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1. Entdeckung mit Folgen

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Neugierig beugte sich Cornelia über den merkwürdigen Findling, den sie zwischen zwei Farnkrautstauden entdeckt hatte. Der kniehohe Stein war zur Hälfte von Moos überwachsen, aber auf der freien Fläche deuteten sich verwitterte Zeichen an, die irgendwer vor langer Zeit dort hineingeritzt hatte. Sie ging vor dem Stein in die Hocke und begann, mit einem kurzen Ast das Moos von den Zeichen zu kratzen.

Cornelia Habsburg lebte in Hannover, fuhr aber gelegentlich aufs Land, um sich von ihrer manchmal etwas anstrengenden Arbeit als Redaktionsassistentin beim Hannoverschen Stadtkurier zu erholen. Meistens wurde sie von ihrem Freund mit dem etwas eigenwilligen Vornamen Theophemus, allgemein Theo genannt, und dem auch in jedem anderen Fall entwürdigenden Nachnamen Elend, begleitet. Er arbeitete als Reporter bei der gleichen Zeitung wie Cornelia und hatte an diesem Wochenende einen Außendiensttermin, daher war sie dieses Mal allein unterwegs.

Seinen Namen verdankte Theo seinem vom griechischen Altertum besessenen Vater, der behauptete, Theophemus wäre ein antiker Königsname. Sein Sohn ertrug ihn (seinen Namen) inzwischen mit einer gewissen Schicksalsergebenheit, hatte sich aber nie bemüht, die Behauptung seines Vaters zu überprüfen. Er war auch überzeugt davon, dass kaum jemand anderes als sein Vater auf die Idee gekommen wäre, ihn nach einem griechischen König zu benennen, nicht nur wegen der Ungewöhnlichkeit dieses Namens. Theophemus´ Erscheinung, die sich bereits in seiner Kindheit andeutete, glich eher dem Typus eines germanischen Kriegers, als der vermutlich etwas kleinwüchsigen Gestalt eines antiken griechischen Staatslenkers. Auf einen Rauschebart verzichtete Theo jedoch, nicht zuletzt wegen des zu erwartenden Protestes seiner Freundin Cornelia. Keiner, der Theophemus Elend nicht persönlich kannte, hätte jedenfalls aufgrund seiner beiden Namen einen germanischen Hünen erwartet.

Cornelia war an diesem Wochenende also allein in die Wedemark gefahren, in das kleine Nest Weidlingen, nicht weit entfernt von dem mächtige 92 m hohen, bewaldeten Brelinger Berg. In diesem verschlafenen Ort hatten sie und ihr Freund sich ein unscheinbares Wochenendhaus inmitten eines weitläufigen, aber hoffnungslos verwilderten Gartens an einem nahen Waldrand gekauft. Da wirkte das kleine, wohnlich hergerichtete Holzhaus schon fast wie ein Fremdkörper auf dem Anwesen, wenn von der Straße auch dank der üppig wuchernden Vegetation nicht viel davon zu erkennen war. Bisher hatte der für jeden leidenschaftlichen Gärtner erbärmliche Zustand des Grundstückes die beiden nicht dazu bewegen können, an den Verhältnissen etwas zu ändern. Immerhin war die Zufahrt zu dem Haus noch passierbar. Die beiden waren aus dieser Sicht ganz froh darüber, dass es in unmittelbarer Nähe keine Nachbarn gab, die sich an diesem Anblick stören konnten.

In dem im Sinne des Wortes ziemlich heruntergekommenen Zaun auf der Rückseite des Grundstückes existierten noch die kläglichen Überreste einer Pforte, durch die man auf einen Pfad kam, der wiederum zu einem Waldweg führte, der dann in einen ausgedehnten Forst mit zahllosen breiten und schmalen Wegen führte. Auf ihnen konnte man stundenlang nach Herzenslust wandern, ohne unbedingt einen Weg zweimal benutzen zu müssen. Und dazu war Cornelia am späten Vormittag dieses Tages, nachdem sie lange geschlafen und ausgiebig gefrühstückt hatte, aufgebrochen.

