Читать книгу Das Geheimnis des Gedenksteins - Hans Nordländer - Страница 6

4. Rätselhafte Begegnungen

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In der folgenden Nacht geschah nichts, was die seelische Verfassung Cornelias einmal mehr ins Ungleichgewicht zu bringen drohte, obwohl sie, wie zu erwarten war, nicht sehr gut schlief und immer wieder aufwachte, um sich beunruhigt im Zimmer umzusehen. Theo dagegen hatte sich durch ihre Geschichte anscheinend nicht beeindrucken lassen, denn wann immer Cornelia aufwachte, hörte sie seine ruhigen Atemgeräusche. Er fühlte sich daher am kommenden Morgen auch merklich ausgeruhter als sie.

Theo konnte es sich erlauben, später am Vormittag in der Redaktion des Hannoverschen Stadtkuriers aufzutauchen, weil er das ganze Wochenende für die Zeitung unterwegs gewesen war. Cornelia dagegen, die ausschließlich in den Räumen der Zeitung arbeitete, musste wie üblich um sieben Uhr morgens in ihrem Büro sein.

An diesem Morgen fiel es ihr aus den erwähnten Gründen sichtlich schwerer als sonst, so früh aufzustehen, (wenn es jemand hätte sehen können). Sie konnte sich zwar nicht daran erinnern, von ihren Erlebnissen in Weidlingen geträumt zu haben, damit hätte sie sogar gerechnet, aber sie war zwischen den Schlafphasen immer wieder aufgewacht mit der Befürchtung, wieder das kleine Mädchen in ihrem Schlafzimmer zu entdecken. Falls sie tatsächlich dort war, hatte Cornelia es nicht bemerkt. Und auch der Schatten schien nicht wieder aufgetaucht zu sein. Davor hatte sie sich noch mehr gefürchtet. Sie war sicher, sie hätte es bemerkt, wenn er da gewesen wäre. Daran dachte sie, während sie noch für eine Weile im Bett liegen blieb, um die Reste ihres Schlafes abzuschütteln, nachdem ihr Wecker geläutet hatte. Vielleicht, überlegte sie, hatte Theo ja tatsächlich Recht mit seiner Behauptung, sie würde in Hannover von derartigen Heimsuchungen verschont bleiben.

Ein wenig mühsam quälte sich Cornelia aus dem Bett. Ihr Muskelkater war immer noch spürbar, auch wenn er schon schwächer geworden war. Theo hatte sich von ihrem Wecker nicht stören lassen. Wahrscheinlich würde er ihre Abwesenheit erst bemerken, wenn sie sich bereits auf dem Weg zur Arbeit befand. Leise zog sie sich an, schaltete das Licht wieder aus und verließ das Schlafzimmer. Nach einem längeren Aufenthalt im Bad und einem vergleichsweise kurzen Frühstück ging Cornelia aus dem Haus.

Dieser Montagmorgen begann nach dem sommerlichen Wochenende enttäuschend unfreundlich. Über Nacht waren Wolken aufgezogen, und ein kühler Wind trieb einen leichten Sprühregen vor sich her.

Cornelia und Theo hatten für ihre Autos keine Unterstellmöglichkeit auf dem Grundstück ihrer Mietwohnung, und da am Wochenende die Parkplätze in ihrer Straße oft belegt waren, hatte Cornelia ihren Wagen in einer kleinen Nebenstraße abstellen müssen. Etwas missmutig machte sie sich auf den Weg. Als sie ihren Wagen fast erreicht hatte, kam ihr ein Mann entgegen. Das war eigentlich nicht sonderlich bemerkenswert, aber Cornelia fiel auf, dass er eine eigenwillig antiquierte und abgetragene Kleidung trug. Unwillkürlich blieb sie stehen. Auf merkwürdige Art passte er nicht in diese Umgebung. Obdachlose hatte sie schon viele gesehen, aber obwohl dieser Mann einen beklagenswert armseligen und heruntergekommenen Eindruck machte, vermittelte er doch nicht das Bild eines dieser bedauernswerten Zeitgenossen. Und in seiner einprägsamen Einzigartigkeit, (zu diesem Zeitpunkt ahnte Cornelia noch nicht einmal, wie einzigartig dieser Mann in Wirklichkeit war), fesselte er ihren Blick, obwohl ihr die Unhöflichkeit, ihn so auffällig anzustarren, durchaus bewusst war.

Neben einem breitkrempigen, unübersehbar abgetragenen Filzhut, der einen Schatten auf sein Gesicht warf, trug er eine weite, graue und unförmige Hose; unter seiner verfilzten, grünen Wolljacke eine schwarze Stoffweste und an den Füßen bemerkenswert schäbige, braune Lederstiefel, denen die Zeit deutlich zugesetzt hatte. Von dem einen Stiefel hatte sich die Sohle bereits gelöst und ein erkennbarer Spalt klaffte zwischen der Vorderkappe und der Laufsohle. Das rote Tuch, das er verwegen um seinen Hals gewickelt hatte, stach fast wie ein Fremdkörper unter all den anderen Kleidungsstücken hervor.

Der Mann war etwas kleiner als Cornelia, aber von erkennbar kräftiger Gestalt und humpelte leicht. Unter der breiten Krempe seines Hutes konnte sie nur wenig von seinem Gesicht erkennen und von dem wenigen war das meiste hinter einem mächtigen Vollbart verborgen. Es war ihr unmöglich, sein Alter zu schätzen.

Sie machte einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu machen. Der Mann schien Cornelia kaum zu bemerken und sah sie nur kurz an, wenn sie die unauffällige Bewegung seines Gesichtes in ihre Richtung richtig deutete. Dann wandte er seinen Blick wieder auf den Gehweg. Damit hätte ihre für Cornelia denkwürdige Begegnung ein unspektakuläres Ende nehmen können, aber als er auf ihrer Höhe ankam, durchfuhr Cornelia überraschend ein kalter Schauer. Sie erstarrte in ihrer Bewegung, während der Mann ungerührt an ihr vorbeiging. Gleich danach war das Gefühl, in einen eiskalten Luftstrom geraten zu sein, wieder verschwunden. Verwirrt drehte sie sich nach ihm um. Langsam humpelte er den Fußweg entlang. Kurz vor der Kreuzung zur breiteren Querstraße geschah etwas, das Cornelia noch mehr verwirrte.

Beinahe schwungvoll und ungleich munterer als Cornelia um diese Tageszeit, bog ein Paar mittleren Alters, offensichtlich in ein angeregtes Gespräch vertieft, in den Gehweg der kleinen Nebenstraße. Nichts deutete darauf hin, dass der Fremde ihnen aus dem Weg gehen wollte oder die beiden ihm Platz zu machen bereit waren. Nur wenige Schritte, bevor sie aufeinanderprallten, geschah etwas Merkwürdiges. Das Paar machte doch endlich einen Schritt auseinander, um den Mann zwischen sich hindurchzulassen, würdigten ihn aber keines Blickes und ihren Gesichtern, mehr zueinander gewandt als nach vorne, war anzusehen, dass sie den Mann nicht einmal wahrnahmen. Das war umso merkwürdiger, weil seine Erscheinung durchaus eines auffälligen Blickes wert war.

Und dann kam es zu der gleichen Reaktion der beiden wie kurz zuvor bei Cornelia. Als sich der Fremde genau zwischen ihnen befand, durchlief die beiden erkennbar ein plötzliches Frösteln. Sie verstummten in ihrem Gespräch, sahen sich ratlos an und schlossen unwillkürlich ihre Jacken fester. Keiner der beiden warf auch nur den Bruchteil einer Sekunde einen Blick auf den Mann zwischen ihnen. Erst jetzt schienen sie sich zu wundern, dass sie einen Schritt auseinandergegangen waren. Sie hielten für einen Augenblick an und blickten sich um, dann schüttelte der Partner der Frau verblüfft den Kopf. Schweigend setzten sie ihren Weg fort und kamen auf Cornelia zu. Die beiden grüßten und wollten schon weitergehen, als sie Cornelia ansprach.

