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2. Nächtlicher Besuch

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Cornelia duschte und zog sich frische Kleidung an. Die Schramme auf ihrer Wange war kaum der Rede wert und benötigte keine Behandlung, aber sie würde am nächsten Tag bestimmt einen anständigen Muskelkater haben. Den kurz aufkeimenden Gedanken, wegen den Erlebnissen am Vormittag wieder nach Hannover zurückzufahren, schob sie beiseite. Es wäre ihr wie eine Flucht vorgekommen, und dazu bestand überhaupt kein Anlass. Dann kochte sie sich eine Kanne Tee und nahm eine Packung Kekse aus dem Schrank. Sie hatte erstaunlich wenig Hunger nach ihrem Abenteuer. Mit allem ging sie auf die Terrasse und stellte es auf einen Tisch. Dann ließ sich seufzend in einen Gartenstuhl sinken. Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, und bis zur Dämmerung würde es noch einige Zeit dauern, aber unweigerlich würde darauf die Nacht folgen.

Cornelia war ein wenig ratlos, weil sie nicht recht etwas mit dem anfangen konnte, was sie erlebt hatte. Sie glaubte zwar fest daran, dass es keine Einbildung war, aber steckte auch eine Bedeutung dahinter? Etwas Vergleichbares hatte sie noch nie erlebt. Sie hatte sich auch niemals für diesen ganzen Psychoschwachsinn, wie sie ihn verächtlich zu nennen pflegte, und ähnliche Dinge interessiert. Der Gedanke an Geister kam ihr gar nicht in den Sinn, obwohl es massenhaft Literatur darüber gab. Aber sie war ein zu nüchterner Mensch, um solche Geschichten ernstzunehmen. Cornelia dachte daran, Theo anzurufen und ihm von ihrem Erlebnis zu erzählen, aber dann verwarf sie den Gedanken wieder. Sie wusste, dass er über Derartiges genauso dachte wie sie. Außer seinen wohlwollenden Spott würde sie von ihm nichts erwarten können. Natürlich wollte sie ihren Freund an diesem Abend noch anrufen, aber dabei würde ihr »kleines Abenteuer« im Wald keine Rolle spielen. Ihr fielen auch keine anderen Freunde ein, die sie deswegen um Rat fragen konnte.

„So ein Quatsch!“, sagte sie dann entschlossen. „Die Sache ist aus und vorbei.“

Cornelia ärgerte sich darüber, dass sie immer wieder an ihr Erlebnis dachte, obwohl es ihr bedeutungslos erschien und fraglos einmalig bleiben würde. Die Bilder würden bald verblassen und nur als eine nebensächliche Episode eines ihrer Wochenendbesuche in Weidlingen in Erinnerung bleiben. Und der Gedenkstein war weit weg, wahrscheinlich würde sie ihn nicht einmal wiederfinden. Irgendwann würde sie ihrem Freund davon erzählen und sie beide würden darüber lachen. Das war alles. Und trotzdem grübelte sie noch eine Zeit lang weiter.

Nachdem sie eine Weile mit ihrem Freund telefoniert hatte und dabei ihrem Vorsatz treu geblieben war, sie verschwieg ihm zunächst sogar ihre Begegnung mit Ferdinand Pestacker, obwohl sie gar nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Gedenkstein stand, verbrachte sie den Rest des Abends vor dem Fernseher. Er dauerte aber nicht sehr lange, denn die Anstrengungen des Tages machten sich bemerkbar, und Cornelia wurde so müde, dass sie bald auf dem Sofa einschlief. Kurz darauf wachte sie wieder auf und ging ins Bett.

Es war Vollmond und bei Vollmond schlief Cornelia im Allgemeinen schlechter als sonst. Dieses Schicksal teilte sie mit vielen Zeitgenossen. Und da half es ihr auch nicht, sehr spät oder sehr müde ins Bett zu gehen. So kam es, dass sie kurz nach Mitternacht, als der Mond im Zenit stand, plötzlich aufwachte. Sie merkte sehr schnell, dass es ein anderes Erwachen war als in früheren Vollmondnächten, in denen sie sich noch halb im Dämmerzustand bis zum nächsten Morgen hin- und herwälzte, kaum wieder einschlafen konnte und ihren Freund, der in dieser Hinsicht weniger störanfällig war als sie, nicht selten ins Wohnzimmer aufs Sofa trieb.

