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6. Erste Spuren

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„Dort ist er“, sagte Cornelia und zeigte in die Büsche.

Theo konnte nichts erkennen, aber das war auch kein Wunder, schließlich stand der Gedenkstein einige Schritte vom Weg entfernt und wurde von hüfthohem Farnkraut verdeckt. Nicht ohne Grund hatte Cornelia ihn nur durch einen Zufall entdeckt.

„Nicht leicht zu finden“, meinte Theo.

Cornelia ließ ihm den Vortritt.

„Sei vorsichtig“, sagte sie.

Dann, als sie vor dem Gedenkstein standen, war ihr Unbehagen aus einem unerfindlichen Grund wieder verschwunden, trotzdem hielt sie es für angebracht, ihren Freund zu warnen. Sie erinnerte sich noch gut an das unangenehme Kribbeln in ihrem Arm.

Der Gedenkstein sah nicht anders aus als vor einer Woche, aber wie anders hätte er auch aussehen sollen? Theo hielt die Mahnung Cornelias trotz ihrer Schilderungen der Vorkommnisse für übertrieben. Er ging vor dem Stein in die Hocke, während Cornelia hinter ihm stehen blieb.

Der größte Teil des Mooses, das Cornelia weggekratzt hatte, lag vor dem Stein, ein kleinerer auf seiner Spitze wie eine Kappe oder ein Haarbüschel. Theo strich mit seiner Hand über die Oberfläche. Cornelia hielt unwillkürlich den Atem an, aber nichts geschah. Der Stein verhielt sich so, wie man es von einem gewöhnlichen Gedenkstein erwarten konnte. Auch Theo las:

Zum Gedenken an den Holzfäller

Heinrich Kreutzner

† 10. April 1740

Von Wilderern erschlagen

„Und, hast du etwas gespürt?“, fragte Cornelia.

Theo schüttelte den Kopf.

„Nein, nichts. Ich habe auch nichts gesehen. Willst du es einmal versuchen?“

Cornelia zögerte, doch dann berührte auch sie den Stein, konnte aber ebenfalls keine Wirkung feststellen.

Theo richtete sich wieder auf.

„Aber da war etwas – Unheimliches“, sagte Cornelia bestimmt. „Ich habe mir das doch nicht ausgedacht. Ich habe die Bilder gesehen und das Kribbeln in meinem Arm gespürt, als floss Strom durch mich hindurch.“

Cornelia hörte sich an wie ein kleines Mädchen, das, allein, etwas gesehen hatte, was ihr keiner glaubte, weil diejenigen, denen sie es später zeigen wollte, es nicht sahen, da es nicht mehr da war. Im Grunde verhielt es sich ja auch so ähnlich, nur dass Cornelia ein großes Mädchen war.

„Ich glaube es dir ja“, erwiderte Theo besänftigend. „Seither ist ja auch noch mehr Unerklärliches passiert. Ich habe nur keine Ahnung, wie wir das alles unter einen Hut bringen sollen.“

Cornelia wusste auch keinen Rat, aber sie schlug vor, etwas über diesen Heinrich Kreutzner in Erfahrung zu bringen.

„Ob´s weiterhilft, weiß ich nicht“, meinte sie. „Aber es wäre immerhin ein Anfang.“

Sie gingen wieder zurück auf den Waldweg. Cornelia drehte sich noch einmal zu dem Gedenkstein um – und erstarrte.

„Theo! Er ist hier!“, sagte sie erschrocken.

„Wer ist hier?“

„Johannes! Er steht neben dem Stein.“

Theo kniff die Augen zusammen, da sie durch die Sonnenstrahlen geblendet wurden. Er wunderte sich, wie Cornelia unter diesen Umständen überhaupt etwas sehen konnte.

„Es ist zu hell“, meinte er und hielt beschattend eine Hand über seine Augen. „Ich sehe – warte.“

„Was?“, fragte Cornelia, ohne ihren Blick von Johannes abzuwenden.

