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2. Wichtigkeit dieser Untersuchungen.

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Es giebt kein praktisches Geschäft im menschlichen Leben, das nicht der Kenntnis des Menschen bedürfte, und zwar nicht bloss des allgemeinen, philosophisch gedachten, sondern des individuellen, wie er vor unsern Augen erscheint. Es ist schwer bei der Erwerbung dieser Kenntniss den doppelten Fehler zu vermeiden, sich weder einen zu unbestimmten und allgemeinen, noch auch einen zu particulairen Begriff von dem Individuum zu bilden; es weder zu sehr bloss nach seinen möglichen Anlagen, noch zu sehr mit allen bloss zufälligen Beschränkungen zu betrachten. Durch den ersteren beraubt gewöhnlich der bloss speculirende Philosoph seine Grundsätze ihrer praktischen Anwendbarkeit; durch den letzteren der blosse Geschäftsmann seine Einrichtungen ihrer längeren Dauer und ihres wohlthätigen Einflusses auf die Aufklärung und den innern Charakter.

Um zugleich den Menschen mit Genauigkeit zu kennen, wie er ist, und mit Freiheit zu beurtheilen, wozu er sich entwickeln kann, müssen der praktische Beobachtungssinn und der philosophirende Geist gemeinschaftlich thätig seyn. Diese Verbindung aber wird beträchtlich erleichtert, wenn die individuelle Charakterkenntniss in einer vergleichenden Anthropologie zu einem Gegenstande des wissenschaftlichen Nachdenkens erhoben wird, und wenn man in derselben von den Eigenthümlichkeiten verschiedener Menschenclassen, und dem gewöhnlichen Einfluss äusserer Lagen auf den innern Charakter bestimmte und getreue Schilderungen antrift. Der allgemeine Typus, den sie angiebt, kann alsdann mit Hülfe eigner Erfahrung weiter ausgezeichnet; in der Sphäre, welche sie einem Charakter überhaupt als möglich anweist, kann die Stelle bestimmt werden, welche er in dem jedesmaligen Moment wirklich einnimmt.

Der Gesetzgeber, hat man immer gesagt, muss seine Nation, ihren Geist und ihre Gesinnung studirt haben, wenn er mit Fortgang auf sie einwirken will. Wie aber ist es möglich den Charakter Einer Nation vollständig zu kennen, ohne nicht zugleich auch die andern erforscht zu haben, mit welchen jene in den nächsten Beziehungen steht, durch deren contrastirende Verschiedenheit er theils wirklich entstanden ist, theils allein vollkommen begriffen werden kann? und wie ist es erlaubt, auf einen individuellen Charakter einzuwirken, ohne darüber nachgedacht zu haben, inwiefern Charakterverschiedenheiten überhaupt möglich? inwiefern mit den Forderungen einer freien und allgemeinen Ausbildung verträglich? oder gar politisch oder moralisch nothwendig sind?

Um einzelnen Zügen gleichsam gewisse Kunstgriffe der Regierungskunst abzulernen, um einzusehen, dass man den Franzosen nicht pedantisch, den Engländer nicht sichtbar despotisch behandeln muss, bedarf es freilich so grosser Zurüstungen nicht. Mittel die empfindlichen Stellen des menschlichen Charakters zu schonen, und seine Schwächen zu benutzen, giebt auch eine oberflächliche Beobachtung leicht an die Hand.

Aber es soll etwas ganz andres geschehen. Die individuellen Charaktere sollen so ausgebildet werden, dass sie eigenthümlich bleiben, ohne einseitig zu werden, das sie der Erfüllung der allgemeinen Forderungen an allgemeine idealische Vortreflichkeit keine Hindernisse in den Weg legen, nicht bloss durch Fehler und Extreme eigenthümlich sind, aber dagegen ihre wesentlichen Gränzen nicht überschreiten, und in sich consequent bleiben. In dieser innern Consequenz und äussern Congruenz mit dem Ideal sollen alsdann alle gemeinschaftlich zusammenwirken.