Sie und ihr Freund hatten sich das Wochenendhaus erst im Herbst des vergangenen Jahres zugelegt, und bei ihren seltenen Besuchen im Winter waren die Witterungsverhältnisse und der Zustand der verschneiten und später oft vereisten Wege so wenig einladend gewesen, dass sie nur selten die Zeiten ihrer Anwesenheit für Spaziergänge genutzt hatten. Stattdessen hatten sie sich mehr um die Verschönerung des Inneren der Blockhütte gekümmert. Im Gegensatz zu Theo, der Cornelia, zumindest in vielerlei Hinsicht, recht gut kannte, und ihr von einem Kauf in der finsteren Jahreszeit erfolglos abgeraten hatte, hatte sie ihren Entschluss wie erwartet bald bereut. Doch als der Frühling kam, verbesserte sich ihre Gemütsverfassung hinsichtlich ihres Grunderwerbs, und die wieder aufkeimende Zustimmung zu ihrer Entscheidung ließ die aufgekommenen Zweifel verblassen. Außerdem trugen die Ergebnisse ihrer Renovierungsarbeiten dazu bei, dass Cornelia bald anfing, sich dort wohlzufühlen.

Und so kam es, dass sich die beiden in dem Wald hinter ihrem Grundstück nicht sehr gut, eigentlich gar nicht, auskannten.

Da war es kaum ein Wunder, dass sich Cornelia bis zum frühen Nachmittag hoffnungslos verlaufen zu haben schien. Aber es war ein sonniger und warmer Tag und sie machte sich zu dieser Zeit noch keine Sorgen darum, wie sie wieder zurückfand. Hätte es sie nicht wegen eines körperlichen Bedürfnisses in die Büsche verschlagen, wäre ihr der Stein wohl niemals aufgefallen. Und dass er ihr auffiel, lag daran, dass er irgendwie nicht so recht an den Ort passte, wo er stand. Cornelia war, ganz Frau und Mitarbeiterin einer Tageszeitung, ein neugieriger Mensch, und begann deshalb, den Stein zu untersuchen.

Eine besonders aufregende Entdeckung erwartete sie nicht, aber vielleicht konnte sie herausfinden, was die eingravierten Symbole bedeuteten. Anschließend würde sie den Stein genauso schnell wieder vergessen, wie sie ihn unerwartet entdeckt hatte, nämlich sehr – glaubte sie. Aber da täuschte Cornelia sich. Sie behielt ihn sogar sehr genau, wenn auch nicht in guter Erinnerung, weil ihre Entdeckung Ereignisse ins Rollen brachte, die, obwohl es sich furchtbar theatralisch anhört, ihr Leben veränderten. Aber so kam es nun einmal.

Während Cornelia mit dem Ast das Moos beseitigte, spürte sie plötzlich ein unbehagliches Kribbeln in ihrem Arm, als lief ein schwacher elektrischer Strom durch ihn hindurch. Erschrocken zuckte sie mit ihrer Hand zurück und ließ den Ast fallen. Im gleichen Augenblick verschwand das betäubende Gefühl. Ungläubig starrte sie abwechselnd auf den Findling und auf ihre Handfläche. Das war unmöglich. Sie hatte erst einen Teil der Zeichen freigelegt. Es waren tatsächlich Schriftzeichen, aber sie waren kaum noch lesbar. Das, was sie mit Mühe entziffern konnte, lautete: »† 10. April 1740« und eine Zeile darunter: »Von Wilderern erschlagen«. Ein Gedenkstein also, aber für wen?

Noch einmal nahm Cornelia den Ast in die Hand und all ihren Mut zusammen, um auch noch den Rest der Inschrift von dem Moos zu befreien. Das Kribbeln in ihrem Arm kehrte sofort zurück, aber dieses Mal war sie darauf vorbereitet. Es wurde nicht stärker, und sie stellte fest, dass es auch nicht unerträglich war, wenn auch allemal unangenehm. Sie beeilte sich, den Rest des Mooses zu entfernen, dann lag die Schrift frei:

Zum Gedenken an den Holzfäller

Heinrich Kreutzner

† 10. April 1740

Von Wilderern erschlagen

Bewegungslos starrte sie auf die Inschrift, länger, als sie zum Lesen der Zeilen benötigte, und bemerkte nicht, wie sie zunehmend von den Zeichen in den Bann gezogen wurde.