„Ein seltsamer Mann, oder?“, sagte sie und zeigte in seine Richtung. „Ich habe mich auch über ihn gewundert. Ich finde, er war so – komisch.“

Die beiden drehten sich zur Kreuzung um.

„Verzeihung“, bat der Mann. „Von wem reden Sie?“

„Na, von dem, der gerade zwischen ihnen hindurch -.“

Cornelia unterbrach sich. Es war offensichtlich, dass sie niemanden gesehen hatten.

„Ach nichts“, erklärte sie verlegen. Mehr fiel ihr auch nicht ein.

Sie war froh, dass die beiden anscheinend in Eile waren und keine Fragen stellten. Was hätte sie unter diesen Umständen erwidern sollen? Es war eine groteske Situation. Ein wenig mitleidig lächelnd gingen die beiden weiter.

Das gibt es doch gar nicht, dachte Cornelia. Der Fremde war schon um die Ecke, als sie hinter ihm herlief. Er konnte noch nicht weit sein. Sie hatte zwar keine rechte Vorstellung, was sie vorhatte, hoffte aber, ihn noch einzuholen. Und dann die Überraschung: Der Mann war weg. So weit sie in alle Richtungen blicken konnte, war nichts mehr von ihm zu sehen. Er war spurlos verschwunden.

„Mist!“, sagte Cornelia leise. „Ich war zu langsam.“

Nachdenklich und noch verwirrter als zuvor fuhr sie zur Arbeit. Zumindest für sie war die Begegnung mit diesem Fremden fast schon unheimlich.

Erst später fiel ihr auf, dass er weder einen unangenehmen, wie es eigentlich bei seiner Erscheinung zu erwarten gewesen wäre, und so nahe, wie sie sich gekommen waren, noch überhaupt einen Geruch verströmt hatte. Dass sie seine Schritte nicht gehört hatte, konnte sie sich ja noch mit weichen Stiefelsohlen erklären, aber er hätte zumindest spürbare Ausdünstungen von sich geben müssen.

Durch diese Verzögerung und einen kurzen Verkehrsstau an einer Kreuzung wäre Cornelia beinahe zu spät beim Hannoverschen Stadtkurier angekommen. Eine Minute vor ihrem Dienstbeginn erreichte sie im Laufschritt ihr Büro.

„Na, wieder einmal so ein verflixter Montagmorgen, was?“, empfing ihre Kollegin Silke sie feixend.

„Wie?“, fragte Cornelia sie geistesabwesend.

„Ich sagte -,“ wollte Silke wiederholen, aber Cornelia kam ihr zuvor.

„Ach so, ja. Ja, wirklich verflixt“, meinte Cornelia etwas zusammenhangslos und ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen, ohne ihre Jacke an den Haken gehängt zu haben. Nachdenklich blickte sie durch das Fenster in den grauen Himmel. „Und ein verflixtes Wochenende“, murmelte sie.

Silke betrachtete ihre Kollegin neugierig.

„Conny, stimmt etwas nicht? Hast du Ärger?“

„Hm, was? Ärger?“, sie schüttelte den Kopf. „Nein, Ärger nicht. Ist schon Kaffee fertig?“

Silke zeigte auf die Kanne auf einem kleinen Beistelltisch an der Wand neben der Eingangstür.

„Ganz frisch. Aber sei vorsichtig, Dirk hat ihn heute gekocht.“

„Dirk? Wie kommt das? Hat er ein schlechtes Gewissen?“

„Ich glaube eher, er wollte nicht darauf warten, bis sich ein anderer bequemt, ihn aufzusetzen. Immerhin hat er für uns mitgekocht.“

In der Redaktion des Hannoverschen Stadtkuriers gab es keine ausgeprägten Hierarchien, welche Aufgaben unbedingt von wem zu erledigen waren, zumindest, solange es um keine wichtigen Geschäftsangelegenheiten ging. Da kochte auch schon einmal der Chef, Dirk Tschaß, selbst den Kaffee für seine Mitarbeiter, so wie an diesem Morgen geschehen. Aber wenn Dirks Name im Zusammenhang mit Kaffeekochen fiel, war das stets eine Garantie für einen fast ungenießbar starken Kaffee, wenn man ihn nicht mit viel Milch oder heißem Wasser verdünnte. An diesem Morgen trank Cornelia ihn unverdünnt, was Silke noch stutziger machte. Aber so sehr sie sich auch bemühte, etwas über die Ursache für Cornelias merkwürdiges Verhalten herauszufinden, es gelang ihr nicht.

Im Laufe des Vormittags tauchte auch Theo auf. Er hatte ein eigenes Büro, kam aber zuerst zu den beiden Damen herein, gab Cornelia einen flüchtigen Kuss und entschuldigte sich, dass er nicht mit ihr aufgestanden war. Dann eilte er auch schon weiter, um mit Dirk den Artikel über den Kampf der Taubenzüchter gegen Windmühlen zu besprechen. Diese eher spöttisch gemeinte Umschreibung der Veranstaltung, die Theo im entfernten Ostfriesland besucht hatte, wurde dann aber tatsächlich zu der Schlagzeile seines Berichtes.

Cornelia lächelte nur tiefgründig, als Theos Rücken durch die Tür verschwand. Sie hatte eben zum wiederholten Mal ein Ritual von ihm erlebt. Cornelia glaubte Theo zwar, dass er ein angedeutet schlechtes Gewissen hatte, wenn sie früh raus musste und er weiterschlafen konnte. Dieses schlechte Gewissen regte sich aber natürlich erst, wenn er selbst aufwachte, und nicht schon am Abend davor, wenn er wusste, dass Cornelia früher aufstehen musste als er. Außerdem wäre es in jedem Fall zu schwach ausgeprägt gewesen, als dass er tatsächlich mit ihr aufstand. Aber damit hatte sich Cornelia inzwischen abgefunden und machte es im umgekehrten Fall genauso. Das hatte er davon.

„Ah, das lange Elend!“, hörte Theo die Stimme von Carlo, einem weiteren Journalisten, aus dem Nachbarbüro, während er durch den Flur ging, auf seinem Weg ins Allerheiligste der Redaktion, den Räumen des Chefs. Die Bemerkung war natürlich ein ironischer Hinweis auf seinen Nachnamen und nicht auf die Wirkung seiner Anwesenheit in der Zeitung. Das Attribut war nicht ernst gemeint. In Wirklichkeit war Carlo Wichmann einen halben Kopf größer und deutlich schmächtiger als Theo. Aber in der Redaktion ging es manchmal sehr übermütig zu.

„Später Carlo. Hab´ jetzt keine Zeit.“

Theo und Cornelia sahen sich im Laufe des Tages noch einige Male, aber sie erzählte ihm nichts von ihrer denkwürdigen Begegnung am Morgen. Sie wollte es ihm zwar sagen, aber erst, wenn sie Feierabend hatten und wieder zu Hause waren. Es war nichts für die Ohren der Kollegen, die allzu leicht ihre eigenen, falschen Schlüsse ziehen würden. Zu diesem Zeitpunkt brachte Cornelia ihre Begegnung auch noch nicht mit den Ereignissen in Weidlingen in Verbindung. Immerhin war sie aber bereit, sie in die Serie der merkwürdigen Begebenheiten einzureihen, die ihr in letzter Zeit zuteil geworden waren. Auch wenn sie sich nichts mehr anmerken ließ, beschäftigte sie das alles doch ständig, und sie ertappte sich einige Male, wie sie gedankenverloren aus dem Fenster blickte, ohne draußen etwas wahrzunehmen. Auch Silke fiel die gelegentliche geistige Abwesenheit ihrer Kollegin auf, vermied aber jeden Kommentar, den Cornelia falsch verstehen konnte, und fragte auch sonst nicht nach ihrem Befinden. Cornelia konnte gelegentlich ziemlich launenhaft reagieren. Es war unübersehbar, dass sie irgendetwas beschäftigte, aber Silke hatte beschlossen, darauf zu warten, dass Cornelia von sich aus damit anfing. Bis zum Feierabend wartete sie jedoch vergebens, obwohl sie vor Neugier fast platzte.

„Trug er eine Axt bei sich?“, fragte Theo.

