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4. Zweck und Verfahren der vergleichenden Anthropologie im Allgemeinen. – Gefahr eines möglichen Misbrauchs.

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Das Bestreben der vergleichenden Anthropologie geht dahin, die mögliche Verschiedenheit der menschlichen Natur in ihrer Idealität auszumessen; oder, was dasselbe ist, zu untersuchen, wie das menschliche Ideal, dem niemals Ein Individuum adäquat ist, durch viele dargestellt werden kann.

Was sie sucht, ist also kein Gegenstand der Natur, sondern etwas Unbedingtes, – Ideale, die aber auf Individuen, auf empirische Objecte so bezogen werden, dass man sie als das Ziel ansieht, dem diese sich nähern sollen.

Könnte sie diesen Zweck erreichen, ohne zu der Beobachtung der wirklichen Natur herabzusteigen, so würde sie eine rein philosophische und speculative Wissenschaft bleiben. Und in gewissem Verstande kann sie diess in der That. Sie kann bloss bei dem allgemeinen Ideale des Menschen stehen bleiben; sie kann dasselbe nach seinen einzelnen Seiten zerlegen, und aus diesen einzelnen Virtuositäten einzelne idealische Gestalten bilden, in welchen sich um dieselben, als um die herrschenden Züge, die übrigen Eigenschaften, deren der vollkommen ausgebildete Mensch nicht entbehren kann, in gehöriger Unterordnung herum versammeln. In dem Ideale des Menschen findet sich z.B. Sinn für Schönheit und Streben nach Wahrheit, beide für sich in hoher Stärke, und gegeneinander in vollkommnem Gleichgewicht. Man zerlege diese beiden Tendenzen, mache jede zum Grundzug einer besondern Individualität, ergänze von diesem Gesichtspunkte aus die übrige Gestalt, und man erhält, ohne irgend eine specielle Erfahrung zu bedürfen, die reinen Charaktere des Künstlers und des Philosophen.

Aber um jene oben aufgestellte Foderung ganz zu erfüllen, muss die vergleichende Anthropologie sich nothwendig an eine strenge Beobachtung der Wirklichkeit gewöhnen, und sogar durchaus überall von dieser zuerst ausgehn. Denn

1. würde jenes mehr speculative Verfahren eine überaus nachtheilige Dürftigkeit, sowohl in der Mannigfaltigkeit aller Formen, als in der Bestimmtheit jeder einzelnen mit sich führen. Auch mit der glücklichsten Anstrengung würde es nicht möglich seyn, von da aus in eine nur irgend grosse Individualität herabzusteigen.

2. bedarf die Aufstellung des Ideales selbst einer gewissenhaften Beobachtung der Wirklichkeit. Denn diess Ideal ist nichts anders, als die nach allen Richtungen hin erweiterte, von allen beschränkenden Hindernissen befreite Natur.

3. leidet sie nur dann, wenn sie sich unmittelbar an die empirische Beobachtung hält, praktische Anwendung auf das wirkliche Leben, da sie sonst vergebens hohe Ideale aufstellen würde, wenn es ihr an Mitteln fehlte, dieselben an die Wirklichkeit anzuknüpfen.

Der Mensch entwickelt sich nur nach Maassgabe der physischen Dinge, die ihn umgeben. Umstände und Ereignisse, die auf den ersten Anblick seinem Innern völlig heterogen sind, Klima, Boden, Lebensunterhalt, äussere Einrichtungen u.s.f. bringen in ihm neue, und oft die feinsten und höchsten moralischen Erscheinungen hervor. Durch ein physisches Mittel, durch Zeugung und Abstammung, wird die einmal erworbene moralische Natur übertragen und fortgepflanzt, und dadurch nehmen die intellectuellen und moralischen Fortschritte, die sonst vielleicht vorübergehend und wechselnd seyn würden, gewissermaassen an der Stätigkeit und der Dauer der Natur Theil. Die physische Beschaffenheit des Menschen spielt daher bei der Bildung seines Charakters eine in jeder Rücksicht bedeutende Rolle.