Reglos stand er im Schatten einer Tanne, die neben dem Platz wuchs, auf dem der Gedenkstein, umrahmt von den beiden Farnkrautsträuchern, stand. Auch Cornelia konnte ihn unter diesen Lichtverhältnissen nicht so deutlich erkennen wie bei ihren vorhergehenden Begegnungen, aber immer noch klar genug, um keine Zweifel aufkommen zu lassen, es tatsächlich mit Johannes´ Erscheinung zu tun zu haben. In diesem Augenblick wunderte sie sich nicht, warum Johannes ausgerechnet am Gedenkstein von Heinrich Kreutzner aufgetaucht war, denn sie war wie gebannt. Es erging ihr, wie eine Woche zuvor, als sie vor ihrem geistigen Auge die undeutlichen Bilder gesehen hatte. Sie konnte weder denken noch bemerkte sie, was um sie herum vorging. Mit einer ruckartigen Bewegung deutete Johannes auf den Stein. Diese Bewegung kam so plötzlich, dass sich Cornelia erschrak.

Wer nun glaubt, dass er gleichzeitig eine geistige Botschaft an Cornelia oder Theo übermittelte, der irrt. Es geschah nichts weiter, als dass er auf den Gedenkstein zeigte. Kurz darauf verschwand er so plötzlich, wie er aufgetaucht war, und der Bann löste sich von Cornelia.

Was?“, wiederholte sie ihre Frage an Theo.

Beim ersten Mal hatte er sie gar nicht gehört, weil ihn der Anblick dessen, was sich neben dem Gedenkstein offenbarte, völlig einnahm, obwohl er nicht das Gleiche sah wie Cornelia. Es war jedoch nicht der sichtbare Teil der Erscheinung, der ihn so beeindruckte, sondern die Empfindung, die damit verbunden war. Und jetzt brauchte er eine Weile, um sich von dem Eindruck zu lösen.

„Wie was?“, erwiderte er wenig intelligent.

„Du sagtest: »Ich sehe – warte«. Was meintest du damit?“

„Sagte ich das? Ich erinnere mich nicht mehr. Ich habe nur einen Schleier gesehen und eine tiefe Betrübnis gespürt. Das ist alles.“

„Was für ein Schleier und was für eine Betrübnis?“

„Es war wie damals in der Nacht, als uns Johannes und Hannah erschienen sind. Da habe ich auch nur zwei milchige Schleier gesehen, wo die beiden standen. Im Gegensatz zu jener Nacht sandte der Schleier dieses Mal aber eine Trauer aus, wie ich sie nie vorher empfunden habe.“

„Also hast du ihn jetzt gar nicht richtig gesehen?“, fragte Cornelia enttäuscht.

„Genauso undeutlich wie beim ersten Mal, eben nur als Schleier oder Nebel. Wahrscheinlich hätte ich überhaupt nichts gesehen, wenn er vor der Sonne gestanden hätte. Und doch war es anders. Ich habe seine Gegenwart tatsächlich mehr empfunden als gesehen. Aber nicht sofort. Das Gefühl verstärkte sich während der Erscheinung. Und selbst, wenn ich seinen schwachen Schatten nicht gesehen hätte, hätte ich gewusst, dass er da war. Hast du nichts gefühlt?“

Cornelia schüttelte den Kopf.

„Nein, aber ich habe ihn deutlich gesehen. Zuerst stand er nur reglos da und blickte zu uns herüber. Dann zeigte er auf den Gedenkstein. Und kurz darauf war er wieder weg. Er löste sich genauso auf wie Hannah.“

„Merkwürdig, wirklich merkwürdig“, murmelte Theo wie im Selbstgespräch. „Was bedeutete seine Geste?“

„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte Cornelia.

Plötzlich erstrahlte Theos Gesicht.

„Weißt du, was ich eben erlebt habe, war phänomenal und in meinem Leben bisher einmalig. Noch nie habe ich die Gegenwart eines unsichtbaren Wesens bemerkt. Aber eben war es so deutlich, als berührte mich ein leibhaftiger Mensch. Es war sogar noch eindringlicher als die Erscheinung von Hannah und Johannes in unserem Schlafzimmer. Ich gebe zu, dass ich bis heute und trotz unserer jüngsten Erfahrungen gegenüber angeblichen Geistern und ihren Erscheinungen immer noch gewisse Vorbehalte hegte. Jetzt weiß ich, dass es sie gibt. Und dieser scheint ein sehr trauriger Geist zu sein.“

Cornelia sah Theo verdrossen an.