Cornelia hatte schon einige Minuten in ihrer Haltung verharrt, als ihr unvermittelt ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Dem Schauer folgte eine Serie von Bildern, die sie nicht deuten konnte. Sie waren zu dunkel und zu verschwommen, um sie klar zu erkennen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie hastige Bewegungen menschenähnlicher Gestalten, aber sie konnte keine Einzelheiten erkennen und begriff nicht, was die Bilder darstellten. Dazu gesellte sich ein Wispern leiser Stimmen, die sie nicht verstand, gefolgt von einem hohlen, fernen Heulen. Aber erst, als schließlich ein schwarzer Schatten über die Szene glitt und für die Dauer eines Lidschlags den Blick verstellte, bevor er seitlich verschwand, fand sie die Kraft, sich von dem Anblick zu lösen. Mit einem Aufschrei wich sie zurück und fiel auf ihr Hinterteil. Unschuldig lag der Gedenkstein vor ihr.

Jetzt endlich bemerkte Cornelia, wie sehr sie ihre Umgebung ausgeblendet hatte. Es war, als erwachte sie aus einem Traum, und der hinterließ bei ihr den Eindruck eines Albtraumes. Sie zitterte am ganzen Körper. Plötzlich sah sie den Gedenkstein mit ganz anderen Augen. Er hatte seine anfängliche Harmlosigkeit verloren und verbreitete eine spürbare Bedrohung. Es war kein gewöhnlicher Gedenkstein, soviel erkannte sie, aber zu weiteren Überlegungen war Cornelia nicht fähig. Sie wollte nur noch weg und in ihrem jähen Entsetzen begann sie eine heillose Flucht.

Cornelia entfernte sich ohne nachzudenken von diesem Angst verbreitenden Ort, aber anstatt in Richtung des Weges zu laufen, der sich nur wenige Meter entfernt von ihr befand, lenkte sie ihre Schritte tiefer in den Wald und rannte im Zickzack um die Bäume herum. Erst nach einiger Zeit und bereits ziemlich außer Atem, wagte sie es, anzuhalten und sich umzusehen. Sie stellte mit einem deutlichen Unbehagen fest, dass sie sich inmitten des Waldes verlaufen hatte. Solange das auf den Wegen der Fall war, brauchte sie nur weiterzugehen. Sie würde dann auf einen anderen treffen und sicher irgendwann herausfinden, wo sie war, wenn sie sich vielleicht auch ein ganzes Stück von Weidlingen entfernt hatte. Doch jetzt sah die Sache anders aus. Dort, wo sie sich befand, gab es keinen Anhaltspunkt, in welcher Richtung sie am schnellsten den nächsten Weg erreichte. Immerhin schien die Unübersichtlichkeit des Waldes in diesem Augenblick ihr einziges Problem zu sein, aber sie hatte sich in einer solchen Umgebung noch nie so unwohl gefühlt wie jetzt.

Dann dauert es eben etwas länger, dachte Cornelia mit erzwungener Zuversicht. Es war erst früher Nachmittag und die Sonne schien warm durch die Bäume. Der Gedenkstein war weit weg, was konnte ihr also passieren? Kurz seufzend, als sie an die mögliche Anstrengung dachte, die vor ihr lag, wollte sie von jetzt an überlegt und möglichst in nur eine Richtung weitergehen, bis sie einen Waldweg erreichte, auf dem sie sich hoffentlich wieder zurechtfand. Sie konnte sich dabei nach der Sonne richten. Vielleicht waren es ja nur noch ein paar Meter. Das Unterholz um sie herum versperrte ihr allerdings die Sicht.