Cornelia blinzelte und richtete ihren Blick auf die Decke des Zimmers. Sie war erstaunlich klar im Geist und ebenso erstaunlich munter. Silbriges Licht drang durch die beiden Fenster ins Schlafzimmer und ließ sie die Einrichtung gut erkennen. Sie hatte sich schon lange vorgenommen, neue, besser verdunkelnde Vorhänge anzubringen, war bisher aber noch nicht dazu gekommen. Alles machte einen ganz gewöhnlichen Eindruck, aber sie spürte eine ungewöhnliche Kälte in ihrem Zimmer, ungewöhnlich nach der Wärme des vergangenen Tages. Sie zog ihre Decke höher und dichter an sich heran und wollte sich gerade umdrehen, um zu versuchen weiterzuschlafen, obwohl ihr das nach ihren bisherigen Erfahrungen mit Vollmondnächten kaum gelingen würde, als sie in ihren Augenwinkeln etwas sah, was nicht in ihr Zimmer gehörte. Ruckartig drehte sie sich um und starrte auf die fremdartige Erscheinung. Cornelias Herz fing an zu klopfen. Im fahlen Licht des Vollmondes sah sie einen menschlichen Umriss an ihrer Bettkante.

Es war die Gestalt eines Mädchens. Wie war sie nur so heimlich in ihr Zimmer gekommen? Als sich Cornelias Augen an die Düsternis in dem Zimmer gewöhnt hatten, gewahrte sie einige Einzelheiten. Später wunderte sie sich darüber, dass sie sich noch so gut daran erinnern konnte, doch in diesem Augenblick war sie so befremdet, dass sie nicht einmal auf den Gedanken kam, das Kind anzusprechen.

Das Mädchen trug ein weißes, spitzenbesetztes Kleid mit kurzen Ärmeln, das nach unten mit dem Zwielicht verschmolz und vermutlich bis zu ihren Füßen reichte. Ihr helles, wallendes Haar reichte bis auf die schmächtigen Schultern und ihre unergründlichen Augen starrten aus einem blassen Gesicht unbewegt auf Cornelia. Unter den Augen glitzerte es, und es kam Cornelia so vor, als würde das Kind weinen. Ihre Arme hingen an den Seiten ihres Körpers herunter.

Mit einer merklichen Kraftanstrengung versuchte Cornelia, ihre Nachttischlampe einzuschalten, aber eine entschiedene Armbewegung des Mädchens beendete ihren Versuch. Cornelia spürte, wie ihre Kraft aus dem Arm wich und er erschlafft auf die Decke fiel. Sie war entsetzt. Auf eine solche Wirkung der Geste des Mädchens war sie nicht vorbereitet. Stumm und jetzt kaum weniger bleich als das Kind, starrte sie es an. Das Mädchen ließ seinen Arm wieder herabsinken. Dann öffnete es mehrmals seinen Mund, und Cornelia glaubte, das Mädchen wollte zu ihr sprechen, aber nicht einmal ein Atemgeräusch konnte Cornelia hören. Offensichtlich bemerkte es nicht, dass die Frau in dem Bett es nicht verstand, denn so ging es für kurze Zeit weiter, während der Strom ihrer Tränen zunahm. Plötzlich wandte das Mädchen sein Gesicht ein wenig zur Seite, und es bekam einen ängstlichen Ausdruck. Dann geschah etwas, das Cornelia aus der Fassung brachte. Das Kind verblasste und verschwand. Im gleichen Augenblick huschte ein mächtiger Schatten über Cornelias Bett hinweg, und hätte das Kind noch an der Stelle gestanden, wo es sich vorher befunden hatte, hätte der Schatten es umgerissen. Cornelia stockte der Atem.

Wo der Schatten hergekommen war, blieb für sie ein Rätsel. Seine Gestalt ähnelte keinem Wesen, das sie kannte, aber als er vor dem Bett auf dem Boden landete, benahm er sich wie ein Raubtier auf dem Sprung. Ein Auswuchs seiner Gestalt pendelte langsam hin und her, als suchte es etwas. Wenn es der Kopf war, dann waren jedoch weder Augen und Ohren noch eine Nase oder noch schlimmer, ein zähnefletschendes Maul zu erkennen. Und trotzdem war der Anblick so erschreckend, dass Cornelia ein gequältes Stöhnen von sich gab. Für einen kurzen Moment wandte sich der Schatten Cornelia zu und schien zu überlegen. Sie spürte, wie ihr die grausamste Feindseligkeit entgegenschlug, die sie je bei einem Wesen bemerkt hatte, und begann vor Angst zu wimmern.

Doch der Schatten griff nicht an. Stattdessen richtete er seinen unsichtbaren Blick auf die Wand vor sich und mit einem gewaltigen Satz sprang er mitten hindurch. Auch das geschah vollkommen lautlos. Schlagartig war die Kälte in dem Zimmer verschwunden.