„Also hast du es mir doch nicht geglaubt.“

„Sei mir nicht böse – also gut, du bist mir böse und fühlst dich von mir hintergangen, verraten, gekränkt und getäuscht.“

„Nicht alles auf einem Mal, aber ja, doch. So ist es wohl.“

Er legte begütigend einen Arm um ihre Schulter und lenkte ihre Schritte auf den Weg. Nur mit Mühe widerstand Cornelia dem Wunsch, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Sein Bekenntnis hatte sie nach allem tatsächlich gekränkt, aber irgendwo in ihrem Inneren wusste sie, dass sie wenigstens ein wenig Verständnis für ihn aufbringen musste, denn schließlich waren ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht in den vergangenen Tagen wesentlich drastischer gewesen als seine. Wie es schien, reagierten ihre Sinne deutlich empfindlicher auf übersinnliche Erscheinungen als seine. Aber unerklärlicherweise taten sie das auch erst seit einer Woche. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis sich Cornelias Enttäuschung über ihren Freund gelegt hatte. Langsam gingen sie wieder zurück.

„Hör zu“, sagte Theo nach einer Weile bedrückenden Schweigens.

„Was gibt es da zuzuhören?“, unterbrach ihn Cornelia.

Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie mit Theo haderte. Meistens dauerte dieser Zustand nicht sehr lange, aber dieses Mal schien ihre Verletzung tiefer zu sein, und Theo konnte sich mehrere Gründe vorstellen, warum sie gerade in diesem Fall empfindlicher reagierte als gewöhnlich.

„Ich glaube, es gibt einiges, warum du mir zuhören solltest, warum wir uns gegenseitig vielleicht etwas besser zuhören sollten.“

„Das wäre schön, wenn es auch so gemeint ist.“

„Es ist so gemeint“, sagte Theo sanft. „Auch wenn du daran zweifelst, ich habe dir geglaubt, zumindest teilweise. Warte, lass mich ausreden. Zugegeben, anfangs war ich skeptisch, wie du weißt. Aber als sich die merkwürdigen Erscheinungen häuften, wurde mir klar, dass du dir das nicht zusammenfantasiertest. Ich habe auch nicht übersehen, wie dich diese Erlebnisse bedrückt haben. Aber wir sind hier auf Phänomene in der Welt gestoßen, die mir unmöglich erschienen, und auf die ich keine Antworten hatte. Um ehrlich zu sein, ich habe immer noch keine. Ich wusste nicht, wie ich dir helfen konnte, damit fertig zu werden. Du weißt selbst, wie ich immer darüber dachte. Kurz, ich glaubte dir, dass du Dinge erlebtest, die mir fremd waren, wie den meisten Leuten, aber alles in mir sträubte sich daran zu glauben, dass es sich tatsächlich um Geistererscheinungen handelte. Für mein Verständnis durfte es so etwas nicht geben.“

„Und? Hat sich das jetzt geändert?“, fragte Cornelia zweifelnd.

„Seit heute, ja. Jetzt weiß ich, dass es sie gibt“, wiederholte er.

„Und was schließt du daraus?“

Theo zuckte mit den Achseln.

„Fürs Erste kann ich nur sagen, dass Geistererscheinungen Realität sind, jedenfalls unsere. Und was ich heute erlebt, oder, was dem näher kommt, empfunden habe, war wirklich phänomenal. Aber was ich daraus schlussfolgern soll, weiß ich noch nicht.“

Theo war sich überhaupt nicht klar darüber, wie phänomenal seine Beobachtung wirklich war. Zu Geistererscheinungen, hatte er gehört, kam es angeblich nur in der Dunkelheit einer Nacht oder eines finsteren Ortes, und dann konnten sie, gelinde gesagt, ziemlich beeindruckend sein. Tagsüber waren sie eher unwahrscheinlich. Dass er dabei auch eine deutliche psychische Ausstrahlung wahrgenommen hatte, war für ihn eine einmalige und noch dazu überwältigende Erfahrung. Aber was ihn dabei am meisten überraschte, war die Tatsache, dass Johannes´ Erscheinung keine Furcht bei ihm ausgelöst hatte. Dabei sollten Geistererscheinungen doch stets eine Furcht einflößende Wirkung auf ihre Umgebung ausüben. Im Fall von Cornelia hatte sich das ja auch bestätigt und für ihn bei der Erscheinung in ihrem Schlafzimmer ebenso, aber unter den Umständen dieser Begegnung fiel es ihm unerwartet leicht, die Erscheinung mit einer gewissen »Begeisterung« zu betrachten. Es ist unwahrscheinlich, dass er sie unter den Begleitumständen, unter denen sie in anderen Fällen auftraten, auch so gelassen ertragen hätte. In diesem Augenblick schien er seine Beklemmung bei dem Auftauchen von Johannes und Hannah in ihrem Schlafzimmer vergessen zu haben. Aber so wenig, wie er dieses Mal Furcht empfunden hatte, so sehr mangelte es ihm auch an Mitleid mit Johannes. Mitleid mit einem Geist war für ihn zu dieser Zeit genauso undenkbar, wie vor kurzem noch die Möglichkeit der Existenz von Geistern.