„Eine Axt? Warum gerade eine Axt?“, wunderte sich Cornelia.

„Weil so, wie du ihn mir beschrieben hast, ein Holzfäller aussehen könnte.“

„Mitten in Hannover und ohne Kettensäge“, erwiderte Cornelia trocken. „Ganz sicher.“

„Ich meine ja nur. Aber die Beschreibung passt eher auf einen Holzfäller aus vergangenen Zeiten.“

Das war eine Ansicht, die Cornelia nicht unbedingt teilte, und sie wusste auch nicht, wie Theo darauf kam.

„Ja, der Gedanke ist mir natürlich sofort gekommen“, meinte sie spitz. „Der einzige Holzfäller, den ich kenne, ohne ihn allerdings jemals gesehen zu haben, und auf den die Beschreibung vielleicht passen würde, wurde dummerweise im achtzehnten Jahrhundert erschlagen, und an ihn erinnert nur noch ein gewisser Gedenkstein. Er wird es also kaum gewesen sein.“

„Spotte nicht“, meinte Theo mit mildem Tadel. „Woher soll ich das wissen?“

Cornelia blickte Theo kurz verwirrt an und fragte sich, wie er das jetzt gemeint hatte. Aber dann lachten beide.

Der Gedanke, dass sie sich vielleicht irrten, kam ihnen gar nicht erst, denn er wäre zu ungeheuerlich gewesen, als dass sie ihn hätten akzeptieren können.

Schon beim Abendessen hatte es Cornelia nicht mehr ausgehalten und ihrem Freund von ihrem Erlebnis am Morgen dieses Tages erzählt. Für ihn war es eine ganz gewöhnliche Begegnung mit einem Stadtstreicher, die Cornelia vielleicht nur falsch eingeschätzt hatte. Der Mann und die Frau, die behauptet hatten, ihn nicht gesehen zu haben, waren entweder ziemlich blind gewesen, oder so in ihr Gespräch vertieft, dass der Stadtstreicher ihnen tatsächlich nicht aufgefallen war. So etwas war Theo auch schon passiert. Außerdem war es ein kühler, feuchter Morgen gewesen, da konnte man schon einmal einen Schauer in einem kühlen Windstoß empfinden. Der Körpergeruch? Na ja, dann war seine Körperpflege eben gründlicher, als seine Erscheinung vermuten ließ. Und schließlich hatte seine Freundin wohl doch zu viel Zeit vertrödelt, um ihn noch einzuholen.

„Eigentlich“, meinte Theo, „war es eine ganz normale Begegnung, finde ich.“

Cornelia widersprach nicht so energisch, wie er erwartet hatte. Vielleicht hatte Theo ja Recht, obwohl er nicht wissen konnte, wie sie in jenem Moment empfand. Aber sie konnte nach seinen Erklärungsversuchen tatsächlich nur noch die seltsame Kleidung des Mannes als Grund für ihre Behauptung anführen, dass die Begegnung mit ihm so seltsam war. Und selbst die war vielleicht nur eine Marotte dieses Mannes.

Cornelia seufzte.

„Ja, vielleicht messe ich der Angelegenheit tatsächlich zu viel Bedeutung bei“, meinte sie.

„Das ist in deiner derzeitigen Situation ganz normal“, sagte Theo verständnisvoll. „Aber du wirst sehen, in ein paar Tagen ist wieder alles in Ordnung.“

„Meinst du? Na ja, kann schon sein.“

Theos Worte sollten zwar verständnisvoll klingen, aber ein, vielleicht ungewollter, mitleidig-spöttischer Unterton war nicht zu überhören. Und der hätte bei Cornelia gewiss zu einer trotzigen Reaktion geführt, wenn sie nicht zu nachdenklich gewesen wäre, um ihn zu bemerken.

Als einige Zeit später das Licht in der Wohnung von Theo und Cornelia ausging, stand unten auf der Straße im Schatten eines Baumes die Gestalt eines Mannes mit einem auffallend breitkrempigen Hut und starrte für einige Zeit hinauf zu ihren Fenstern. Das Licht der Straßenlaterne ließ kaum seine ärmliche Bekleidung erkennen. Dann drehte er sich um und verschwand humpelnd in der Dunkelheit. Niemand, der in diesem Augenblick auf dem Gehweg entlanggekommen wäre, hätte den Fußgänger sehen können.

Mitten in der Nacht rüttelte etwas an Theos Schulter. Nur widerwillig wachte er auf und knurrte unverständlich.

„Pst, leise!“, hörte er das beschwörende Flüstern von Cornelia.

„Was ist denn los?“

„Sie ist wieder da. Da, neben dem Fenster.“

Theo drehte sich auf den Rücken und richtete sich auf.

„Wer ist da?“

„Na das Mädchen in dem weißen Kleid. Und es schaut uns an.“

Erst jetzt bemerkte er die Furcht in der Stimme Cornelias. Theo starrte in die Dunkelheit und versuchte etwas zu erkennen. Nur schwach schien das Licht der nächsten Straßenlaterne durch die zugezogenen Gardinen. Es musste tiefe Nacht sein, denn auf der Straße herrschte absolute Stille. Er konnte in ihrem Zimmer niemanden entdecken.

„Was macht sie?“, fragte er leise.

„Nichts. Sie steht nur da und guckt.“

Theo wollte Cornelia schon dazu auffordern, dem Mädchen zu sagen, dass es sie schlafen lassen sollte, und sich wieder umdrehen, als ihm an eben jener Stelle ein ungewöhnlicher, heller Schleier auffiel, der sich leicht bewegte und hin- und herwaberte. Jetzt lief ihm ein Schauer über den Rücken. Cornelia spürte, wie er sich spannte.

„Siehst du sie jetzt?“, fragte sie.

„Ich sehe nur einen Schleier oder einen Nebel, der sich schwach bewegt. Was zum Henker ist das?“

Cornelia gab keine Antwort. Stattdessen starrte sie reglos auf die Stelle. Was Theo nicht sehen konnte, weil sich der Nebel für ihn nicht veränderte, war die Tatsache, dass die Erscheinung, die vorher nur undeutlich von Cornelia beobachtet werden konnte, plötzlich klar und in Einzelheiten erkennbar wurde, obwohl sie nicht von der Stelle wich. Die Gestalt des Mädchens zeigte sich genauso, wie sie Cornelia in ihrem Blockhaus erschienen war. Doch jetzt stand das Mädchen einige Schritte entfernter.

Es schien jedoch nicht so verängstigt zu sein wie in Weidlingen, und es weinte offensichtlich nicht. Aber in seinem Gesicht zeichnete sich unverkennbar ein tiefer Kummer ab. Wie beim ersten Mal begann sich der Mund zu bewegen, und Cornelia zweifelte nicht daran, dass das Mädchen ihr auch jetzt etwas sagen wollte. Doch wieder hörte sie keine Stimme. In dem Maße, wie das Kind anscheinend begriff, dass es nicht verstanden wurde, verstärkte sich die Verzweiflung in seinem Gesicht.

In Cornelia regte sich plötzlich Mitleid, und zur Verwunderung Theos setzte sie sich senkrecht auf und streckte dem Mädchen ihre Hände entgegen.

„Sprich lauter“, forderte sie das Kind mit erstaunlich fester Stimme auf. „Ich verstehe dich nicht. Wie kann ich dir helfen? Wie heißt du?“

Das Gesicht des Mädchens schien sich etwas aufzuhellen. Sie sagte noch ein paar Worte und zeigte in eine bestimmte Richtung. Aber sie blieb nach wie vor unhörbar.

Plötzlich drehte sie ihren Kopf wieder schreckhaft in die eine und die andere Richtung, und ihr Gesicht bekam einen angstvollen Ausdruck. Cornelia wusste, was kommen würde. Sie sank wieder unter ihre Decke und zog sie sich bis zum Kinn. Gleich musste das Mädchen auf der Stelle verschwinden und der furchtbare dunkle Schatten wie ein reißender Wolf auftauchen. In ihrer eigenen Furcht war Cornelia nicht einmal in der Lage, Theo vor dem Erwarteten zu warnen.

