Читать книгу Das Geheimnis des Gedenksteins - Hans Nordländer - Страница 5

3. Ratlosigkeit

Оглавление

Cornelia erwachte am späten Vormittag mit heftigen Rückenschmerzen. In ihrer Erschöpfung war sie in einer ziemlich unbequemen Haltung eingeschlafen. Dazu machte sich ein fieser Muskelkater bemerkbar. Vielleicht war er in der letzten Nacht auch schon vorhanden gewesen, aber in ihrer Aufregung hatte sie ihn nicht bemerkt. Sie ging ins Bad und anschließend bereitete sie sich ein kleines Frühstück. Für gewöhnlich hörte sie bei den Mahlzeiten Radio, aber an diesem Morgen fand sie keinen Sender, den sie lange ertrug. Sie stellte das Radio wieder aus.

Cornelia hatte gehofft, dass sie mit ihrer Rückkehr nach Hannover auch ihre Erlebnisse in Weidlingen hinter sich lassen würde, aber bald stellte sie fest, dass die Bilder sie nicht in Ruhe ließen. Ihr erschienen die Ereignisse auch jetzt noch so klar und deutlich, dass ihr plötzlich wieder ein Schauer über den Rücken lief. Sie schüttelte sich unwillkürlich, aber wenn sie damit auch die Erinnerungen abschütteln wollte, gelang es ihr nicht.

Cornelia stellte das benutzte Geschirr in die Spüle und das übriggebliebene Essen zurück in den Kühlschrank. Dann ging sie wieder in die Stube, wo sie ihr Notebook einschaltete. Sie hoffte, auf andere Gedanken zu kommen, wenn sie sich die Dinge vornahm, die sie eigentlich in Weidlingen erledigen wollte, merkte aber schnell, dass sie sich nicht darauf konzentrieren konnte. Es war zum Verrücktwerden.

Sie lehnte sich im Sofa zurück und schloss ihre Augen. Sofort waren die verwirrenden Bilder wieder da. Dieses Mal zwang sie sich, sie noch einmal zu erdulden. Manchmal, in ähnlich aufwühlenden Fällen, hatte Cornelia die Erfahrung gemacht, dass unangenehme Eindrücke bald verblassten, wenn sie die Erinnerung daran noch einmal genauestens wachrief. In diesem Fall waren sie sogar noch hellwach, aber vielleicht gelang es ihr ja trotzdem, sie auf diese Weise loszuwerden.

Das elektrisierende Gefühl blieb ihr erspart, dafür wurden die Bilder so deutlich, wie sie befürchtet hatte. Cornelia hatte ein sehr gutes Gedächtnis, ihr Freund witzelte gelegentlich, dass, wenn es ihr gelänge, ihre Eindrücke auf einer Festplatte zu speichern, sie auf ihre Kameras verzichten könnten. Sie hätten weniger mit sich herumzuschleppen und würden viel Geld sparen. Manchmal war eine solche Fähigkeit ja ganz praktisch, aber sie konnte auch zu einem Fluch werden, wie in diesem Fall, wenn man solche Bilder nicht mehr vergessen konnte. Und Cornelia fürchtete sich vor dem Tag, an dem sie Furchtbares zu sehen bekommen würde. Glücklicherweise war ihr das aber bis dahin erspart geblieben.

Aus dem, was sie am Gedenkstein gesehen hatte, wurde sie immer noch nicht schlau. Die Konturen waren zu verwischt und die Bewegungen der unterschiedlich grauen Flächen zu schnell, als dass sie darin einen Sinn erkennen konnte. Das Mädchen in ihrem Schlafzimmer war zwar deutlich zu sehen und sie hielt sich dort mehrere Minuten auf, schätzte Cornelia, aber ihre Handlung war ebenso unverständlich. Was hatte es von ihr gewollt? Und wie konnte es so einfach verschwinden, ohne aus dem Zimmer zu gehen? Cornelia glaubte nicht an Geister. Alles hatte eine vernünftige Erklärung, da brauchte es keine Geister, aber in diesem Fall stieß Cornelias Vernunft an ihre Grenzen. Und dann kam dieser furchtbare Schatten.