Theos Erklärungen hatten Cornelia wieder etwas versöhnlicher gestimmt. Ihr war durchaus bewusst, dass er, so wie er über solche Dinge immer gedacht hatte, große Schwierigkeiten damit gehabt haben musste, sie zu akzeptieren. Ihr selbst war es ja schon schwergefallen, obwohl sie erdrückende Beweise erfahren hatte. Trotzdem hätte sie von ihm etwas mehr Aufrichtigkeit erwartet, auch wenn es sie gekränkt hätte. Aber dann musste sie sich eingestehen, dass er in der Absicht gehandelt hatte, ihren nervlich bedenklichen Zustand nicht noch zu verschlimmern. Und das glaubte sie ihm. Dann kam sie zu dem Schluss, dass Theo vielleicht doch nicht so ganz unaufrichtig gewesen war.

„Also gut“, sagte sie. „Reden wir nicht mehr darüber.“

„Bist du sicher?“

„Wenn ich es sage. Stattdessen sollten wir versuchen, etwas mehr Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Des Rätsels Lösung liegt noch fern.“

Theo blickte Cornelia amüsiert an.

„Das hast du schön gesagt, aber du hast Recht. Viel mehr als vorher wissen wir auch jetzt noch nicht. Du sagtest, Johannes hat auf den Gedenkstein gezeigt.“

„Ja, und ich finde es schade, dass es ihm nicht gelungen ist, uns mitzuteilen, was er wollte.“

„Ich bin sicher, er hat es nicht ohne Grund getan“, meinte Theo nachdenklich. „Irgendetwas wollte er uns mitteilen, aber was? Anscheinend ist es ein besonderes Merkmal unserer geisterhaften Freunde, dass es ihnen nicht gelingt, mit uns verbal in Verbindung zu treten. Bei Hannah ist es schließlich genauso.“

Unvermittelt blieb Cornelia wie angewurzelt stehen und hielt Theo am Ärmel zurück.

„Was ist jetzt?“, fragte er erstaunt und blickte sich um. „Sind sie wieder da?“

„Wir sind blind“, stellte sie fest, ohne auf seine Fragen zu antworten. „Dabei lag es spätestens, seit du deinen Traum hattest auf der Hand, dass Heinrich und Johannes nicht nur irgendwie in Verbindung stehen, sondern ein und dieselbe Person sind.“

Theo blickte seine Freundin verdutzt an.

„Ach ja? Wie kommst du jetzt darauf?“

„Hatte ich dir die Erscheinung von Johannes nicht ziemlich genau beschrieben? Den Hut, den Vollbart, das rote Halstuch, sein Humpeln. Denk an deine vielleicht nicht ganz ernst gemeinte Behauptung, er wäre bestimmt ein Holzfäller. Und wie hast du mir Heinrich beschrieben?“

Theo überlegte, dann nickte er.

„Stimmt. Die Ähnlichkeit hätte mir auch auffallen müssen.“

„Ja, Johannes und Heinrich sind ein und dieselbe Person. Jetzt verstehe ich, was er uns an dem Gedenkstein mitteilen wollte. Dass nämlich er der Heinrich Kreutzner war, zu dessen Gedenken der Stein aufgestellt wurde.“

[Dass sie sich mit dieser Deutung seiner Geste irrte, konnte Cornelia zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. Unter den gegebenen Umständen musste sie zu dem Schluss kommen, dass er einen Hinweis auf sein Erdenleben geben wollte. Sein wahrer Grund, und es war ein überaus schauriger, sie auf diese Weise auf den Stein aufmerksam zu machen, war ihnen vorerst noch verborgen. Aber wenn sie ihn gekannt hätten, hätten sie Heinrichs Trauer verstanden.]

„Das hieße ja, Heinrichs Geist wäre schon 260 Jahre alt, vielleicht sogar noch älter“, sagte Theo.