Doch es kam anders. Plötzlich bewegte sich zwar ein Schatten in der Finsternis des Zimmers, aber es war kein Wolf, und das Mädchen verblasste auch nicht. Es war der Schatten eines Menschen, so viel konnte Cornelia erkennen. Und er musste die ganze Zeit unsichtbar neben ihrem Kleiderschrank gestanden haben, während sie vollkommen von der Anwesenheit des Mädchens eingenommen war.

Der Mann war nicht sehr groß – und er humpelte leicht. Als er auf das Mädchen zuging, erkannte sie vor dem schwach beleuchteten Fenster den Umriss eines beachtlichen Hutes. Kein Zweifel, das musste der Stadtstreicher vom letzten Morgen sein. Aber, verdammt, wie kam er in ihre Wohnung? Und was wollte er mit dem Mädchen?

Cornelia wollte ihm zurufen, dass er das Kind in Frieden lassen sollte, aber in diesem Augenblick richtete er sein in der Dunkelheit konturloses Gesicht in ihre Richtung und sie schwieg.

Es war jedoch kein unsichtbarer und doch furchterregender Blick, der Cornelia traf, sondern ein unsichtbarer und besänftigender, als wollte der Mann ihr wortlos mitteilen, dass er dem Kind nichts zuleide tun würde. Hoffentlich war es tatsächlich so und keine Einbildung.

Der Mann ging auf das Kind zu und streckte einen Arm nach ihm aus. Das Mädchen legte seine Hand bereitwillig in seine. Und dann verblassten beide und verschwanden aus dem Zimmer.

Cornelia blieb noch eine Weile reglos und stumm liegen. Plötzlich fürchtete sie, dass der dunkle Schatten doch noch auftauchte, aber je länger sie wartete, ohne dass etwas geschah, desto sicherer wurde sie, dass er dieses Mal wegbleiben würde. Theo neben ihr schwieg ebenfalls, aber sein gepresster Atem verriet ihr, dass er nicht schlief. Dann schaltete sie entschlossen das Licht ein. Ihr Schlafzimmer sah so aus wie immer. Sie und Theo waren wieder allein. Jetzt sah sie, dass er eine ungesund fahle Gesichtsfarbe hatte.

„Ich muss erst einmal eine rauchen“, stellte sie fest, warf ihre Decke zur Seite, stand auf, streifte ihren Bademantel über und ging in die Küche.

„Was hast du gesehen?“, fragte sie Theo, nachdem sie ein Glas Wasser getrunken hatte. Und gesehen musste er etwas haben, vielleicht sogar gespürt, sonst hätte er nicht so sichtbar fassungslos reagiert. Er rauchte zwar nicht, machte sich aber eine Flasche Bier auf. Es war Viertel nach zwei, und beide waren sie jetzt hellwach.

„Von dem Kind nur einen konturlosen Nebel, wenn es das Kind war und der Nebel tatsächlich vorhanden und meine Augen mich nicht getrogen haben“, erwiderte er in einer Weise, die seine Aufgewühltheit verriet.

„Es war da. Ich habe es so klar und deutlich gesehen wie an einem hellen Tag.“

„Ja, mag sein. Und dann kam dieser andere Nebel, finsterer, dichter, so kam er mir vor. Er berührte den hellen, kleineren Nebel und beide lösten sich auf.“

„Mehr hast du nicht gesehen?“, fragte Cornelia enttäuscht.

Theo schüttelte den Kopf.

„Nein, aber ich weiß, dass etwas da war, etwas, das mir eisige Schauer über den Rücken getrieben hat. Etwas Unnatürliches, das Angst macht.“

Er nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Cornelia blickte ihrem Freund ins Gesicht. So mitgenommen hatte sie ihn noch nicht einmal erlebt, als er sein letztes Auto zu einem Totalschaden zusammengefahren hatte, ihm glücklicherweise aber kaum etwas passiert war. Es war offensichtlich, dass ihm die Erscheinungen in ihrem Schlafzimmer mehr zu schaffen machten als Cornelia. Sie stellte fest, dass ihr diese Begegnung mit dem Mädchen und die unerwartete Gegenwart des Stadtstreichers weniger Angst gemacht hatte, als es in Weidlingen der Fall gewesen war, als ihr nur das Mädchen gegenüberstand. Vielleicht, überlegte sie, lag das auch an der Abwesenheit des Schattens.

Dieses Mal war es anders gewesen als in ihrem Blockhaus. Da hatte sie nur Angst gehabt. Jetzt hatte sie zwischen Angstattacken und einer seltsamen Zuneigung zu dem Mädchen geschwankt. Mit der Anwesenheit des Mannes konnte sie nichts anfangen, aber offenbar kannte er das Mädchen, und es schien ihm zu vertrauen. Eine spürbare Bedrohung war jedenfalls nicht von ihm ausgegangen. Er schien ihr, Cornelia, sogar etwas Beruhigendes mitteilen zu wollen.

Cornelia schilderte Theo den Hergang so detailliert, wie es ihre Erinnerung zuließ, und er war erstaunt zu hören, dass zwischen dem Stadtstreicher – oder war es doch ein Holzfäller? – und dem Kind irgendein Zusammenhang bestand. Es gab jedoch keinerlei Hinweise darauf, warum ausgerechnet Cornelia von den beiden offensichtlich mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolgt wurde. Vielleicht steckten diese Hinweise aber in den stummen Worten des Mädchens. Keiner von beiden glaubte, dass es grundlos versuchte, mit Cornelia in Verbindung zu treten.

Theo war anfangs ziemlich skeptisch gegenüber Cornelias Schilderungen gewesen. Dabei zweifelte er gar nicht daran, dass sie etwas Ungewöhnliches erlebt hatte. So, wie sie sich verhalten hatte, waren ihr gewiss ein paar nicht alltägliche Erscheinungen begegnet. Aber er war sich nicht sicher, ob ihren Erlebnissen tatsächlich eine Struktur zugrunde lag und es nicht unscharfe traumartige Erfahrungen waren. Solche waren selbst ihm schon begegnet, und er wusste es auch von einigen wenigen Freunden. Doch jetzt, und obwohl er keine klaren Bilder von dem Geschehenen hatte, war er schon geneigter zu glauben, dass irgendein tieferer Sinn hinter all diesen Erscheinungen steckte. Und der Schlüssel zu der Lösung dieses Phänomens war das Mädchen. Wenn es ihnen gelingen würde, es zu finden, dann würden sie auch die Antworten auf ihre Fragen bekommen. Sie mussten es nur irgendwie finden. Theo fragte sich, wie sie und der alte Mann ihren für seine Augen im Sinne des Wortes nebulösen Auftritt hinbekommen hatten, und später, wie die beiden überhaupt in ihre Wohnung gelangt waren, denn es gab keine Anzeichen für einen Einbruch.

Von einigen dieser Überlegungen sagte Theo Cornelia vorläufig nichts. Er wusste, wie sie die ganze Angelegenheit beschäftigte, und wollte sie nicht noch mehr beunruhigen. Wahrscheinlich würden die Ereignisse dieser Nacht nicht die Letzten dieser Art sein, aber das nächste Mal war er vorbereitet. Er hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, aber irgendwie würde er versuchen, hinter das Geheimnis des Mädchens zu kommen. Er wollte sie geradewegs zur Rede stellen. Dass er es niemals fertigbringen würde, ihrem Geheimnis mit dieser Herangehensweise auf die Spur zu kommen, würde daran liegen, dass er die waren Umstände ihrer nächtlichen Besuche noch gar nicht begriffen hatte.

Theo ahnte nicht, dass Cornelia schon weiter war als er. Im Hinblick auf seinen zunächst ziemlich aufgewühlten Zustand wollte sie mit ihm in dieser Nacht aber nicht mehr darüber reden. Und draußen begann es, bereits hell zu werden.