Zitternd lag Cornelia in ihrem Bett, aber jetzt lag es nicht mehr an der Kälte. Sie starrte in die fahle Helligkeit ihres Schlafzimmers, ohne irgendetwas zu sehen. Es dauerte eine Weile, bis Cornelia begriff, dass sie wieder allein und der Spuk tatsächlich beendet war. Sie stürzte aus dem Bett, stürmte in die angrenzende Stube, suchte und fand die Schachtel Zigaretten, nachdem sie endlich den Lichtschalter gefunden hatte, steckte sich in ihrer Aufregung gleich zwei Zigaretten in den Mund, warf eine zu Boden und zündete sich die verbleibende mit zitternden Händen an. Sie atmete den Rauch so heftig ein, dass sie von einem Hustenanfall heimgesucht wurde. Durch diesen unangenehmen Reflex ihres Körpers fand sie aber einen Teil ihrer Fassung wieder.

Beunruhigt lief Cornelia durch das Zimmer. Was sie eben erlebt hatte, überstieg ihre Auffassungsgabe. Sie fühlte sich genauso ratlos, wie nach ihrem Erlebnis bei dem Gedenkstein mitten im Wald. Dass sich ein Kind in ihr Haus verirrte, hätte sie ja noch verstehen können, wenn es ihr erklärt hätte, wie es hereingekommen war und warum. Aber weder ein Kind noch ein anderer Mensch konnte sich einfach in Luft auflösen. Auch sein Verhalten war alles andere als begreiflich. Und das Auftauchen und anschließende Verschwinden des Schattens, der sich in seiner furchtbaren Erscheinung auch noch durchaus intelligent verhielt, war ebenso rätselhaft.

Cornelia zündete sich noch eine Zigarette an. Und jetzt? Was sollte sie tun? Sie blickte auf die Uhr. Es war halb zwei. Mitten in der Nacht. Sie wusste, schlafen würde sie nicht mehr können. In dem Haus wollte sie aber auch nicht mehr bleiben. Sie drückte ihre halb aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus, ging zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. Dann packte sie hastig ihre Sachen zusammen. Eigentlich hatte Cornelia vorgehabt, erst am Nachmittag dieses Tages zurückzufahren. Sie hatte sich von zu Hause ein wenig private Arbeit mitgebracht, wollte in der Ruhe der Umgebung in Weidlingen die Bilder ihrer letzten Urlaubsreise ordnen und archivieren und ein paar Briefe schreiben, aber unter diesen Umständen hielt sie es nicht länger in ihrem Blockhaus aus. Vielleicht, dachte sie in diesem Augenblick, komme ich nie wieder hierher. Aber sie tat es dann doch, und das hatte mit all diesen Erscheinungen zu tun.

In ungewöhnlicher Eile verließ Cornelia ihr Wochenendhaus, ließ das Türschloss zuschnappen, ohne die Haustür abzuschließen, lief zu ihrem Auto und warf ihre Taschen auf den Rücksitz. Für einen Augenblick starrte sie über das Lenkrad auf die Blockhütte, die in dem hellen Mondschein auf sie jetzt fast ein wenig gespenstisch wirkte.

„Es gibt keine Geister“, sagte sie entschieden, startete den Motor und verließ schwungvoll das Grundstück.

Glücklicherweise herrschte in der Nacht, noch dazu am Wochenende, wenig Verkehr, denn Cornelia war kaum bei der Sache, als sie ihr Auto durch die Stadt steuerte. Sie hatte sich zwar schon wieder beruhigt, war in Gedanken aber immer noch bei den Ereignissen in Weidlingen.

Cornelia wohnte in Ricklingen im Süden der niedersächsischen Landeshauptstadt und musste die Stadt der Länge nach durchqueren. In den frühen Morgenstunden, es wurde bereits hell, erreichte sie ihre Wohnung. Wie erwartet war Theo noch nicht zurückgekehrt. Cornelia ließ ihre Taschen im Flur stehen, ohne sie auszupacken. Mit einer Flasche Wein und einem Glas ging sie in das Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Obwohl es schon kurz nach vier Uhr war, fühlte sie sich nicht müde. Ihre Überlegungen drehten sich immer noch um die Erscheinungen, besonders um das kleine Mädchen an ihrem Bett. Wenn sie doch nur verständlich gesprochen hätte. Aber so würde Cornelia wohl kaum jemals herausfinden, was es von ihr wollte. Dass es jedoch vor dem Schatten geflohen war, fand sie weniger überraschend, so furchtbar, wie sein Auftauchen war. Nachdem Cornelia eine Zigarette geraucht und ein Glas Wein getrunken hatte, schlief sie auf dem Sofa ein.

Das Geheimnis des Gedenksteins

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