„Wenn Zeit für ihn überhaupt eine Rolle spielt.“

„Warte. Du weißt, dass mein Traum in dem Fall noch mysteriöser wäre. Ich glaube nicht, dass er über mich kam, weil ich mich besonders intensiv mit Heinrichs Schicksal beschäftigt habe. Inzwischen scheint ja vieles möglich und so, wie ich mich nach dem Aufwachen gefühlt habe, war es am Ende mehr als ein Traum. Du hast mir vorgeworfen, dass ich dir deine Aussagen nicht in vollem Umfang geglaubt habe, und du hattest Recht damit. Mal sehen, ob du mir jetzt glaubst. Das, was ich denke, verlangt einiges an Vorstellungskraft.“

Theo unterbrach sich kurz und ließ seine Worte auf Cornelia wirken. Sie sah ihn erwartungsvoll an.

„Was hältst du von meiner Vermutung, dass ich den letzten Tag im Leben des Heinrich Kreutzner miterlebt habe? Dass ich es mir gar nicht aus meiner Phantasie heraus vorgestellt habe, sondern es eine Seelenreise durch die Zeit war, und ich am Tag seines Todes sozusagen Kopilot in seinem Körper war, er am Ende aber stark genug war, um mich wieder `rauszuschmeißen. Deshalb habe ich nur sehr verschwommene Erinnerungen an die letzten Stunden in seinem Leben.“

Cornelia sah Theo verblüfft an. Plötzlich fing er an zu lachen.

„Jetzt solltest du dein Gesicht einmal sehen“, meinte er vergnügt. „Ich glaube, jetzt sind wir quitt. Ich meine es ernst. Dieser Traum war kein gewöhnlicher Traum. Ich glaube nicht einmal, dass es überhaupt ein Traum war. Ich werde dir etwas verraten, was dir vielleicht sogar den Atem verschlägt. Hinter all den Erscheinungen und unseren Erfahrungen steckt viel mehr. Das alles ist ein Teil der Botschaft, die uns die Geister mitteilen wollen. Sie müssen es gar nicht in Worten ausdrücken. Wir müssen das Puzzle nur richtig zusammensetzen, um die Botschaft zu verstehen.“

„Du glaubst, hinter allem steckt mehr als das zufällige Zusammentreffen von übersinnlichen Erscheinungen?“, fragte Cornelia zweifelnd.

„Davon bin ich überzeugt, obwohl ich noch weit davon entfernt bin, die Zusammenhänge zu begreifen.“

„Das ist doch völlig verrückt“, meinte Cornelia. „Aus welchem Grund sollten die Geister versuchen, uns eine Botschaft zu übermitteln?“

Dass Hannah schon mehrmals versucht hatte, ihr etwas mitzuteilen, war Cornelia durchaus klar, aber der Gedanke an eine tiefsinnige Botschaft war ihr noch nicht gekommen.

„Ich sagte doch, dass ich es noch nicht begreife. Aber genauso muss es sein. Und irgendwo gibt es eine Verbindung zwischen ihnen und uns.“

Schweigend und nachdenklich gingen sie nebeneinander her. Jeder von den beiden hing seinen Gedanken nach.

Plötzlich begann Cornelia zu frieren und rieb sich die nackte Schulter. Es war ein warmer Tag und beide trugen nur leichte Sommerbekleidung.

„Was hast du?“, fragte Theo.

„Mir ist kalt.“

„Dir ist kalt? Ich schwitze mich halb tot und du frierst?“

„Es ist aber so. Nein, jetzt ist es wieder vorbei. Was war das?“

„Bestimmt der Anflug einer Sommergrippe“, vermutete Theo scherzhaft. „Sozusagen eine Sekundengrippe.“

„Unsinn, mir fehlt nichts. Und eine Sekundengrippe gibt es nicht.“

Theo lachte, aber Cornelia schüttelte sich noch einmal unwillkürlich, dann gingen sie weiter. Kurz darauf war dieser kurze Vorfall vergessen.

Die plötzliche Kälte, von der Cornelia ergriffen wurde, war keine Einbildung, und ihre Ursache war eine wahrlich schaurige. Seit einiger Zeit war der dunkle Schatten, vor dem Cornelia solche tiefe Furcht empfand, nicht mehr in Erscheinung getreten und beinahe in Vergessenheit geraten. Aber er war nicht verschwunden und befand sich in diesem Augenblick auf der Suche nach Hannah, die er schon bei seinem ersten Auftauchen in der Blockhütte verfolgt hatte. Während Heinrich am Gedenkstein sichtbar geworden war, befand sich Hannah unsichtbar in seiner Nähe und war von einer furchtbaren Angst erfüllt. Sie wusste, dass der Schatten hinter ihr her war, und nur in der Nähe von Heinrich war sie vor ihm sicher. Deshalb hielt sie sich möglichst immer bei ihm auf. Beide kannten die Identität des dunklen Schattens und wussten, von welch furchtbarer Art dieses Wesen tatsächlich war. Es handelte sich nicht um einen Menschen, nicht einmal um den Geist eines verstorbenen Menschen, sondern um einen Dämon, einen echten Dämon. Wenn er auch nicht unmittelbar mit Heinrich in Verbindung stand, auch wenn er gelegentlich gemeinsam mit ihm auftauchte, so hatte er doch einen unheilvollen Einfluss auf das Schicksal von Hannah, die in Wirklichkeit Walburga war, die irdische Tochter von Heinrich, und nicht einmal nach ihrem irdischen Tod wollte der Dämon von ihr ablassen.