Cornelia stutzte. Während sie die Bilder noch einmal im Geiste vorbeiziehen ließ, machte sie eine vielleicht bedeutsame Entdeckung. An dem Gedenkstein wurde die Szene für einen kurzen Augenblick ebenfalls von einem vorüberziehenden, unförmigen Schatten überlagert. Sie wiederholte im Geiste die Szene in ihrem Schlafzimmer und die an dem Gedenkstein. Cornelia war sich ihrer Umgebung durchaus bewusst und froh, dass sie sich jetzt weit weg von den Ereignissen in Weidlingen in ihrer Stube in Hannover befand und draußen heller Tag war. In der Dunkelheit der Nacht hätte sie sich das alles nicht noch einmal vorstellen mögen. So gelang es ihr, die Szenen bei geschlossenen Augen zu vergleichen, ohne sie durch deren erschrockenes Öffnen unterbrechen zu müssen.

Bisher war Cornelia sicher, dass die beiden Ereignisse nichts miteinander zu tun hatten, wie denn auch? Und ihr war rätselhaft, warum sie, obwohl sie noch niemals zuvor in ihrem Leben von Visionen, wie manch einer diese Erscheinungen wahrscheinlich nennen würde, heimgesucht worden war, in so kurzer Zeit gleich zweimal eine derartige Erfahrung gemacht hatte. Plötzlich kam Cornelia zu der Erkenntnis, dass die beiden Schatten eine gewisse Ähnlichkeit hatten. Wenn auch alles sehr schnell ging, so glaubte sie doch Gemeinsamkeiten zu erkennen. Und wenn es nicht unbedingt die Gestalt war, so doch die Art und Weise, wie sich die beiden Schatten bewegten und, und das war die wesentliche Gemeinsamkeit, beide hatten bei Cornelia einen gleichermaßen schauerlichen Eindruck hinterlassen. Konnte es also sein, dass es sich um ein und dieselbe Erscheinung handelte, oder waren es zwei ähnliche Erscheinungen mit gleichem Ursprung? Erschrocken öffnete Cornelia ihre Augen. Sie war allein in der Stube. Nein, Geister gab es nicht, aber war es möglich, dass dieser Schatten sie verfolgte? Doch genauer betrachtet war auch das unwahrscheinlich, denn er hatte sich anscheinend mehr um das Mädchen gekümmert als um sie.

Cornelia schüttelte energisch den Kopf. Das alles war völliger Unsinn. Die Angelegenheit begann sie zu ärgern. Warum machte sie sich überhaupt so viele Gedanken darüber, fragte sie sich zum wiederholten Mal. Waren es womöglich erste Anzeichen dafür, dass sie überschnappte? In ihrer Familie waren ihr allerdings keine Geisteskrankheiten bekannt. Cornelia stand auf, ging in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Zurück in der Stube widmete sie sich wieder ihrem Notebook und zwang sich zu vergessen, worüber sie nachgegrübelt hatte. Die kommende Nacht lag noch in weiter Ferne.

Cornelia zuckte zusammen, als am späten Nachmittag die Eingangstür zu ihrer Wohnung geöffnet wurde. Es war ihr schließlich doch noch gelungen, sich voll und ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und das so gut, dass sie ein Schreck bekam, als das Türschloss betätigt wurde.

„Hallo Schatz“, sagte Theo, als er in das Wohnzimmer kam. „Du bist schon da?“

„Ja, schon seit heute Vormittag“, erwiderte Cornelia lächelnd. „Ich hatte hier ein paar Unterlagen liegenlassen, ohne die ich nicht weiterkam. Da wurde es mir in Weidlingen zu langweilig.“

„Ach so, na das kann passieren.“

Er beugte sich zu Cornelia hinab und gab ihr einen Kuss.