Noch deutlicher, als bei einzelnen Individuen, ist diess bei der Betrachtung des ganzen Menschengeschlechts. Grosse Massen, Stämme und Nationen, behalten Jahrhunderte hindurch einen gemeinsamen Charakter, und selbst, wo derselbe grosse Veränderungen erleidet, sind noch die Spuren seines Ursprungs sichtbar. Gleiche Ursachen bringen durch alle Zeiten hindurch gleiche Wirkungen hervor, und durchaus wird man daher im Ganzen ziemlich dieselben Resultate ähnlicher Kräfte finden, denselben Einfluss der äusseren Lagen, dasselbe Spiel der Leidenschaften, dieselbe Macht des Guten und Wahren, mit dem es aus dem verworrensten Gewebe von Begebenheiten und in den mannigfaltigsten Gestalten hervorgeht. Ueberall verrathen die Handlungen der Einzelnen eine eigenmächtige Willkühr der Neigung, indess die Schicksale der Masse das unverkennbare Gepräge der Natur an sich tragen. Wieviel bestimmter und klarer noch würden wir diess einsehen, wenn wir uns nicht immer nur auf einen so kurzen Zeitraum berufen müssten, und auch bei diesem nicht so oft durch die Unvollständigkeit unsrer Kenntniss aufgehalten würden.

Dadurch nun wird die vergleichende Anthropologie genöthigt, nicht bloss von der Erfahrung auszugehen, sondern sich so tief als möglich in dieselbe zu versenken. Sie muss die bleibenden Charaktere der Geschlechter, Alter, Temperamente, Nationen usw. eben so sorgfältig aufsuchen, als der Naturforscher bemüht ist, die Racen und Varietäten der Thierwelt zu bestimmen. Ob es ihr gleich eigentlich und an sich durchaus nur darauf ankommt, zu wissen, wie verschieden der idealische Mensch seyn kann, muss sie den Anschein annehmen, als wäre es ihr darum zu thun, zu bestimmen, wie verschieden der individuelle Mensch in der That ist?

Ihre Eigenthümlichkeit besteht daher darin, dass sie einen empirischen Stoff auf eine speculative Weise, einen historischen Gegenstand philosophisch, die wirkliche Beschaffenheit des Menschen mit Hinsicht auf seine mögliche Entwicklung behandelt.

Bei der Verbindung einer naturhistorischen und einer philosophischen Beurtheilung leidet zwar gewöhnlich die erstere; hier indess drohet eine nicht minder grosse Gefahr auch der letzteren. Da die vergleichende Anthropologie die Charaktere von Menschengattungen aufsucht, so wird sie leicht verleitet, dieselben theils bestimmter, theils dauernder anzunehmen, als die Wirklichkeit sie zeigt, und die Würde des Menschen sie verstattet. Eine solche Tendenz aber muss der Ausbildung der menschlichen Natur im höchsten Grade verderblich seyn, deren Adel ganz vorzüglich auf der Möglichkeit einer freien Individualität beruht. Es ist hier die gefährliche Klippe, die man bei jedem Urtheil über den Menschen vermeiden muss, ihn immer zugleich und doch nie zu sehr als Naturwesen zu behandeln.

Hier indess ist diese Klippe bei weitem weniger gefährlich. Denn unsre Absicht hier ist bloss die, überhaupt individuelle Verschiedenheiten aufzusuchen, und zwar solche, die auch noch mit idealischen Foderungen verträglich sind; nicht aber die, das Menschengeschlecht naturhistorisch zu classificiren. Diess Letztere brauchen wir nur als Mittel zur Erreichung jenes Zwecks, theils um den Individuen selbst näher zu treten, das Dauernde und Wesentliche sicherer zu erkennen, und uns durch vorübergehende Zufälligkeiten weniger irre führen zu lassen, theils um den Gang der Natur selbst besser zu beobachten, auf welchem diese vermöge der Aehnlichkeit der Gattungen die Originalität der Individuen befördert, indem sie sie benutzt, dieselben zu bestimmen, ohne doch ihre Freiheit zu binden.

Möchten also auch Geschlechts- Temperaments- und Nationalcharaktere noch weniger bestimmt seyn, als sie es in der That sind, so ist diess kein Einwurf gegen das Gelingen einer vergleichenden Anthropologie. Denn dieser ist es genug, nur auf wesentliche Verschiedenheiten geführt worden zu seyn, und dasjenige, was sich nun immer im Object wirklich findet, für den praktischen Gebrauch gehörig geprüft und gewürdigt zu haben.

Wilhelm von Humboldt: Anthropologie und Theorie der Menschenkenntnis

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