Cornelia war zu dem gleichen Schluss gekommen wie Theo, dass nämlich des Rätsels Lösung in dem Mädchen mit dem weißen Kleid lag. Allerdings schätzte sie die Lage richtiger ein als er, weil sie im Gegensatz zu ihrer anfänglichen Überzeugung daran zu glauben begann, wenn auch noch mit gewissem Widerwillen, dass sie es mit einer übersinnlichen Erscheinung zu tun hatten, bei der das Mädchen, der alte Mann und dieser furchtbare Schatten in irgendeiner Verbindung zueinander standen. Aber sie kannte Theos Vorbehalte gegenüber derartigen Vermutungen, weshalb sie es unterließ, ihn mit ihren Schlussfolgerungen zu behelligen.

Und so hatte jeder von ihnen bestimmte Vorstellungen, wie es mit ihrem Fall weitergehen würde, und zu einem Fall schien es sich tatsächlich zu entwickeln, aber keiner wusste, was der andere genau dachte, weil es nicht an der Zeit schien, es dem anderen mitzuteilen. Es würde jedoch nicht mehr lange dauern, bis Theo ein paar unhaltbare Überzeugungen über den Haufen werfen musste.

Sie gingen wieder ins Bett und hofften, für kurze Zeit noch einmal die Augen zumachen zu können. Es würde aber in jedem Fall zu kurz sein.

Als dann der Wecker klingelte, fühlte sich Cornelia noch geräderter als tags zuvor, und Theo wusste jetzt auch, wie sie sich fühlte. Ihm ging es nicht besser. Für beide war es eine gewisse Quälerei durch den Tag. Immerhin gelang es ihnen aber, vor den anderen ihren etwas angeschlagenen Zustand zu verbergen, was auch gut war, denn Missverständnisse wären unvermeidbar gewesen.

Zwei Tage blieben sie unbehelligt. In dieser Zeit erholten sie sich körperlich aber nicht von der wenig erholsamen Nacht vom Montag auf den Dienstag, wenn es auch eine kurze Phase der Ablenkung war, denn sie hatten soviel um die Ohren, dass die Erinnerungen an die unheimlichen Geschehnisse ein wenig in den Hintergrund traten. Trotz ihrer Müdigkeit versäumten sie nicht, am Dienstagabend ihr wöchentliches Tanztraining zu absolvieren. Theo und Cornelia waren leidenschaftliche Anhänger lateinamerikanischer Tänze, und beide hatten schon mit achtbarem Erfolg an überregionalen Wettbewerben teilgenommen. Mehrere Urkunden und Pokale zierten die Wände ihrer Wohnung. Der Schwung der Bewegung und die eingängigen Rhythmen ließen sie für einige Zeit ihren Alltag und auch alles, was für gewöhnlich nicht dazugehörte, vergessen. Die Gegenwart vieler ihrer Freunde und eine muntere Konversation taten ihr Übriges zu einer gelungenen Ablenkung. Als sie dann spätabends spürbar abgekämpft, aber glücklich, wieder in ihre Wohnung kamen, war ihr Wunsch nach anderen Dingen stärker, als der, sich mit rätselhaften und gespenstischen Begegnungen auseinanderzusetzen.

Der Mittwoch verlief in der Redaktion des Hannoverschen Stadtkuriers hektischer als sonst, denn einige Meldungen und Artikel mussten für den Druck in der kommenden Nacht vorbereitet werden, und es gab ein paar Besprechungen für Projekte, die in der nächsten Zeit anstanden. So blieb für Theo und Cornelia auch da nur wenig Zeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, als mit ihrer Arbeit. Und abends schließlich waren sie bei Freunden zu einem Geburtstag eingeladen. Auch wenn sich in dem einen oder der anderen von den beiden das eine oder andere Mal die Erinnerung an die unheimlichen Erlebnisse regte, so unterließen sie es, wohlwissend, wie die Reaktion ihrer Freunde darauf ausfallen würde, sie auch nur beiläufig zu erwähnen. Und sie selbst hatten auch kein Interesse daran, sich dadurch ihre eigene Laune beeinträchtigen zu lassen.

Obwohl sich die beiden redlich bemühten, die merkwürdigen Erscheinungen um sich herum vor ihren Bekannten und Freunden zu verbergen, konnten sie dann doch nicht verhindern, dass die anderen davon Wind bekamen. Und das war früher der Fall, als sie ahnten.

Am Donnerstag fiel es ihnen noch schwerer als sonst, früh aufzustehen. Die Unternehmungen der letzten Tage, der damit verbundene Schlafmangel und die verstärkten Anforderungen ihrer Arbeit in der letzten Zeit, zeigten allmählich Wirkung, und beide sehnten sich nach einem erholsamen Wochenende, doch die Woche hatte noch zwei Tage, die es durchzuhalten galt. Immerhin mussten beide an diesem Morgen zur gleichen Zeit in der Redaktion sein. Einer half dem anderen in seinen Bemühungen, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, und war es auch nur mit liebevollen Sticheleien. Und doch war es ein mühevoller Morgen.

Bis kurz vor der Frühstückspause verging die Zeit eher schleppend und Theo, der sich angestrengt durch einen Text arbeitete, ertappte sich immer wieder dabei, wie ihm beim Lesen die Augen zufielen. Davon, dass er verstand, was er las, konnte kaum die Rede sein.

Plötzlich gellte ein Aufschrei durch die Redaktion, und Theo zuckte zusammen. Er war schlagartig hellwach. Das hörte sich nach Cornelia an, obwohl es kein typischer Laut von ihr war. Als er an die Tür kam, sah er, wie sich schon einige Köpfe aus den anderen Büros reckten. Dirk Tschaß, der Chef der Zeitung, hatte hinter einer geschlossenen Tür gearbeitet und stürzte jetzt auf den Flur. Mitten im Gang stand Cornelia, um sie herum lagen ein paar Aktenordner auf dem Boden verstreut. Sie ließ ihre Arme herunterhängen und stand zitternd und mit bleichem Gesicht da. Ihr Blick war jedoch nicht auf ihre Kollegen gerichtet, sondern auf die Glastür, die aus dem Bürotrakt der Zeitung auf den Hauptflur des Gebäudes führte. Theo eilte zu ihr und legte einen Arm um sie. Bevor er sie fragen konnte, was passiert war, stand auch schon Silke bei ihnen.

„Meine Güte!“, entfuhr es ihr. „Du siehst ja leichenblass aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Kurz darauf wurden die drei von ihren Kollegen umringt. Carlo versuchte in dem Gedränge so geschickt es ging die Aktenordner vom Boden aufzuheben, aber es war nicht ganz einfach, zwischen den Beinen der anderen herumzustöbern.

„Sie war es“, sagte Cornelia mit leiser Stimme. „Ich hätte sie beinahe umgelaufen.“

„Das Mädchen?“, fragte Theo. „Hast du es gesehen?“

Cornelia nickte.

„Sie stand dort an der Tür. Und sie war wieder nicht allein.“

„Der Schatten?“

Cornelia schüttelte den Kopf.

„Der alte Mann mit dem Hut. Er hielt sie an der Hand. Sie hatte Angst, ich habe es gespürt, furchtbare Angst.“

„Wovon sprecht ihr?“, fragte Dirk. „Welches Mädchen? Welcher alte Mann? Welcher Schatten? Was wird hier eigentlich gespielt?“

„Das wüssten wir auch gern“, meinte Theo und zu Cornelia gewandt. „Geht es dir jetzt wieder etwas besser?“

Er stellte fest, dass sie aufgehört hatte zu zittern, und ihr Gesicht schon wieder eine gesündere Gesichtsfarbe zeigte.

Cornelia nickte.

„Ja, ich denke ja. Es waren auch nicht die beiden, es war die Ausstrahlung des Kindes. Seine Angst. Von ihm habe ich nichts gespürt. Er stand nur da und hielt das Mädchen an der Hand, wie ein Vater seine Tochter. Unglaublich.“

Dirk eilte auf die Glastür zu und verschwand im großen Flur. Kurz darauf kam er wieder zurück. Ich habe niemanden gesehen, der zu deiner Beschreibung passt“, meinte er. „Dabei war ich bis unten auf der Straße, aber nirgends habe ich einen Mann mit einem Mädchen gesehen. Kennst du sie? Sollen wir die Polizei rufen?“

Cornelia schüttelte energisch den Kopf.