„Oh, woher hast du denn diese Schramme?“, fragte Theo. Erst jetzt hatte er die kleine Wunde in ihrem Gesicht entdeckt.

„Ach, sie ist nicht der Rede wert“, erwiderte sie abwiegelnd. „Ein kleines Andenken an meinen Spaziergang im Wald. Ein tiefhängender Ast. Ich war ein wenig unaufmerksam.“

Er grinste und ging ins Bad. In Cornelia sträubte sich manches, ihm zu erzählen, was in Weidlingen Unheimliches passiert war.

„Hast du noch einen Kaffee fertig!“, rief er durch die Tür. „Nach der langen Fahrt könnte ich jetzt einen gebrauchen.“

„In der Kanne neben der Spüle!“, erwiderte sie.

Er kam mit der Kanne und einer Tasse zurück. Cornelias Tasse stand noch auf dem Stubentisch.

„Du auch?“

Sie nickte und er goss ihre Tasse voll, dann setzte er sich zu ihr aufs Sofa und legte einen Arm um sie.

„Wie war dein Job?“, fragte Cornelia.

Theo lehnte sich zurück.

„Irgendwie sinnlos“, meinte er niedergeschlagen. „Irgendwann möchte ich einmal eine richtig gute Story schreiben.“

„Du meinst, eine, die dich bekannt macht.“

Er lächelte.

„Ist das nicht der Traum eines jeden Journalisten.“

„Also einen echten Skandal aufdecken, wie zum Beispiel einen zweiten Watergate-Skandal.“

„Bescheiden bist du nicht, oder?“, meinte Theo.

„Du hast damit angefangen.“

„So hoch wollte ich eine »gute Story« gar nicht hängen. Es würde mir schon reichen, aus den Niederungen der Lokalpolitik herauszukommen. Wen interessiert denn wirklich, ob irgendwo in der Provinz ein Windrad aufgestellt werden soll und es möglicherweise das Wohlbefinden der Viecher des örtlichen Taubenzüchtervereins beeinträchtigt?“

Cornelia lachte.

„Jeder fängt klein an. Außerdem, du kannst ja in deinen Artikel beiläufig einfließen lassen, welch brisantes Material die Brieftauben transportieren.“

Theo blickte Cornelia betont erschrocken an.

„Glaubst du wirklich, dass so etwas passiert?“

„Es ist auf jeden Fall unauffällig und schwieriger zu überwachen als eine E-Mail.“

„Da hast du eigentlich Recht“, meinte Theo und nickte nachdenklich. „Da bleibe ich dran. Ich glaube, mein Opa hat noch ein Schrotgewehr. Damit werde ich jede Taube, die mir begegnet, vom Himmel holen und nachschauen. Da muss doch eine Story drin sein?“

„Du willst was?“

„Deinem Rat folgen. Na, du weißt schon, Verschwörungen aufdecken und so weiter.“

„Bist du jetzt ....?“, sie unterbrach sich, als Theo anfing, lauthals zu lachen.

„Du hast mir das doch nicht etwa geglaubt, oder?“, fragte er.

„Natürlich nicht“, meinte Cornelia entschieden. „Wer würde dir einen solchen Blödsinn abnehmen.“

„Eben, außer dir bestimmt keiner - aua!“ Cornelia hatte mit einer leeren Blumenvase ausgeholt und drohte, mit ihr nach ihm zu werfen. Seine Schmerzensäußerung und die abwehrend erhobenen Arme waren rein vorbeugende Maßnahmen. Er nahm ihr die Vase aus der Hand und küsste sie besänftigend. „So, und morgen schreibe ich einen total langweiligen Artikel über Taubenzüchter und Windmühlen. Zufrieden?“

„Das ist auch vernünftiger.“

„Und dann gehe ich auf die Suche nach der wirklich großen Story“, setzte er nach.