Denn nur gesellschaftlich kann die Menschheit ihren höchsten Gipfel erreichen, und sie bedarf der Vereinigung vieler nicht bloss um durch blosse Vermehrung der Kräfte grössere und dauerhaftere Werke hervorzubringen, sondern auch, vorzüglich um durch grössere Mannigfaltigkeit der Anlagen ihre Natur in ihrem wahren Reichthum und ihrer ganzen Ausdehnung zu zeigen. Ein Mensch ist nur immer für Eine Form, für Einen Charakter geschaffen, ebenso eine Classe der Menschen. Das Ideal der Menschheit aber stellt soviele und mannigfaltige Formen dar, als nur immer mit einander verträglich sind. Daher kann es nie anders, als in der Totalität der Individuen erscheinen.

Man nehme in Gedanken aus der Reihe der Europäischen Nationen eine hinweg, die keinen im Ganzen sehr beträchtlichen Antheil an der Kultur und den Fortschritten dieses Welttheils genommen hat, und nicht einmal ein eigner Stamm, nur ein Zweig einer andern Nation ist, ich meyne die Schweizerische, und es würde auf einmal in dem kultivirten, üppigen, von der ersten Einfachheit der Natur so weit entfernten Europa an einem Volke fehlen, das noch mitten unter unähnlichen Nachbarn eine vergleichungsweise so grosse Einfalt der Sitten besitzt, die Zahl seiner Bedürfnisse auf so wenige beschränkt, sich mit einem so dürftigen Vorrath von Mitteln und mit Verfassungen behilft, wie sie sonst nur die Kindheit der Nationen zeigt.

Wir haben mit Fleiss den schweitzerischen Charakter zum Beispiel gewählt, der wenigstens zum Theil der Natur so nah verwandt ist, dass niemand seine Eigenthümlichkeiten anders als mit innigem Mitgefühl untergehn sehen könnte. Denn sonst ist nicht freilich gleich jede Verschiedenheit des Aufbewahrens werth, und seltner gerade ist diess eine nationelle, die durch die Verbindung so vieler bloss zufälliger Umstände entspringt.

Aber gerade weil nicht jede Varietät empfehlungswürdig, ja viele sogar tadelhaft sind, und es doch (um nur diess Eine hier in Betrachtung zu ziehen) schon physisch unmöglich ist, die Menschen auf Einmal und gänzlich aus ihrem gewohnten Gleise herauszuheben, ihre Individualität zu vernichten und sie zu andern Menschen zu machen, muss man ihre Verschiedenheiten studiren, und was sich aus ihnen entwickeln lässt, überschlagen.

Der Mensch soll seinen Charakter, den er einmal durch die Natur und die Lage empfangen hat, beibehalten, nur in ihm bewegt er sich leicht, ist er thätig und glücklich. Darum soll er aber nicht minder die allgemeinen Foderungen der Menschheit befriedigen und seiner geistigen Ausbildung keinerlei Schranken setzen. Diese beiden einander widersprechenden Foderungen mit einander verbinden und beide Aufgaben zugleich lösen soll der praktische Menschenkenner, und wie kann er in diesem Geschäfte glücklich seyn, ohne die allgemeinen möglichen Verschiedenheiten der menschlichen Natur, und die allgemeinen Verhältnisse einzelner Eigenthümlichkeiten zum Ideal der Gattung sorgfältig erforscht zu haben?

Den Menschen zu bilden ist aber nicht bloss der Erzieher, der Religionslehrer, der Gesetzgeber bestimmt. So wie jeder Mensch neben allem, was er noch sonst seyn kann, zugleich immer noch Mensch ist, so hat er auch die Obliegenheit auf sich, neben allen Geschäften, die er sonst immer betreiben mag, zugleich auf die intellectuelle und moralische Bildung seiner und andrer praktische Rücksicht zu nehmen.

Es ist das allgemeine Gesetz, das die Vernunft aller Gemeinschaft der Menschen unter einander unnachlasslich vorschreibt: ihre Moralität und ihre Cultur gegenseitig zu achten, nie nachtheilig auf sie einzuwirken, aber sie, wo es geschehen kann, zu reinigen und zu erhöhen. Die Stärke der Verbindlichkeit hiezu bei einzelnen bestimmten Geschäften wächst nun mit dem Grade ihres Einflusses auf den Geist und den Charakter, und wo ihr vollkommen ein Genüge geleistet werden soll, da muss ebensosehr auf die individuelle Charakterform, als auf die allgemeine gesehen werden.

