so eignet er sich von allen Dingen, die auf ihn einwirken, immer von selbst nur das an, was ihm homogen ist; von allen Seiten her wird also Stoff und Nahrung auf einen einzigen Punkt hin zusammengetragen. Man sieht diess sehr deutlich an Charakteren, die von Natur heftig, leidenschaftlich und einseitig sind. Von diesen pflegt man mit Recht zu sagen, dass sie überall nur sich sehen, in alles nur sich hinüber tragen; darum wächst auch ihre Einseitigkit mit so verdoppelten Fortschritten. Der Fehler liegt aber bei ihnen nicht daran, dass ihre Individualität zu rege wäre, sondern nur daran, dass sie es durch Leidenschaft und Naturanlage wird. Würde sie aber durch eine Stimmung des Geistes rege gemacht, durch das Streben, überall eine schöne Individualität zu zeigen, so würde der Erfolg ganz und gar ein andrer seyn. Ein solcher Mensch würde gleichfalls alles charakteristisch auf sich einwirken lassen, und charakteristisch behandeln. Aber er würde dasjenige, was ihm heterogen wäre, nicht übersehen noch wegwerfen, sondern nur auf seine Weise und zu seinen Zwecken benutzen; er würde jeden Gegenstand durchaus objectiv und wie der Unbefangenste aufnehmen, der ganze, aber freilich wichtige Unterschied würde nur in dem Grade und der Art der Aneignung liegen. Der Contrast einiger auswärtigen Nationen mit der Deutschen zeigt diess sehr deutlich. Franzosen und Engländer gehen in auffallend bestimmten Charakterformen fort; aber sie behandeln auch sehr häufig die Welt um sich her nur auf ihre einseitige Weise, und verfehlen Wahrheit und Objectivität.

Vorzüglich aber bildet sich der Charakter gesellschaftlich zur Reinheit und Bestimmtheit aus, wenn er mit reinen und bestimmten Charakteren in Verbindung kommt. Es ist nicht die Aehnlichkeit allein, zu welcher sich einer dem andern anartet, es ist auch der Kontrast, in welchem sie sich einander entgegensetzen. Denn der moralischen, wie der physischen Organisation ist ein assimilirender Bildungstrieb eigen, der aber, sobald nur der eigne Charakter erst einige Bestimmtheit erlangt hat, nicht geradezu auf Aehnlichkeit, sondern auf eine verhältnissmässige Stellung der beiderseitigen Individualitäten gegen einander herausgeht. So wird der männliche Charakter reiner und männlicher, wenn ihm der weibliche gegenübergestellt ist, und umgekehrt. Uebrigens aber bemerkt man diese Eigenthümlichkeit freilich mehr bei einzelnen Individuen, als ganzen Gattungen. Vorzüglich wird sie noch bei Charakteren von Nationen vermisst, die im Verkehr unter einander noch immer mehr ihre Originalität entweder übertreiben oder aufgeben, als zweckmässig bestimmen und bilden. Selbst die äussre Gesichtsbildung erfährt einigermaassen diesen Einfluss, wie z. B. die gewiss nicht chimärische Aehnlichkeit von verheiratheten Personen unter einander beweist.

Wenn aber einmal Ein Schritt geschehen ist, so folgen die übrigen mit unglaublicher Leichtigkeit nach. Denn nichts wirkt so lebendig rund um sich her, als die menschliche Individualität. Vorzüglich wirkt in dieser Hinsicht die Abstammung, welche dasjenige, was bisher erworben ist, dem neuen Individuum als fertige Anlage überliefert, und so jedesmal das in ein sichres Eigenthum verwandelt, was solange nur ein minder sichrer Besitz schien.

Das Studium der Charaktere in ihrer Individualität vermehrt also diese letztere selbst. Dass aber von dieser, von der Mannigfaltigkeit der Charakterformen die Veredlung der Gattungen abhängt, davon ist auch ausser der menschlichen Natur ein merkwürdiges Beispiel vorhanden – das bekannte Phänomen nemlich, dass die Hausthiere mehr Rassen, mehr Varietäten, und endlich auch mehr individuelle Merkmale zeigen, als alle übrige Thiergattungen.

Wilhelm von Humboldt: Anthropologie und Theorie der Menschenkenntnis

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