„Nein, lass die Polizei aus dem Spiel. Die wird uns nicht helfen können. Es ist auch nicht das, wonach es sich anhört. Es geht hier nicht um Pädophilie. Ich glaube, wir, Theo und ich glauben, es handelt sich um etwas ganz anderes, etwas, das wir nicht so einfach begreifen können.“

„Das ist sehr kryptisch, wie du das sagst“, fand Carlo.

„Also doch Geister“, meinte Silke unsicher kichernd, obwohl sie die Bemerkung nicht ernst meinte. Silke war zartbesaiteter als Cornelia. Hätte sie geahnt, wie nahe sie damit der Wirklichkeit kam, hätte sie sich vor Angst in der Besenkammer eingeschlossen und sich nach Feierabend nicht mehr allein auf die Straße getraut, denn dort mussten sie warten, die Geister des Kindes und des Mannes. Und vielleicht warteten die beiden nur auf sie.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Dirk.

„Was sollen wir machen?“, erwiderte Cornelia. „Carlo, gib mir die Ordner. Ich muss da noch etwas recherchieren. Und das hat nichts hiermit zu tun.“

Cornelia entwand sich den schützenden Armen ihres Freundes und ging wieder in ihr Büro. Zurück blieben ihre ratlosen Kollegen, von denen nur Theo zu diesem Zeitpunkt etwas Erhellendes hätte sagen können, es aber unterließ. Er wusste auch nicht mehr, als Cornelia gesagt hatte, nicht nur bei dieser Gelegenheit. Doch was er glaubte, stand im Gegensatz zu ihrer Überzeugung. Alles zusammen hätte in der Redaktion nur für noch mehr Verwirrung gesorgt – und vielleicht für Ärger mit Cornelia.

Theo glaubte nicht einmal, dass er die beiden, von denen ihm Cornelia schon ein paar Mal erzählt hatte, überhaupt gesehen hätte, höchstens nur wieder diese merkwürdigen Nebel. Für eine neuerliche Gänsehaut bei ihm hätte es aber wohl auf jeden Fall gereicht. Vielleicht, so unwahrscheinlich es auch war, handelte es sich doch um Geister, und vielleicht versuchten sie ihnen tatsächlich etwas mitzuteilen, wie Cornelia vermutete. Aber weder Geister noch deren Mitteilungen passten in die Redaktion des Hannoverschen Stadtkuriers. Außerdem war es ein denkbar ungeeigneter Ort für Übermittlungen aus dem Jenseits. Theo schüttelte den Kopf, als er an seinen Schreibtisch zurückkehrte. Was für hirnrissige Gedanken. Andererseits, wenn es nicht mehr war, als Cornelia zugegeben hatte, dann hatte sie grundlos überreagiert. Das wiederum wäre ein Grund zur Besorgnis gewesen. Es dauerte eine Weile, bis sich Theo wieder auf seine Arbeit konzentrieren konnte.

Cornelia hatte tatsächlich nicht die ganze Wahrheit gesagt, und sie hatte nicht überreagiert, wie Theo befürchtete. Sie hatte mehr gesehen und vor allem gespürt. Aber es verbot sich von selbst, darüber unter den Kollegen zu sprechen. Dafür gab es verschiedene Gründe. Wahrscheinlich war es jetzt schon so weit, dass sich manch einer über ihren plötzlichen Gemütsausbruch Gedanken machte. Am Ende wurde sie noch für hysterisch gehalten. So etwas geschah schnell und man, besser Frau, wurde einen solchen Ruf nur schwer wieder los. Sie nahm sich vor, auf ihrer Arbeit kein Wort mehr darüber zu verlieren, um den angerichteten Schaden für sich nicht noch mehr zu vergrößern. Am Abend musste sie aber mit Theo darüber reden, damit er sich nicht noch sorgenvollere Gedanken über ihren geistigen Zustand machte. Dass er es bereits tat, war ihr nicht entgangen, und wie er es tat, ärgerte sie. Und dann war sie plötzlich gar nicht mehr sicher, ob sie mit ihm darüber sprechen wollte. Eine solche Unsicherheit war ihr bis dahin fremd gewesen, und es war ein erstes Anzeichen dafür, dass ihr die Sache mehr zu schaffen machte, als sie sich eingestand. Aber ganz sicher war sie nicht schizophren.

Cornelia wartete, bis sie nach Feierabend wieder zu Hause waren. Ihre Zweifel waren noch nicht beseitigt, ja, sie waren sogar gewachsen.

Vorher waren sie noch in der Stadt, um ein paar Dinge einzukaufen – für sie, nicht für Theo, aber er war ihr geduldig gefolgt. Während dieser Zeit war der Vorfall in der Redaktion jedoch kein Gegenstand ihrer Unterhaltung gewesen. Theo wollte Cornelia Zeit geben, von sich aus darüber zu sprechen. Er war sicher, dass sie es tun würde, und wunderte sich, dass ihr Abendessen vorüberging, ohne dass sie darüber auch nur ein Wort verlor. Hätte er sie gefragt, warum sie dazu so hartnäckig schwieg, hätte sie ihm nur geantwortet, dass sie sich noch über etwas klar werden musste. Aber das stimmte nicht. Sie hätte keinen glaubwürdigen Grund nennen können. Cornelias Zögern war nur mit ihren beiden unterschiedlichen Meinungen über den Ursprung und dem Sinn dieser Erscheinungen zu erklären. Irgendwann konnte Theo mit seiner Neugierde dann nicht mehr hinter dem Berg halten.

„Sagst du mir, was wirklich im Flur passiert ist?“, fragte Theo, als er mit Cornelia in der Stube saß.

Sie sah ihn fragend an, als wüsste sie nicht, was er meinte.

„Dein Entsetzen“, erklärte er. „Ich habe mich gewundert, warum du so heftig auf die Begegnung mit dem Mädchen und dem alten Mann reagiert hast. Als sie in unserem Schlafzimmer aufgetaucht sind, hatten wir zwar Angst, aber du warst nicht so – fassungslos.“

„Ja, es stimmt. Da war noch etwas“, gab sie schließlich zu. Die Erinnerung ließ Cornelia für einen kurzen Augenblick zittern, und ihr Gesicht zeigte eine vorübergehende Blässe. Aber sie erklärte mit keinem Wort, warum sie bis dahin gezögert hatte, selbst davon zu sprechen.

„War es so heftig?“

Cornelia nickte.

Das also war wohl der Grund für ihr Schweigen, dachte Theo.

„Als ich auf den Flur trat, spürte ich sofort, dass sich dort etwas Furchtbares aufhielt. Zuerst wurde das Mädchen sichtbar. Es stand vor der Glastür, als wäre es soeben eingetreten, und ich wollte auf sie zugehen.“

„Glaubst du, sie war der Grund für deine Befürchtung? Und wenn es so war, warum hast du dich denn nicht von ihr ferngehalten?“

„Nein, sie war nicht der Grund. Ich bin sicher, dass wir uns vor der Kleinen nicht fürchten müssen. Ich glaubte, dass sich der Schrecken nur an sie geheftet hatte, aber er war nicht stark genug, um mich von ihr fernzuhalten. Ich wollte wissen, was sie dort wollte. Ich dachte, dieses Mal war sie durch die Tür gekommen wie ein gewöhnlicher Mensch. Wie sie dort aufgetaucht ist, habe ich nicht gesehen. Vielleicht war die Gelegenheit günstig, mit ihr zu reden. Doch dann schob sich dieser furchtbare Schatten zwischen uns. Du weißt schon, der, der mir auch schon in Weidlingen das Grauen in die Glieder gejagt hat. Er fiel förmlich aus der Decke und blieb zwischen mir und dem Mädchen liegen. Ich empfand diesen Augenblick als noch furchtbarer als die erste Begegnung mit ihm. Es war wohl kaum zu überhören. Und dann ging alles ganz schnell. Neben dem Mädchen tauchte plötzlich wie geisterhaft der alte Mann auf und stellte sich ihr schützend, wie ich meine, zur Seite. Zuerst wiegte sich der Schatten unschlüssig hin und her, dann verschwand er – einfach so. Nur die beiden blieben noch einen Atemzug lang stehen, bevor sie sich ebenfalls auflösten. Natürlich sind sie nicht durch die Tür auf die Straße gegangen, wie ich behauptet habe.“

„Ich glaube, das war auch besser so, ich meine, dass du nicht davon gesprochen hast, wie sie sich einfach in Luft aufgelöst haben.“

„Ja. Und es ging wirklich alles sehr schnell, denn erst, nachdem der Spuk vorbei war, kamt ihr aus euren Büros.“

„Spuk?“, vergewisserte sich Theo.