Bisher hatte Cornelia keine Zeit gehabt, über das Erlebte nachzudenken, und vorläufig kam sie auch nicht dazu, denn urplötzlich überfiel sie ein erneuter Schauder, und sie wurde von einem bis dahin nie gekannten Gefühl einer drohenden Gefahr übermannt. Gehetzt sah sich Cornelia um und fluchte lautlos. Zunächst konnte sie nicht erkennen, was ihre Angst rechtfertigte – bis sie sah, wie ein merkwürdiger Schatten zwischen den Bäumen hindurchfloss. Er war unförmig, aber es war kein Schatten, wie er im Wechselspiel zwischen den Zweigen der Bäume und dem Sonnenlicht entstand. Lauernd schien er Cornelia in wenigen Metern Abstand umrunden zu wollen. Wieder brach sie in Panik aus, und mit einem unbewussten Schrei aus einer begreiflichen Furcht lief sie weiter. Diese Furcht saß tiefer als die, die sie an dem Gedenkstein ergriffen hatte. Alle Gedanken an einen geordneten Rückzug aus dem Wald waren vergessen. Was immer das Ding war, sie musste ihm irgendwie entkommen. Sie lief, als ging es um ihr Leben.

Cornelia rannte und rannte und wagte es nicht, sich umzudrehen. In ihrer Panik empfand sie nicht einmal mehr das Gefühl der Bedrohung, die von dem Schatten ausging, und deren Vorhandensein ihr bewiesen hätte, dass er ihr immer noch auf den Fersen war. Tränen der Angst beeinträchtigten ihren Blick, während sie durch das Unterholz stürzte.

Bald geriet sie in ernste Atemnot und bekam Seitenstiche. Eigentlich war Cornelia sportlich, auch wenn sie gelegentlich rauchte, was sich jetzt unangenehm bemerkbar machte. Aber sie betrieb ihre Leibesübungen in einem Fitnesscenter, und sie dienten eher der Gestaltung ihres Körpers als der Steigerung der Leistungsfähigkeit ihres Atmungsvermögens. Was Cornelias Erscheinung betraf, konnte sie mit dem Erfolg ihrer Bemühungen durchaus zufrieden sein. Ihre Ausdauer bei schnellem Laufen hatte sich aber nicht entscheidend verbessert.

Nur kurz drehte sich Cornelia einmal um und stellte fest, dass sie den Schatten nicht mehr sah, aber das trug nicht zu ihrer Beruhigung bei. Er konnte sich auch außerhalb ihrer Sicht aufhalten. Außerdem war sie unfähig zu unterscheiden, ob die Angst, die sie immer noch erfüllte, von diesem Ding ausging oder aus ihr heraus entstand und mithin nur Einbildung war. Mit einem erneuten Schrei, dieses Mal vor Schmerz, als ihr infolge einer unvorsichtigen Bewegung ein Fichtenzweig ins Gesicht schlug, lief sie so schnell es ging weiter.

Schließlich ließen ihre Kräfte endgültig nach, aber Cornelia schaffte es noch, sich bis zu einem umgefallenen Baum zu schleppen, auf dessen Stamm sie sich erschöpft niederließ. Ihre Lunge brannte, und sie befand sich in einem Zustand, in dem es ihr gleichgültig zu sein schien, was geschah. Sie konnte keinen Schritt mehr tun.

Nach einiger Zeit hatte sie sich so weit erholt, dass sie die Kraft fand, ihr Rauchen zu verfluchen, und sich vornahm, bei nächster Gelegenheit damit aufzuhören. Womit klar war, wie sie es wirklich meinte, aber in diesem Augenblick war Cornelia überzeugt von ihrer Absicht. Und dann bemerkte sie die Veränderung. Ihre Angst war verschwunden und mit ihr das Gefühl einer unsichtbaren Bedrohung. Von dem merkwürdigen Schatten war weit und breit nichts zu sehen, was ungefähr einem Gesichtskreis von zehn bis fünfzehn Metern entsprach. Cornelia war sicher, dass sie nicht so lange und so ruhig dort hätte sitzen bleiben können, wenn die Gefahr noch in ihrer Nähe gewesen wäre. Sie wischte sich mit einem Ärmel durchs Gesicht. Sie schwitzte, aber im hellen Stoff ihrer Jacke blieb auch etwas Blut zurück und die Wunde auf ihrer Wange brannte.

„Scheiße!“, fluchte Cornelia. Immerhin hatte sie sich inzwischen weit genug erholt, um der Wunde in ihrem Gesicht und dem Blutfleck auf der Jacke genug Bedeutung beimessen zu können, um sich darüber zu ärgern. Das war ein gutes Zeichen.