„Dann mach `mal.“

„Und wie war dein Wochenende in Weidlingen?“, wechselte er schließlich das Thema.

„Unspektakulär“, log Cornelia, die immer noch nicht darüber reden wollte. „Aber ich habe zum ersten Mal in meinem Leben einen Jäger kennengelernt.“

„Ach so“, meinte Theo. „Wie das?“

„Es war sogar ein unerwartet netter Jäger. Er heißt Pestacker, Ferdinand Pestacker, und hat mir das Leben gerettet.“

„Ein richtiger Held also. Ein Held mit einem allerdings wenig heldenhaften Namen.“

„Im Hinblick auf deinen eigenen Namen solltest du dich vielleicht nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen“, bemerkte Cornelia mit verhaltenem Spott.

„Wie gemein von dir“, erwiderte Theo gekränkt. „Wie war er denn?“

„Charmant, jedenfalls so charmant, wie jemand sein kann, den man im tiefsten Wald trifft.“

„Ich verstehe kein Wort. Wie kann jemand, der Pestacker heißt, charmant sein? Und was treibst du dich im tiefen Wald herum? Wie alt ist er überhaupt?“

Cornelia gab ihrem Theo einen Kuss und meinte verschmitzt: „Älter als du. Wie alt weiß ich nicht, aber er ist glücklich verheiratet -.“

„Behauptet er.“

„Und ich glaube ihm das. Er hat mir auch keine Avancen gemacht, wenn du das befürchtest. Du brauchst also nicht eifersüchtig zu sein.“

„Dann bin ich beruhigt. Hat er gesagt, wo er herkommt?“

„Er war einfach da.“

„Nein, das meine ich nicht. Wo wohnt er?“

„Irgendwo in Hannover. Mehr weiß ich auch nicht. Warum? Willst du ihn zur Rede stellen?“

Theo überlegte.

„Warte `mal. So ein Kleiner mit kräftiger Figur und einem graumelierten Vollbart. So Mitte fünfzig.“

„Kennst du ihn?“

„Kennen nicht, aber ich glaube, ich weiß, wer es sein kann. Erinnerst du dich noch an den Steintor-Mord im letzten Jahr.“

„Es wurde ja oft genug darüber berichtet. Ach so, du meinst den Kommissar, dem die Aufklärung des Falles gelang.“

„Genau. Ich meine, der hieß auch Pestacker.“

„Wie blöd von mir. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können. Die Beschreibung jedenfalls passt. Wie ein Polizist kam er mir aber nicht vor.“

„Sehr viele Polizisten mit diesem Namen wird es sicher nicht geben. Und dass du nicht darauf gekommen bist“, Theo strich Cornelia sanft durchs Haar, „du bist eben blond.“

„Idiot“, erwiderte sie scharf und knuffte ihm in die Rippen. Theo lachte. „Und dabei habe ich versucht, ihn davon zu überzeugen, dass ich nicht so blond bin, wie ich aussehe.“

„Aha, und wieso?“

„Weil ich nicht sofort einwilligte, mich von ihm zurück nach Weidlingen bringen zu lassen.“

„Man, besser Frau, kann da ja auch nicht vorsichtig genug sein.“

„Er war der gleichen Meinung. Und er war anständig, wenn dich das beruhigt.“

Über ihre Plauderei waren Cornelias Erinnerungen daran, was in Weidlingen noch passiert war, ein wenig in den Hintergrund getreten, und sie hatte noch kein Wort darüber verloren, was sie mit ihrem »Lebensretter« zusammengebracht hatte. Theo war nicht sicher, ob sie Pestacker nur zum Spaß so genannt hatte, um ihn aufzuziehen. Als er im Bad war, hatte er ihre schmutzige Kleidung zwar gesehen, aber sich zunächst nichts dabei gedacht, denn er wusste, dass Cornelia manchmal etwas nachlässig in diesen Dingen war. Andererseits gehörte die Jacke zu ihren Lieblingskleidungsstücken, die sie für gewöhnlich wie einen Augapfel hütete, und er überlegte, ob da etwas war, was sie ihm noch nicht erzählt hatte. Sie gab schließlich zu, dass sie sich im Wald verlaufen hatte.