„Wie würdest du es denn sonst nennen?“

„Tja, ich, also-.“

„Nun komm. Wir haben uns oft genug darüber unterhalten. Außerdem bist du selbst schon in den zweifelhaften Genuss der Wirkung ihrer psychischen Kräfte gekommen, auch wenn du nichts gesehen hast.“

„Du sprichst wie eine Esoterikerin?“

Theos Stimme klang ungewohnt besorgt.

„Ach, Quatsch. Aber es war doch so, oder?“

„Ich gebe zu, es war schon sonderbar. Aber es als Spuk zu bezeichnen, ich weiß nicht.“

„Das sagst du nur, weil du nicht daran glaubst. Es gibt keine Geister, also gibt es auch keinen Spuk. Ja, vielleicht, aber in unserem Fall machst du dir die Sache zu einfach, finde ich.“

„Vielleicht ist sie einfacher zu erklären, als du glaubst?“

„Dann erkläre sie mir doch, bitte.“

Cornelia begann sich in Rage zu reden. Jetzt war Vorsicht geboten. Sie konnte in ihrer Erregung ziemlich heftig werden, und für Theo war es jedes Mal eine sehr ungemütliche Situation. Glücklicherweise waren sie nur selten.

„Ich kann es dir nicht erklären“, gab er unumwunden zu und sagte damit die Wahrheit. „Belassen wir es erst einmal beim Spuk, bis wir mehr darüber wissen, was meinst du?“

Das war für diesen Augenblick der beste Vorschlag, den er machen konnte, und Cornelia lenkte ein. Sie wusste, sie würde ihren Freund kaum von ihrer Meinung überzeugen können, und wenn er über ihre sich verfestigende Überzeugung seine Besorgnis äußern würde, würde sie sich noch mehr erregen. Doch es konnte nur ein Friedensangebot auf Zeit sein.

Ihre Unterhaltung folgte bald anderen Bahnen und schien in einen gemütlichen Fernsehabend (für Cornelia) und einen ebenso gemütlichen Leseabend (für Theo) überzugehen.

„So kann es nicht weitergehen“, sagte Cornelia unvermittelt.

Sie hatte eine Weile einer Fernsehsendung zugeschaut, ohne ihr wirklich folgen zu können. Geistesabwesend hatte sie über das rätselhafte Mädchen und die Umstände ihres unerwarteten Auftauchens nachgedacht. Schließlich hatte Cornelia einen Entschluss gefasst.

Theo blickte von seinem Buch auf und sah Cornelia fragend an.

„Was sagst du?“

„Ich sagte, so kann es nicht weitergehen.“

„Was?“

Cornelia schaltete den Fernseher aus.

„Ich will wissen, was da läuft. Ich will wissen, was dieses Mädchen von mir will und warum sich so plötzlich Geister für mich interessieren, obwohl ich weder jemals welche gesehen noch an sie geglaubt habe. Warum tue ich es jetzt auf einem Mal? Ich muss wissen, warum ich plötzlich von solchen Dingen umgeben bin. So etwas ist mir mein ganzes Leben nicht passiert, und jetzt sind sie da, und ich werde sie nicht mehr los. Was ist das für ein Scheißspiel?“

Wieder hatte sie sich in eine unüberhörbare Erregung hineingesteigert, aber dieses Mal war nicht Theo der Grund. Er räusperte sich ein wenig ratlos, klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch. Für kurze Zeit musterte er seine Freundin, die ihren Kopf auf die Rückenlehne des Sofas gelegt hatte und mit versteinertem Gesicht an die Decke starrte. Dann räusperte er sich noch einmal. Cornelia ruckte mit dem Kopf vor und sah ihn unverwandt an.

„Ich muss es wissen!“, wiederholte sie entschieden.

Es war nicht der Zeitpunkt, sich mit Cornelia darüber zu streiten, ob sie wirklich von Geistern heimgesucht wurden, oder nicht. Wenn er jetzt wieder anfangen würde, daran zu zweifeln, würde er die Lage nur noch schlimmer machen. Er wusste, Cornelia rang mit ihrer Fassung, wahrscheinlich war sie über ihren Gefühlsausbruch am Vormittag selbst erschüttert gewesen. Also beschloss Theo, dieses »Scheißspiel«, wie sie es genannt hatte, mitzuspielen, obwohl er keine Ahnung hatte, wo sie anfangen sollten, und er nach wie vor alles andere als überzeugt war, es mit Geistern zu tun zu haben.

Nach einer ungemütlichen Zeit des Schweigens räusperte er sich ein drittes Mal.

„Und was schlägst du vor?“, fragte er.

„Ich weiß es noch nicht, ich habe keine Idee“, gab Cornelia zu.

„Du glaubst aber, dass sie uns, oder besser dir eine Botschaft zukommen lassen wollen“, meinte er.

„Warum sollte das Mädchen sonst versuchen, mit mir zu sprechen? Irgendetwas will sie mir sagen. Und es hat eine furchtbare Angst vor dem dunklen Schatten. Da bin ich sicher. Mir geht es ja genauso.“

„Hältst du es für möglich, dass er versucht, sie davon abzuhalten, mit dir in Verbindung zu treten?“

Cornelia nickte und ihr Gesicht verriet, dass ihr eine Erkenntnis gekommen war.

„Daran habe ich noch gar nicht gedacht, aber du hast Recht. So scheint es zu sein. Sie wagt es nur, mit mir zu reden, wenn er nicht da ist. Und sie scheint vor ihm zu fliehen, wenn er auftaucht.“

„Aber der alte Mann beschützt sie doch, wie du sagst.“

„Es sieht so aus, ja. In Weidlingen war er aber nicht da, und in der Redaktion erschien er erst nach dem Schatten, und bis dahin schien das Kind weglaufen zu wollen.“

„Weglaufen?“

„Na ja, verschwinden, verblassen, wie immer man es bezeichnen will. Der Mann hat sie, glaube ich, davon abgehalten.“

„Gut“, sagte Theo nachdenklich. „Ich sehe nur eine Möglichkeit, was wir tun können. Wir müssen, wir können nur darauf warten, dass sie deutlicher wird. Vielleicht würde es helfen, wenn du sie das nächste Mal entschieden wissen lässt, dass wir sie nicht verstehen können, wenn sie weiterhin so leise spricht.“

„Aber das habe ich ihr doch schon gesagt.“

Er überlegt kurz.

„Ja, aber vielleicht hat sie es nicht verstanden. Oder sie kann tatsächlich nicht lauter sprechen. Vielleicht kann sie dir dann aber mit Gesten oder noch besser mit einer geschriebenen Botschaft klarmachen, was sie von dir will.“

„Ich könnte es versuchen“, meinte Cornelia. „Vielleicht sollte ich -. Das ist doch Blödsinn. Sie wird kaum Zettel und Stift von mir verwenden können, schließlich ist sie ein Geist.“

„Vielleicht gibt es Schreibutensilien für Geister“, überlegte Theo und bei jeder anderen Gelegenheit hätte er diese Vermutung spöttisch klingen lassen, doch jetzt versuchte er, seinen Worten einen ernst gemeinten Unterton zu verleihen. „Mach ihr den Vorschlag.“

Cornelia sah nicht so aus, als wäre sie von dieser Idee überzeugt. Sie litt unter ihrer Hilflosigkeit. Wie sollte man mit Geistern umgehen? In diesem Augenblick fühlte sie sich sehr unglücklich. Und Theo litt unter einem wachsenden schlechten Gewissen. Er versuchte, mit Rücksicht auf seine Freundin Lösungen für ein Problem zu finden, das er nicht ernstnahm: Geister, die ihnen eine Botschaft übermitteln wollten. Cornelia hatte so etwas zwar schon mehrmals angedeutet, aber aus seinem Mund konnte eine solche Vermutung unmöglich ernstgemeint sein, schließlich gab es keine Geister, also gab es auch keine Mitteilungen von Geistern, oder etwa doch? Er weigerte sich, daran zu glauben, aber er begann, sich umso mehr Sorgen um seine Freundin zu machen. Sie war nicht verrückt, aber wenn sie Dinge sah, die andere nicht sehen konnten, dann war das nicht normal. Und wenn sie Dinge spürte, die andere nicht spürten, war es genauso wenig normal. Aber was konnte er tun? Er empfahl Cornelia behutsam, zu einem Psychologen zu gehen. Dieser Vorschlag war aber kaum ausgesprochen, da war ihm klar, dass er einen Fehler begangen hatte.