Am wenigsten kann sich von dieser Verpflichtung der Gesetzgeber lossagen, da er die grösseste und gefährlichste Macht in Händen hat, auf die Menschen zu wirken. Die ganze Politik, vorzüglich die innere, wird dadurch einem Gesichtspunkte untergeordnet, der ihr an sich eigentlich fremd ist. Denn da sie für sich eigentlich nichts anders zu thun hat, als nur die Aufgabe zu lösen, wie der letzte Zweck aller bürgerlichen Vereinigung, die Sicherheit der Person und des Eigenthums am kürzesten und gewissesten erhalten werden kann? so muss sie nun bei jeder Veranstaltung, die sie vorschlägt, erst nach dem Einflusse fragen, welchen dieselbe auf den Charakter der Bürger, als Menschen, ausüben wird? und jede erst nach diesem Maassstabe prüfen. Da noch überdies beide Gesichtspunkte fast überall auf ganz entgegengesetzte Resultate führen müssen, der rein politische auf Zwang, der erweiterte moralische auf Freiheit, so wird es ihr schwierigstes Geschäft seyn, diese beiden streitenden Foderungen mit einander zu vereinigen, und diese Schwierigkeit wird dadurch noch grösser, dass sie, sobald von einer Anwendung die Rede ist, einen individuellen Charakter zu schonen und zu leiten, also noch mehr particulaire Umstände in Acht zu nehmen hat.

Die gewöhnliche Theorie über diesen Gegenstand ist grossen Misbräuchen ausgesetzt. Sie lehrt den Gesetzgeber, die Eigenthümlichkeit zu benutzen, um die Nation dadurch leichter zu lenken und zu beherrschen. Aber wie leicht führt dieser bloss politische Gesichtspunkt, ohne die höheren moralischen, in die Gefahr, auch offenbare Schwächen und Blössen absichtlich zu unterhalten.

Eine neue Schwierigkeit mehr findet der Staatsmann der neueren Zeit, wo mehrere Nationen nicht nur, wie auch vormals oft, unter Einem Scepter vereinigt sind, sondern auch im genauesten Verstande als Eine Masse wirken sollen. Soll diess mit vollkommener Präcision und Schnelligkeit geschehen, so wäre es unstreitig besser die Verschiedenheiten der einzelnen Stoffe aufzuheben, Sprache, Sitten, Meynungen u. s. w. gleich zu machen. Aber ist diess ohne Verlust an Eigenthümlichkeit, und folglich zugleich an Selbstthätigkeit und Energie möglich, und welchen dieser beiden Vorzüge soll er nun dem andern aufopfern? Stellt er diese Untersuchung mit dem Geiste an, der weder die Würde des individuellen Charakters, noch den unläugbaren Nutzen grosser Staaten und Massen von Menschen verkennt, so wird er sie gar bald verlassen, und sich lieber zu der Aufgabe wenden, beide Vorzüge mit einander zu vereinigen. Die Auflösung dieser aber kann er sich nur noch allenfalls von dem genauesten Studium der wirklichen Individualität der Subjecte, die er zu behandeln hat, versprechen.

Die Religion scheint am wenigsten Einfluss von der Eigenthümlichkeit ihrer Bekenner leiden zu dürfen. Sie lehrt Wahrheit und die Wahrheit ist durchaus objectiv und allgemein. Dennoch ist gerade bei ihr die Sorgfalt, sie immer und Schritt vor Schritt die Umänderungen des Geistes begleiten zu lassen, am meisten nothwendig, wenn die doppelte Gefahr eines drückenden Gewissenszwanges, oder religiöser Gleichgültigkeit vermieden werden soll.

Die übrigen Geschäfte des Lebens haben selten einen nahen und grossen Einfluss auf die innre Individualität. Es ist hinreichend grobe Fehler zu vermeiden, um der Gefahr nachtheiliger Einwirkungen zu entgehen.