„Einfach so?“, meinte Theo und entwickelte einen geradezu kriminalistischen Spürsinn, als er an den Zustand ihrer Hose und ihrer weißen Jacke, die sie sonst mit fast peinlicher Vorsicht behandelte, damit sie keine schmutzigen Stellen bekam, dachte. Vielleicht hatte ihre Wunde auch einen anderen Grund als nur eine augenblickliche Unaufmerksamkeit, genauso wie ihre vorzeitige Rückkehr. Er war sicher, dass Cornelia etwas vor ihm verheimlichte, aber seine Befürchtung ging zunächst in eine falsche Richtung.

„Was ist dir wirklich passiert?“, fragte er besorgt.

Cornelias Stimmung änderte sich schlagartig, und sie blickte Theo mit einem bekümmerten Gesichtsausdruck an.

„Glaubst du, ich werde verrückt?“, fragte sie.

Theo sah sie verblüfft an, dann lächelte er.

„Du bist es doch schon, jedenfalls hat man manchmal den Eindruck.“

„Quatsch, so meine ich das nicht. Hast du das Gefühl, dass mit meinem geistigen Zustand irgendetwas nicht stimmt, dass meine Phantasie manchmal mit mir durchgeht.“

„Ich meine, manchmal könntest du sogar etwas phantasievoller sein.“

Sein Blick verriet ihr, woran er in diesem Augenblick dachte.

Wütend schlug sie mit einem Kissen nach ihm.

„Mann, Scheiße, jetzt hör auf damit! Ich meine es ernst, sehr ernst, hörst du? Findest du, dass mit mir irgendetwas nicht in Ordnung ist.“

Theo wusste nur zu gut, wann er den Bogen bei Cornelia überspannte, und jetzt war er kurz davor. Er wurde ernst.

„Was ist los?“, fragte er.

Cornelia sank ein wenig in sich zusammen.

„Das ist es ja, ich weiß es nicht“, meinte sie leise. „Ich hatte hier nichts vergessen. Meine Rückkehr hat einen anderen Grund.“

Sie schwieg.

„Den du mir nicht sagen willst. Aber wie soll ich dann ....?“

„Ich versuche es doch gerade, aber du musst es mir glauben, versprich mir das.“

Theo nickte und schwieg. Er ließ ihr Zeit, um das, was sie ihm sagen wollte, in Worte zu fassen. Nur selten tat sich Cornelia mit ihren Äußerungen so schwer, aber dann hatte sie jedes Mal gewichtige Gründe. Plötzlich machte Theo sich Sorgen.

„Es hat nichts mit uns zu tun“, versuchte Cornelia ihren Freund zu beruhigen. Er schwieg beharrlich. „Es ist, nun ja, glaubst du an Geister?“

„Geister?“, fragte er verwundert. „Nein, natürlich nicht, das weißt du doch.“

„Aber du hältst mich für normal?“

Theo blies heftig die Luft aus. So spannend hatte es Cornelia noch nie gemacht. Ihm war bis dahin nicht bekannt, dass seine Freundin an die Existenz von Geistern glaubte, aber wenn sie so fragte, hatte sie zumindest etwas Verstörendes erlebt, dass sie sich nicht vernünftig erklären konnte. Dann konnte er die unerfreuliche Begegnung mit einem schwanzgesteuerten Kerl wohl ausschließen. Damit wäre sie anders umgegangen. Theo legte seinen Arm wieder um Cornelias Schulter und zog sie sanft an sich heran.