Von diesen Zusammenhängen ahnten Cornelia und Theo nichts. Sie bekamen nur gelegentlich ihre Auswirkungen in die irdische Welt zu spüren und eine davon war der kurze Augenblick, als Cornelia von der Kälte des Schattens gestreift wurde, der nicht weit von ihr zwischen den Bäumen des Waldes lauerte.

Daran, dass sich dieser Schatten in ihrer Nähe aufhalten könnte, dachten sie nicht. Und der kurze Eindruck, den er bei Cornelia hinterlassen hatte, reichte nicht aus, um ihre Sinne auf ihn zu lenken.

„Ich bin froh, dass unser Besuch des Gedenksteins doch nicht umsonst war, wie ich zuerst dachte“, meinte Cornelia.

„Er war nicht nur nicht umsonst, ich finde, wir haben sogar mehr herausgefunden, als ich dachte“, sagte Theo. „Na ja, war eigentlich auch nicht schwierig, denn ich hatte mir eigentlich nicht viel davon versprochen.“

„Ich mir aber. Zumindest hatte ich gehofft, dass er immer noch so mitteilsam ist, wie es der Fall war, als ich ihn entdeckte. Ist das nicht irre? Hast du jemals gehört, dass ein gewöhnlicher Findling, auch wenn er einem so tragischen Ereignis geweiht ist, überhaupt eine solche Wirkung auf einen Menschen haben kann? Das ist doch eine Geschichte, die uns bestimmt keiner glaubt.“

„Stimmt, sie ist irre, und glauben wird sie auch niemand. Und doch scheint es nicht einmalig zu sein. Bisher habe ich über solche Fälle immer spöttisch gelächelt. Ab und zu liest oder hört man ja von solchen Dingen. Inzwischen bin ich aber geneigt, manchen einen gewissen Wahrheitsgehalt zuzugestehen, obwohl ich kein Beispiel nennen könnte. Aber in solchen Fällen wird oft im Zusammenhang mit mystischen Orten gesprochen. Wie ein solcher sieht mir derjenige, wo Heinrichs Erinnerungsstein steht, aber nicht aus.“

„Aber ist es nicht genau das, was einen mystischen Ort ausmacht, seine Unscheinbarkeit? Das Geheimnisvolle ist meistens unsichtbar, deshalb ist es doch geheimnisvoll.“

„Was hier aber wohl nicht der Fall ist, wie wir heute erlebt haben“, meinte Theo. „Bleibt immer noch herauszufinden, was dieser ganze Spuk soll.“

Cornelia fing an zu lachen.

„Was ist daran denn so lustig?“, fragte Theo irritiert.

„Na ja, du hast »Spuk« gesagt.“

„Ja, und? Stimmt doch, oder?“

„Hatte ich das nicht schon vor ein paar Tagen so ausgedrückt?“

„Ich weiß“, gab Theo zu. „Aber da war ich noch nicht so weit.“

„Aber jetzt glaubst du es auch.“

„Habe ich das nicht gesagt? Und deshalb will ich ja auch herausfinden, was dahintersteckt.“

„Falls es uns jemals gelingt. Immerhin bist du jetzt überzeugt, dass es Geistererscheinungen wirklich gibt“, stellte Cornelia mit Genugtuung fest. „Allein dafür hat sich unser Ausflug gelohnt.“

Für eine Weile gingen die beiden schweigend und in Gedanken vertieft Hand in Hand nebeneinander her. Plötzlich blickte Cornelia Theo an, wie nach einem Geistesblitz. Und so war es auch.

„Hältst du es für unmöglich, dass Hannah die Tochter von Heinrich war?“, fragte sie.