Sie stand wieder auf, blickte sich im Kreis um und entschied sich vollkommen grundlos für irgendeine Richtung. Dann stapfte sie wieder los, wohl zügig, weil sie endlich aus dem Wald herauswollte, aber nicht mehr in planloser Flucht.

Cornelia war keine sehr ängstliche Frau, und sie konnte belastende Situationen eigentlich ganz gut verkraften. Diese Eigenschaften brauchte man, um in einer Stadt überhaupt leben zu können. Sie hatte im Laufe der Zeit schon einige unangenehme, manchmal auch brenzlige Situationen in Hannover erlebt, und sie hatte gelernt, wie sie aus ihnen am besten wieder herauskam. Aber sie hatte noch niemals eine solche Angst empfunden wie an diesem Tag. Das verwirrte sie. Sie war überzeugt, dass sie sich in einer ernsten Gefahr befunden hatte, konnte sie aber weder beschreiben noch erklären.

Wie konnte von einem gewöhnlichen Gedenkstein eine Gefahr ausgehen? Wie konnte er überhaupt elektrisierend sein und undeutliche Bilder und Geräusche hervorrufen? So etwas gab es nicht. Genauso unsinnig war die Existenz des Schattens. Schatten, die sich anscheinend willkürlich verhalten, gab es ebenfalls nicht. Bei diesem Gedanken spürte Cornelia den Drang, sich umzudrehen, und atmete erleichtert auf, als sie nichts erkennen konnte, das dem Schatten ähnelte, der sie verfolgt hatte. Inzwischen hatte sie einen lichteren Teil des Waldes erreicht, in dem nur wenig Unterholz wuchs und einen ziemlich weiten Blick zuließ. Und überhaupt, konnte es einen Zusammenhang zwischen einem unmöglichen Gedenkstein und einem ebenso unmöglichen Schatten geben? Natürlich nicht, schließlich gab es alles andere ja auch nicht.

Allerdings hatten ihre Schlussfolgerungen einen kleinen Schönheitsfehler. Sie hatte diese Erscheinungen wirklich erfahren. Cornelia war seelisch ziemlich robust, niemand hatte ihr bisher etwas anderes bescheinigt. Sie litt auch weder unter Wahnvorstellungen noch unter einer übertriebenen Vorstellungskraft. Sie konnte sich also mit Recht für eine seelisch durchaus stabile Persönlichkeit halten. Und deshalb zweifelte sie nicht daran, dass sie das alles wirklich erlebt hatte: Das elektrische Kribbeln in ihrem Arm, die verschwommenen Bilder, die psychische Ausstrahlung des Gedenksteines und den Furcht einflößenden Schatten, dem sie hoffentlich nie wieder begegnen würde. All das entsprach der Wirklichkeit, war Cornelia überzeugt, aber sie begriff es nicht. So sehr sie auch darüber nachgrübelte, es fiel ihr nichts ein, was einen Sinn dieser Erscheinungen ergeben könnte.

Erschrocken blieb Cornelia stehen, als sie unvorbereitet von einem Hund angeknurrt wurde. Am anderen Ende der Leine, die ihn daran hinderte, auf sie loszugehen, befand sich ein Jäger, den sie erst jetzt bemerkte.

„Was treiben Sie sich denn hier herum?“, fragte der Mann.

Als Jäger war er in seiner waidmännischen Kleidung und der Flinte über dem Rücken unverkennbar. Nur der grüne Lodenmantel und der Jägerhut fehlten, passend zu der warmen Jahreszeit. Er mochte zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt sein, war etwas kleiner als Cornelia, von untersetzter Gestalt und ließ sich einen stattlichen Vollbart wachsen. Mit seinen Lachfältchen im Gesicht machte er keinen unfreundlichen Eindruck. Und seine Frage hatte auch weniger ärgerlich als neugierig und etwas überrascht geklungen.