„Hör zu, was immer du erlebt hast, ich werde es weder belächeln noch an deiner geistigen Verfassung zweifeln. Mir ist jetzt klar, dass es irgendetwas Erschütterndes war, aber es ist besser, du erzählst es mir, als wenn du es unausgesprochen mit dir herumträgst.“

Während Theo Cornelia zuhörte, verstand er die Befangenheit, mit der sie ihre Erlebnisse gehütet hatte, aber er glaubte ihr. Eine so unwahrscheinliche Geschichte würde sie sich kaum ausgedacht haben. Er konnte ihr aber auch keine überzeugende Erklärung anbieten. Natürlich hatten beide hier und da von geisterhaften, paranormalen, und wie sie sonst noch bezeichnet wurden, Begegnungen oder Erscheinungen gehört und gelesen. Meldungen dieser Art waren schließlich nicht selten. Bisher hatten aber noch niemals Bekannte und Freunde von so etwas erzählt, geschweige denn, sie selbst es erlebt. Und so hatte es für sie auch noch nie einen Grund gegeben, derartige Meldungen ernstzunehmen. Er spürte auch, dass, wenn Cornelia von Geistern sprach, es deshalb geschah, weil sie nicht wusste, wie sie es besser ausdrücken sollte, denn nach allem war zumindest das auf so rätselhafte Weise aufgetauchte Mädchen auf eine ebenso »geisterhafte« Art wieder verschwunden.

Theo hatte seine Freundin bisher nie für übermäßig ängstlich gehalten, aber wenn sie nach ihrer Begegnung mit dem Gedenkstein so überstürzt in den Wald geflohen war, dass sie sich hoffnungslos darin verlaufen hatte, dann musste dort irgendetwas geschehen sein, was Cornelia in Angst und Schrecken versetzt hatte. Und dazu gehörte in ihrem Fall einiges. Im Allgemeinen besaßen derartige Orte, deren Vorhandensein immer wieder behauptet wurde, keine solchen überwältigenden Eigenschaften. Am Ende war er nicht weniger ratlos als seine Freundin, aber es widerstrebte ihm, an eine Begegnung mit Geistern zu glauben, obwohl einige Begleiterscheinungen diesen Verdacht zu stützen schienen. Aber er war auch verblüfft darüber, wie die Geschichte Cornelia mitgenommen hatte. Sie musste wirklich erschüttert sein, sonst hätte sie ihm die Ereignisse auf ihre sonst übliche burschikose Art erzählt. Vielleicht war doch mehr an der Sache dran, als er glaubte. Es dauerte auch eine Weile, bis ihm etwas Gescheites dazu einfiel.

„Vielleicht war die Szene am Gedenkstein noch nicht abgeschlossen und du hättest mehr gesehen, wenn du deine Hand nicht so schnell von dem Stein weggenommen hättest.“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Aber hätte es irgendetwas geändert?“, fragte Cornelia.

„Du hast Recht, wohl kaum.“

„Außerdem war es sehr unangenehm, den Stein zu berühren.“

„Ja.“

Für eine Weile saßen die beiden schweigend nebeneinander. Dann räusperte sich Theo.

„Wir können zwei Dinge tun“, meinte er zögernd. Cornelia blickte ihn gespannt an. „Entweder, wir ignorieren die ganze Angelegenheit. Vielleicht wiederholt sich nichts Derartiges. Ich will dir ja keine Angst machen, aber nach zwei Ereignissen dieser Art könnten auch noch weitere eintreten.“

„Diese Aussicht macht mir aber Angst“, sagte Cornelia.

„Das kann ich verstehen, und wenn ich vermute, dass es nicht hier sein wird, muss ich zugeben, dass ich für diese Annahme keinen plausiblen Grund habe.“

„Wie tröstlich.“

„Ich weiß. Deshalb schlage ich vor, vorläufig nicht mehr nach Weidlingen zu fahren.“

„In der Hoffnung, dass sich in dieser Hinsicht nichts wiederholt, solange wir von dort fernbleiben.“

„Vielleicht eine vage, vielleicht aber auch eine berechtigte Hoffnung. Ich kann es dir beim besten Willen nicht sagen.“

Cornelia nickte.