„Wie könnte ich das? Aber wie kommst du jetzt darauf?“

„Es ist doch auffällig, dass sie immer wieder in seiner Begleitung auftaucht. Daraus schließe ich, dass zwischen den beiden ein Zusammenhang besteht. Was liegt da näher, als dass Heinrich zu irdischen Lebzeiten der Vater von Hannah war. Sicher hatte sie einen anderen Namen, aber das hätte jetzt keine Bedeutung. Immerhin scheint er eine gewisse Schutzfunktion für sie zu haben.“

„Deswegen muss er nicht unbedingt ihr Vater gewesen sein, aber auszuschließen ist es ganz sicher auch nicht“, meinte Theo. „Es wäre leichter herauszufinden, wenn die beiden mit uns sprechen würden. Aber abgesehen davon, ich glaube, Hannah ist früh gestorben.“

„Meinst du?“

„Das jedenfalls erscheint mir sicher. Heinrich ist als Erwachsener ums Leben gekommen. Das geht schon aus dem Gedenkstein hervor. Auch wenn sein Alter unbekannt ist. Aber das weiß ich auch aus eigener Erfahrung. Und er erscheint dir als Geist in der Gestalt eines erwachsenen Mannes, Hannah dagegen zeigt sich stets als Kind.“

„Als Mensch würde ich sie auf zehn bis zwölf Jahre schätzen“, meinte Cornelia.

Theo nickte.

„Vermutlich ist sie in dem Alter gestorben. Da kommt mir so ein Gedanke.“

„Der wäre?“

„Na ja, er ist so gut wie jeder andere, das gebe ich zu – aber mein Gefühl sagt mir, dass es so ist. An dem Tag seines Todes wurde seine Tochter geboren. Damals war es nicht ungewöhnlich, dass Kinder früh starben. Vielleicht will Heinrich die Verantwortung, der er in seinem Erdenleben nicht mehr nachkommen konnte, auf diese Weise gerecht werden.“

„Möglich, obwohl ich es für sehr spekulativ halte. Ich glaube eher, dass er sie vor irgendetwas beschützt“, überlegte Cornelia.

„Zum Beispiel vor dem dunklen Schatten, was immer der darstellt“, erinnerte Theo. „Aber das läuft aufs Gleiche hinaus, finde ich.“

„Zum Beispiel, ja. Himmel, den hatte ich schon fast vergessen.“

Das, was sie sich überlegt hatten, konnte nur Spekulation sein. Für eine unwiderlegbare Deutung der Erscheinungen fehlten ihnen jegliche Beweise. Das meiste mussten sie aus dem schließen, was sie gesehen und erlebt hatten. Und das alles erschien sehr vage und zusammenhangslos.

„Das haben wir uns jetzt aber alles schön zurechtgereimt“, fand Cornelia dann auch, und ihre Stimme klang alles andere als überzeugt.

„Was anderes können wir im Augenblick tun?“, sagte Theo. „Auf jeden Fall sind wir da in eine Geschichte geraten, die wir nicht einfach ignorieren können. Ich behaupte sogar, dass wir eine nicht ganz unwichtige Rolle spielen.“

„Du meinst, wir sind nicht nur zufällige Zuschauer in einem interaktiven Schauspiel?“

„Das ist aber eine ungemein moderne Beschreibung dieser Geschichte“, meinte Theo lächelnd. „Aber das glaube ich ganz und gar nicht. Irgendetwas treibt die Geister der beiden um, und dabei brauchen sie unsere Hilfe. Ich glaube, in ihrem Erdenleben ist etwas passiert, das sie ins Reine bringen müssen, um Ruhe zu finden.“

„Und wir sollen ihnen dabei helfen.“

Theo nickte.

„Ja. Und ich habe noch keine Ahnung, wie und warum.“

„Ich auch nicht. Aber vielleicht geben sie uns ja doch noch irgendwelche Hinweise.“

„Das hoffe ich.“

Die Ereignisse hatten zu einer erstaunlichen Veränderung in Theos Weltsicht geführt, denn wie selbstverständlich sprachen sie über Dinge, die sie nur eine Woche zuvor für unmöglich gehalten hatten. Dabei war Theo stets der Skeptischere von den beiden gewesen, aber die Erlebnisse überstiegen auch das, was Cornelia für möglich gehalten hätte. Völlig unvorbereitet waren sie in eine Geschichte geraten, deren Ausmaß die beiden sich nicht hätten vorstellen können. Und sie hatte begonnen, ihre Weltanschauung zu verändern. Dabei standen sie erst an ihrem Anfang, und keiner konnte ihnen sagen, wie sie enden würde. Wiederholt fragten sie sich, warum ausgerechnet sie von den Toten heimgesucht wurden.