„Aber wie sehen Sie denn aus?“, fragte er erstaunt, bevor Cornelia antworten konnte. Erst jetzt aus der Nähe waren ihm die kleine Wunde in ihrem Gesicht, ihre etwas zerzausten Haare und der Zustand ihrer Kleidung aufgefallen. Damit meinte er nicht nur den Blutfleck am Ärmel ihrer weißen Jacke. Die und Cornelias Jeans zeigten auch deutliche grüne Stellen, an denen sie mit den moosbewachsenen Rinden der Bäume und Sträucher in Berührung gekommen war, als sie kopflos durch den Wald lief. „Ist Ihnen etwas passiert? Wollte Ihnen jemand etwas antun?“

Cornelia schüttelte den Kopf und blickte an sich herunter.

„Nein“, erwiderte sie und lächelte unsicher. „Aber der Verdacht liegt nahe, so wie ich aussehe.“ Sie versuchte vergeblich, ihre Haare mit den Händen zu ordnen.

„Wie kommen Sie dann hierher?“, fragte der Jäger. „Bis hierher schaffen es im Herbst kaum Pilzsammler.“

Der Jäger zog seinen Hund zurück, als dieser begann, an Cornelias Hosenbein zu schnüffeln und sie sich zu ihm hinabbeugen wollte.

„Nicht streicheln“, warnte er sie. „Es ist ein Jagdhund, und er könnte zuschnappen, falls er Ihre Geste falsch versteht. Sie sind fremd für ihn.“

Cornelia richtete sich wieder auf.

„Ich habe mich verlaufen“, erklärte sie und hatte damit ungemein Recht. „Eigentlich bin ich heute Morgen nur zu einer Wanderung losgegangen, und dann irgendwie vom Weg abgekommen.“

Der Jäger schmunzelte. Er ahnte schon, wie das passiert war. Die Frau kam bestimmt aus der Stadt, und nur wenige Meter in den Wald hineinzugehen, konnte da schon ausgereicht haben, um sie die Orientierung verlieren zu lassen. Und wie sie aussah, musste sie schon eine ganze Weile durch den Wald geirrt sein und wäre es sicher noch länger, wenn sie sich nicht getroffen hätten. Mit seiner Vermutung über den Grund dafür, warum sie vom Weg abgekommen war, lag er nicht falsch, aber was ihr dann passiert war, konnte er nicht einmal ahnen.

„Wo kommen Sie denn her?“, fragte der Jäger.

„Aus Hannover“, antwortete Cornelia.

Er musterte sie spöttisch und fragte betont ungläubig: „Und von dort sind Sie den weiten Weg bis hierher gelaufen?“

„Ach so, nein. Ich habe ein Wochenendhaus in Weidlingen. Ich lebe in Hannover.“

Der Jäger nickte.

„Nach Weidlingen ist es immer noch ein weiter Weg. Dann sind sie schon länger unterwegs, oder?“

„Na ja, seit heute Morgen.“

Es waren tatsächlich einige Kilometer Luftlinie von ihrem Standort bis nach Weidlingen, und er glaubte nicht, dass die Frau auf geradem Wege bis dorthin gelangt war. Also musste sie ziemlich schnell unterwegs gewesen sein. So wie sie aussah, hatte sie sich auch durch dichtes Unterholz bewegt. Das mochte alles nichts zu bedeuten haben, und vielleicht hatte sie sich tatsächlich nur verlaufen und ging immer mit einem schnellen Schritt. Solche Leute gab es, und sie sah durchaus trainiert aus. Aber vielleicht gab es da noch eine andere Erklärung für alles. Und das, glaubte er, war wahrscheinlicher.

Es war eine Lagebeurteilung, die er in Gedankenschnelle traf. Die meisten hätten es wahrscheinlich gar nicht getan, aber bei ihm war es sozusagen von Berufswegen: Er war Polizeibeamter.

„Na gut“, meinte er dann. „Wenn Sie zurück nach Weidlingen wollen, müssen Sie diesen Wildpfad dort entlanggehen. Am Ende kommt dann ein gut ausgebauter Wirtschaftsweg, da müssen Sie dann nach rechts. Und nach einiger Zeit, vielleicht nach drei oder vier Kilometern, steht ein Schild mit einem Hinweis auf Weidlingen.“

„Wie weit ist es?“

„Ich schätze zehn Kilometer“, meinte er und schmunzelte über Cornelias bestürzten Gesichtsausdruck. Das war eine Strecke, die sie schon für ziemlich weit gehalten hätte, wenn sie im Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte gewesen wäre. Aber nach ihrer wilden Jagd durch den Wald war sie davon weit entfernt.