„Und die zweite Möglichkeit.“

„Die allerdings könnte mit gewissen Unwägbarkeiten behaftet sein. Wir gehen der Sache nach und versuchen herauszufinden, ob es nicht doch eine weniger fantastische Erklärung für das alles gibt. Und dieses Mal bin ich in deiner Nähe.“

„Glaubst du wirklich, du kannst mich vor Geistern beschützen?“, fragte Cornelia zweifelnd.

Theos Gesicht nahm einen unsicheren Ausdruck an, dann schüttelte er den Kopf.

„Keine Ahnung. Aber vielleicht sind es gar keine Geister, und ich brauche dich nicht vor etwas zu beschützen, das es überhaupt nicht gibt. Vielleicht beruhigt dich einfach mein Gegenwart.“

„Du wirst kaum immer in meiner Nähe sein können“, meinte Cornelia.

„In Weidlingen schon. Es ist ja auch nur für so lange, bis wir Klarheit haben, um was es sich bei diesen Phänomenen handelt. Aber ich fürchte, wir werden auf uns allein gestellt sein. Ich wüsste niemanden, von dem wir Hilfe erwarten könnten.“

„Wir würden uns in ein ziemlich ungewisses Abenteuer stürzen, falls es das ist, was es zu sein scheint, oder?“

„Vorausgesetzt, die Ereignisse setzen sich fort. Ja, da hast du Recht.“

Cornelia war ein durchaus neugieriger Mensch, aber in diesem Fall hielt sich ihre Neugier aus guten Gründen in Grenzen. Deshalb behagte ihr Theos zweiter Vorschlag nicht sehr. Allerdings war der erste Vorschlag noch weniger befriedigend, denn er beruhte auf der Annahme, dass die Erscheinungen auf Weidlingen beschränkt blieben, oder noch besser, nur vorübergehend waren und nicht wieder auftraten. Es war nur eine unbestimmte Ahnung Cornelias, die sie die Wahrscheinlichkeit für die Einmaligkeit der Phänomene als äußerst gering einschätzen ließ.

Theo wartete ab, wie sich seine Freundin entscheiden würde, aber sie war nicht damit einverstanden, dass es am Ende von ihr abhing, was sie tun wollten.

„Also gut“, meinte Theo. „Es gibt eigentlich keinen Grund, hier und heute eine Entscheidung zu treffen. Lass uns einfach abwarten. Vielleicht erledigt sich ja alles von allein und es bleibt eine bemerkenswerte Anekdote eines deiner Besuche in unserem Wochenendhaus. Und am Ende werden wir feststellen, dass es tatsächlich keine Geister gibt. Was meinst du?“

Theo gab sich sehr zuversichtlich, dass sich seine Zweifel bestätigen würden. Cornelia dagegen war sich nicht so sicher, ob ihr Problem wirklich auf diese Weise gelöst werden konnte, aber etwas Besseres fiel ihr auch nicht ein.

Theo war weit davon entfernt, an die Existenz von Geistern zu glauben, und sie als Urheber für Cornelias merkwürdige Erlebnisse in Erwägung zu ziehen. Ihre Verwirrung war zwar unübersehbar, aber auf der Suche nach einer überzeugenden Erklärung fiel ihm nichts anderes ein, als dass es sich wohl doch eher um eine »seelische Unausgeglichenheit« seiner Freundin handelte. Aber weder diese Vermutung noch die der Möglichkeit einer unerwarteten Folge einer von Cornelia verheimlichten Schwangerschaft, für deren Annahme er aus diesem Grund auch keine Beweise hatte, wagte er ihr vorzuschlagen. Er hätte zugeben müssen, weder von der einen noch von der anderen Sache etwas zu verstehen. Ihm war auch nicht bekannt, ob Schwangerschaften Wahnvorstellungen auslösen konnten.

Das Geheimnis des Gedenksteins

Подняться наверх