„Spinnst du!“, fuhr sie ihn ärgerlich an. „Zu einem Seelenklempner? Die werden doch selbst mit ihrem Leben nicht fertig. Und ich finde es ziemlich mies von dir, wenn du behauptest, ich spinne. Ich denke mir das alles doch nicht aus, verdammt!“

Theo wusste, dass er sich nicht sehr taktvoll ausgedrückt hatte, aber das lag nur daran, dass er sich absolut hilflos fühlte und nicht wusste, wie er Cornelia helfen konnte. Das akzeptierte sie zunächst als Entschuldigung.

„Ich glaube, du liegst in deinen Ansichten ziemlich daneben“, meinte Cornelia, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Und wenigsten in einem Punkt könnte ich dir das beweisen, wenn du dabei gewesen wärst. Du hättest sehen sollen, wie das Paar auf den alten Mann reagiert hat, wie es ihm aus dem Weg gegangen ist, ohne ihn offenbar zu sehen, und wie sie die gleiche Kälte spürten wie ich. Das war eine objektiv feststellbare Reaktion auf ein unsichtbares Ereignis. Also, selbst wenn vielleicht nur ich das Mädchen, den Mann und den Schatten sehen kann, reagieren doch auch andere darauf. Und gib es endlich zu, du hast es im Schlafzimmer auch getan, auch wenn du anscheinend nichts mehr davon wissen willst.“

Das war ein Argument, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Und sie hatte Recht, wenn sie behauptete, dass er versuchte, es zu verleugnen.

„Schon gut, ja, es ist wahr. Ich versuche, es zu ignorieren. Und ich glaube dir ja auch. Das, was ich als nicht normal bezeichnet habe, bezog sich ja auch gar nicht auf dich persönlich, sondern auf die Erscheinungen, die dich seit deines letzten Besuches in Weidlingen umgeben. Falls du sie jetzt plötzlich anziehst, kannst du diese Fähigkeit kaum als normal bezeichnen, oder? Und die Erscheinungen selbst doch wohl auch nicht.“

Cornelia schüttelte den Kopf.

„Kaum. Aber glaubst du wirklich, dass mir so ein überspannter Psychopath helfen kann?“

„Nein, wohl kaum. Es war auch kein guter Vorschlag, das gebe ich zu.“

„Hast du noch andere Vorschläge?“

„Keine Sorge, nicht von dieser Art.“

Cornelia sah Theo abschätzend an. Hatte er sich tatsächlich noch etwas anderes überlegt? Er lächelte ahnungsvoll.

„Na, ja“, meinte er gedehnt. „Mir kommt da gerade so eine Idee. Hast du nicht selbst gesagt, dass es so nicht weitergehen kann? Und ich hatte dir gesagt, dass ich dir glaube, was du mir erzählt hast. Aber jetzt will ich Beweise dafür. Und ich fürchte, auf das Mädchen werden wir uns nicht verlassen können.“

„Nun mach´s nicht so spannend. Was hast du vor?“

„Also, ich will nicht immer nur Zuhörer sein, sondern selbst erfahren, worum es bei diesen Erscheinungen geht, von denen ich noch keine Einzige selbst richtig erlebt habe.“

„Ja, und?“

„Erinnerst du dich noch an den Sonntagnachmittag, als du mir zerknirscht über deine Erlebnisse in Weidlingen erzählt hast.“

„Das war überhaupt nicht zerknirscht“, widersprach Cornelia lebhaft.

„Es war zerknirscht“, beharrte Theo. „Und ich hatte zwei Möglichkeiten vorgeschlagen. Möglichkeit eins: Alles ignorieren und aussitzen. Das funktioniert aber offensichtlich nicht, denn die Ereignisse setzen sich ja fort.“

„Du meinst also, den Dingen auf den Grund gehen?“

„Lyrisch ausgedrückt, ja. Ich glaube, uns bleibt nichts anderes übrig. Ich habe zwar keine Ahnung, wie wir vorgehen können, aber wir fangen am besten dort an, wo alles begann.“

„Am Gedenkstein in Weidlingen.“

„Genau. Vielleicht entdecken wir dort erste Hinweise. Glaubst du, du findest ihn wieder?“

„Sicher, das ist nicht schwer. Willst du es wirklich?“

Plötzlich hörte sich Cornelias Stimme gar nicht mehr so selbstsicher an.

„Hast du eine bessere Idee, wo wir anfangen könnten?“

„Nein, vielleicht hast du Recht. Du bist sehr mutig.“

Theo nahm Cornelia in die Arme und zog sie sanft an sich heran.

„Ich bin dein Held“, meinte er und gab ihr einen Kuss.

„Habe ich das jemals behauptet?“, meinte sie spöttisch.

„Bald wirst du es tun.“

Dieses Mal küsste sie ihn, und das dauerte länger.

Später fragte er sich, was er sich von dieser ganzen Angelegenheit versprach. Er hatte seinen Vorschlag durchaus ernstgemeint, aber nur Cornelia zuliebe. Theo zweifelte daran, dass sie bei dem Gedenkstein irgendetwas herausfanden, dass die Sache erhellte. Mochte Cornelia dort auch seltsame Dinge erlebt haben, es würde kaum ein zweites Mal geschehen. Und Mut hin oder her, er konnte sich kaum vorstellen, ihn zu benötigen, denn wahrscheinlich würde sich für ihn der Gedenkstein als schnöder Stein mit einer ganz normalen Gravur präsentieren, und er würde kaum die gleichen Erfahrungen machen wie seine Freundin. Aber dann spürte er eine Regung, die ihn überraschte. Er begann sich tatsächlich für die Ursachen der Erscheinungen zu interessieren. Vielleicht war an ihnen ja doch mehr dran, als er bisher geglaubt hatte. Unverhofft war er allen Ernstes zu einem Ermittler in einem Fall von angeblichen Geistererscheinungen geworden. Und jetzt, wo sie einen Plan hatten, war er sicher, dass sie den Fall lösen würden, ob mit oder ohne Geister. Eine unerwartete Euphorie hatte von ihm Besitz ergriffen, die in keiner Weise begründet war.

Nachdem sie endlich wussten, was sie tun wollten, verloren sie nicht mehr viel Zeit. Es war Donnerstag und schon am folgenden Abend wollten sie nach Weidlingen fahren, viel früher, als Cornelia es sich vorgestellt hatte. Beiden fiel es schwer, sich während des Freitags auf ihre Arbeit zu konzentrieren und als der Feierabend kam, holten sie die bereits gepackten Taschen aus ihrer Wohnung und machten sich auf den Weg.

Jeder von ihnen wusste, dass sie sich vielleicht auf ein ungewisses und in jeder Hinsicht unheimliches Abenteuer eingelassen hatten. Während Theo infolge seiner Ahnungslosigkeit ziemlich unbefangen war, hatte Cornelia mit ihrem Freund an der Seite ihre schlimmste Angst verloren. Obwohl sie natürlich keine rechte Vorstellung hatte, was auf sie zukam, war sie erfüllt von der Hoffnung herauszufinden, was es mit dem kleinen Mädchen auf sich hatte.

Das Geheimnis des Gedenksteins

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