„Ich könnte Ihnen aber auch anbieten, Sie zurückzufahren. Mit meinem Reviergang bin ich fertig und war sowieso gerade auf dem Weg, den Wald zu verlassen.“

Zuerst regte sich Freude in Cornelia, dann Argwohn darüber, ob er vielleicht irgendwelche anderen Absichten hatte, aber schließlich, nachdem sie ihn zwischenzeitig möglichst unauffällig gemustert hatte, glaubte sie, ihm vertrauen zu können. Nicht jeder Mann führte Böses im Schilde.

Der Jäger schien ihre Gedanken zu ahnen, denn er versuchte sie gleich zu beruhigen: „Es ist zwar leicht dahergesagt, aber Sie können mir vertrauen. Ich bin glücklich verheiratet und scheue alles, weswegen ich ein schlechtes Gewissen bekommen müsste. Aber ihr Zögern zeugt von Klugheit.“

Das erste Mal lachte Cornelia.

„Tja, ich bin eben nicht so blond, wie ich aussehe. Und ich lebe in einer Stadt. Also gut, ich werde Ihr Angebot annehmen.“

„Das ist unter diesen Umständen ebenso klug. Mein Auto steht dahinten.“

Dem Jäger fiel auf, dass Cornelia ein wenig humpelte. Wenn sie es sonst nicht tat, dann war das sicher auch ein Grund, warum sie auf seinen Vorschlag eingegangen war.

„Wollen sie ein Pflaster für ihre Wunde?“, fragte der Mann, als sie den Wagen erreicht hatten.

Cornelia betastete ihr Gesicht, betrachtete ihre Finger und schüttelte den Kopf.

„Danke, ich denke, es ist nicht so schlimm. Es blutet nicht mehr.“

„Wie Sie meinen.“

Er sperrte seinen Jagdhund in den Käfig im Kofferraum, und sie stiegen ein.

Cornelia war ein wenig enttäuscht. Sie hatte noch nie einen Jäger kennengelernt und war der Ansicht, dass es alles reiche Leute waren, die entsprechende Autos fuhren, und jetzt saß sie in einem betagten Kombi, der nicht einmal Allradantrieb hatte. Nicht, dass sie besonderen Wert auf noble Karossen legte, ihr Peugeot war nicht viel neuer und hatte auch kein Allrad und schon so manchen Schmarren, aber der Wagen des Jägers widerlegte ihr Vorurteil. Und sie fand das sympathisch.

Kurz darauf befanden sie sich auf dem Wirtschaftsweg und fuhren ein wenig schneller.

„Darf ich fragen, wie Sie heißen?“, fragte der Jäger. „Mir ist im Wald noch niemand begegnet, der sich so gründlich verlaufen hat.“

„Und so heruntergekommen aussah, verstehe. Aber was hätte mein Name damit zu tun?“

Der Mann lachte.

„Gar nichts, Sie haben Recht. Es waren eine Frage und eine Feststellung in einem. Vielleicht etwas unpassend kombiniert.“

„Na gut, ich heiße Cornelia Habsburg.“

„Angenehm. Mein Name ist Ferdinand Pestacker.“

Pestacker schwieg einen Augenblick und beobachtete Cornelia in sich hineinschmunzelnd aus den Augenwinkeln. Er wollte ihr die Gelegenheit geben, auf seinen Namen zu reagieren. Sie tat es wie erwartet, aber sehr zurückhaltend, indem sie ihn offen und fragend, aber ohne eine Bemerkung anblickte. Sie dachte an den nicht weniger auffälligen Namen ihres Freundes.

Er lachte noch einmal.

„Andere sind weniger taktvoll“, meinte er dann.

„Ein ungewöhnlicher Name“, fand Cornelia.