„Sag nicht »Von den Toten«“, bat Cornelia mit einem deutlichen Schauer in ihrer Stimme. „Dann wird die Geschichte nämlich erst richtig gruselig.“

Theo lachte. Es war ein sonniger Tag. Nachts wäre es ihm vielleicht schwerer gefallen, sich so unbefangen zu geben.

„Ich habe mich wohl falsch ausgedrückt“, gab er zu. „Sie sind ja auch gar nicht tot. Aber die Frage stellt sich trotzdem, oder?“

Sie überlegten, wie sie weiter vorgehen wollten. Dabei entdeckten sie eine neue Ader an sich. Sie begannen, den Fall unter kriminalistischen Gesichtspunkten zu betrachten, und ahnten nicht, dass die Umstände des Todes von Hannah eine solche Beurteilung durchaus rechtfertigten. Allein der gewaltsame Tod Heinrichs wäre schon ein Grund dafür gewesen, wenn sie auch nicht wussten, ob der Fall seinerzeit aufgeklärt worden war. Aber vielleicht ließ sich auch darüber etwas herausfinden. In Wahrheit hatten sie es nicht nur mit einem historischen Verbrechen zu tun, sondern mit einer wahren Tragödie, die sich um das Mädchen rankte.

So wurden Theo und Cornelia unbeabsichtigt Ermittler in einem Geisterkrimi und ahnten nicht einmal, dass sie damit dem Wunsch Heinrichs und Hannahs, deren irdischer Name Walburga war, entsprachen, denn so hatten es die Geister gewollt, auch wenn ihr Wunsch nicht notgedrungen die Aufklärung ihrer Schicksale war. Cornelia hatte nichts ahnend den Gedenkstein zu einem Zeitpunkt entdeckt, an dem bestimmte Bedingungen erfüllt waren, die den Geistern ein Tor in die irdische Welt öffneten. Ein solches Zusammentreffen trat im Fall des Gedenksteins für Heinrich Kreutzner nur alle paar Jahre auf und das auch nur in unregelmäßigen Abständen. Dass Cornelia genau zu einem solchen Zeitpunkt den Ort erreichte und noch dazu den fast vollkommen zugewachsenen Stein entdeckte, war so unwahrscheinlich, dass man nicht mehr von einem Zufall sprechen konnte. Aber von diesen Hintergründen ahnten sie ebenfalls nichts.

Zu all diesen unwahrscheinlichen Zufällen gehört aber auch die Tatsache, dass Theo und Cornelia nicht unabwendbar in diese Geschichte hineingezogen worden waren. Es hätte auch andere treffen können, die sich zu diesem Zeitpunkt an dem Gedenkstein aufgehalten hätten. Aber was Cornelia betraf, verfügte sie über verborgene Eigenschaften, die einen Kontakt mit Geistwesen begünstigten, ohne dass ihr diese Begabung jemals bewusst gewesen war.

Stattdessen dachten Cornelia und Theo an die naheliegenderen Dinge. Sie hatten den Namen Heinrich Kreutzner und dessen Todesdatum, und sie kannten die Todesumstände. Das war schon einmal ein Anfang. Sie beschlossen zu versuchen, auf den Kirchenämtern in der Umgebung etwas über Heinrich Kreutzner zu erfahren, und vielleicht auch über ein junges Mädchen, das früh gestorben und vielleicht seine Tochter war.

Als Theo und Cornelia aus dem Wald herauskamen und durch die Wiesen den Weg in Richtung Weidlingen einschlugen, folgte ihnen der Blick von zwei geisterhaften Wesen. Für einen kurzen Augenblick waren Heinrich und Walburga zwischen den Bäumen sichtbar geworden. Heinrich hielt das Mädchen an der Hand. Auch wenn sie ihre Bekümmerung immer noch nicht verloren hatte, so weinte sie doch nicht mehr. Heinrich sah das Mädchen mit einem Gesichtsausdruck an, den man unter irdischen Menschen leicht als aufmunternd gedeutet hätte. Dann wurden die beiden wieder unsichtbar.

Der dunkle Schatten befand sich nach wie vor in ihrer Nähe, außer sich, weil er dem Kind in der Begleitung des Geistes seines Vaters nichts anhaben konnte.

Das Geheimnis des Gedenksteins

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