Desto mächtiger aber wirkt auf die eigenthümliche Charakterbildung der freie und alltägliche Umgang in engeren und weiteren Verbindungen: in der Ehe, der Freundschaft, kleineren und grösseren gesellschaftlichen Cirkeln. Die Kunst dieses Umgangs, wenn sie nicht, wie bisher immer geschehen ist, zu einem blossen Talent zu gefallen und zu gewinnen herabgewürdigt werden soll, beruht ganz und gar auf Charakterkenntniss und Charakterbildung.

Sie strebt zuerst jeden Umgang so wichtig für die Cultur und den Charakter zu machen, ihm soviel Seele zu geben, als nur immer möglich ist, dann aber noch in jedem die verschiedenen Individualitäten so einzeln zu stellen und in Massen zu gruppiren, dass sie dem Betrachter das Bild einer lehrreichen Mannigfaltigkeit geben, einander selbst aber durch ihre zweckmässige Berührung zugleich empfänglicher und eigenthümlicher machen. Beides will sie jedoch nicht anders, als unter der Bedingung einer vollkommenen Freiheit ausführen, mit gänzlicher Vermeidung alles Scheins von Absicht. Alles soll von selbst entstehen, alles Spiel und Erholung, nichts Ernst oder Geschäft seyn. Diess macht sie zur eigentlich schönen Kunst.

Die Grundlinien dieser Kunst zu entwerfen, wäre zugleich nützlich und unterhaltend, aber es könnte nur die Arbeit eines Mannes seyn, der einen grossen und vielseitigen eignen Charakter mit einer ausgebreiteten Kenntniss fremder Individualitäten verbände, und ebensoviel Gedanken- und Empfindungsgehalt besässe, ein enges Verhältniss interessant zu machen, als Leichtigkeit und Beweglichkeit, in den Cirkeln der großen Welt eine Rolle zu spielen.

Gerade also zu dem, was als ein alltägliches Bedürfnis immer wiederkehrt, bedürfen wir am meisten einer individualisirenden Menschenkenntnis, und mit ihrer Hülfe können wir gerade die Stunden, die wir gewöhnlich leer und verloren achten, zu den inhaltvollsten unsres Lebens machen.

Der Erziehung ist im Vorigen nicht erwähnt worden. Es liegt zu sehr am Tage, wie unentbehrliche Vorarbeiten ihr Untersuchungen, wie die gegenwärtige seyn müssen. Andre Beziehungen sind der Kürze wegen übergangen. So muss z.B. der Arzt nothwendig auf den moralischen und gerade, da nur diesen ihm zu kennen wichtig seyn kann, auf den individuellen Charakter achten.

Die vergleichende Anthropologie ist daher zu einem doppelten Zweck und zu einem doppelten Geschäfte nützlich. Sie erleichtert die Kenntniss der Charaktere, und giebt zugleich eine philosophische Anleitung, ihren Werth zu beurtheilen, ihre ferneren Entwicklungen zu berechnen, und die Möglichkeit zu überschlagen, wie sie mit andern als ein Ganzes zusammenzuwirken fähig sind. Sie dient dem Geschäftsmann, der den Menschen benutzen und beherrschen will, und zugleich dem Erzieher und Philosophen, der ihn zu bessern und zu bilden bemüht ist.

Aber sie ist ausserdem die unterhaltendste Beschäftigung des menschlichen Geistes. Denn er findet in ihr 1. den erhabensten Gegenstand, den die Natur darbietet, am genauesten und vollständigsten geschildert; 2. eine Mannigfaltigkeit, die nicht bloss durch das bunte Farbenspiel des Gemähldes die Einbildungskraft und die Sinne vergnügt, sondern durch die Feinheit der Züge zugleich den Geist und die Empfindung bereichert, und die 3. immer zugleich so behandelt ist, dass nicht bloss jede einzelne Eigenthümlichkeit als ein Ganzes betrachtet, sondern auch alle zu einem Ganzen zusammengestellt werden.

Wilhelm von Humboldt: Anthropologie und Theorie der Menschenkenntnis

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