„Das ist wahr, aber sehr alt und unverwechselbar. Ich vermute, er entstand im Mittelalter, als die Pest durch Europa zog und das Land überall mit Pestackern übersäte, also mit Friedhöfen für die Pestopfer. Wie meine Vorfahren zu diesem Namen kamen, weiß ich allerdings nicht.“

Ferdinand Pestacker schien ein recht vergnügter Mann zu sein, und ein leidenschaftlicher Jäger, für ein Mitglied dieser Zunft sogar ein ausgesprochen freundlicher Jäger. Auf der Fahrt erzählte er Cornelia allerlei Geschichten aus seinem Jagdleben, ohne ihr allzu viele Fragen zu stellen, die sie persönlich betrafen. Dann erklärte er, dass in dieser Jahreszeit keine Jagdzeit war, weil die meisten Tiere Schonzeit hatten. Sie durften bei der Aufzucht ihres Nachwuchses nicht gestört werden. Es gab nur wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel Wildschweine. Aber auch da gehörten frischlingsführende Bachen nicht dazu – also weibliche Wildschweine mit Jungen, übersetzte er aus der Jägersprache, als er den verständnislosen Gesichtsausdruck seines Fahrgastes bemerkte. Er war nur im Revier gewesen, um nach dem Rechten zu schauen. Sein Gewehr hatte er trotzdem mitgenommen, falls er auf kranke oder verletzte Tiere traf, um sie dann von ihren Leiden zu erlösen. Nicht weit entfernt verlief die Oegenbosteler Straße, und angefahrenes Wild lief manchmal noch kilometerweit, bevor es elend verendete. Nicht alle Autofahrer hielten nach einem Wildunfall an, und manche hatten auch gute Gründe dafür.

Cornelia hörte meist schweigend und nur mit einem Ohr zu. Nicht, dass sie das Jagdgeschäft wegen des Tötens von Tieren rundheraus ablehnte, und auch nicht, weil es im Wald immer wieder zu unangenehmen Begegnungen zwischen Nichtjägern, die sich unangemessen verhielten, und Jägern, von denen sich auch nicht wenige unangemessen verhielten, kam. Aber wirklich interessiert war sie daran nicht. Und nachdem sie in Pestackers Auto etwas zur Ruhe gekommen war, richteten sich ihre Gedanken wieder auf ihre eigenen Erlebnisse im Wald. Sie kämpfte mit dem Wunsch, ihren Chauffeur davon zu erzählen, aber entschied sich schließlich dagegen. Seine nicht unangenehme Plauderei verstärkte zwar ihr Vertrauen zu ihm, und sie kam zu dem Schluss, dass er wohl ein netter Kerl war, soweit sie es in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft überhaupt beurteilen konnte, aber es wäre die beste Gelegenheit gewesen, bei ihm den Eindruck einer überspannten Städterin zu hinterlassen. Und das ließ ihr Stolz nicht zu.

Es wäre tatsächlich ein weiter Fußweg gewesen, und Cornelia war froh, dass Ferdinand Pestacker sie am späten Nachmittag bis vor ihre Gartenpforte fuhr. Es war ihr ein wenig unangenehm, als sie sah, wie er stirnrunzelnd das Grundstück abschätzte, aber er war anständig genug, sich einer Äußerung zu enthalten. Vielleicht lag es an diesem Eindruck, aus dem er auf die Zustände in dem Blockhaus schloss, dass er ihre Einladung zu einem Kaffee ausschlug, wenn er es auch auf höfliche Art tat. Aber er wollte gleich weiterfahren. Bis nach Hannover, auch er wohnte in dieser Stadt, war es noch ein ganzes Stück, und er wollte nicht zu spät zu Hause sein. So trennten sie sich, nicht ahnend, sich in nicht allzu langer Zeit wiederzutreffen.

Später fragte sie sich dann doch, warum sie den Jäger nicht nach dem Gedenkstein gefragt hatte. Wenn ihn jemand kannte, dann einer, dem der Wald vertraut war. Der Jäger hätte vielleicht gewusst, was es mit ihm auf sich hatte. Sie hätte ihm ja nichts von den sonderbaren Ereignissen erzählen müssen, die im Zusammenhang mit dem Stein zu stehen schienen. Als Erklärung hätte es allemal genügt, ihm zu sagen, dass sie diesen Stein gefunden hatte. Diese Chance war jetzt vertan.

Das Geheimnis des Gedenksteins

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